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Autor: Paul Bekker
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Titel: Englische Musik
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aus: Pariser Tageblatt, Jg. 2. 1934, Nr. 83 (05.03.1934), S. 4
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Erscheinungsdatum: 1934
Verlag: Pariser Tageblatt
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Erscheinungsort: Paris
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Englische Musik


Der Tod Edward Elgars hat die Aufmerksamkeit wieder auf eines der seltsamsten Kapitel der europäischen Kulturgeschichte gelenkt: auf die englische Musik. Auch der in Künsten und Wissenschaften international einigermassen Erfahrene stutzt, wenn er über englische Musik befragt wird. Er kennt wohl englische Dichtung, englische Malerei, aber der Musik gegenüber gerät er in Verlegenheit. Schliesslich wird er behaupten, der Engländer sei unmusikalisch, das sei ein volkspsychologisch besonders charakteristischer Wesenszug dieser Nation.

Das klingt nun zwar recht hübsch, aber es stimmt nicht. Der Engländer ist keineswegs unmusikalisch, ist es nie gewesen. Bleibe beiseite der bisher unentschiedene wissenschaftliche Streit um die Initiative in der frühmittelalterlichen Polyphonie. Es genügt, an die Renaissance, an Shakespeare zu denken. Nicht nur die dauernde szenische Verwendung musikalischer Wirkungen, mehr noch die Art, wie bei Shakespeare über Musik gesprochen, das Wesen der Musik in den Dialog einbezogen wird, beweist, dass England damals eine Musikkultur von höchstem Range besass. Andernfalls hätte Shakespeare weder solche Aeusserungen über Musik finden, noch bei seinen Zuschauern Verständnis dafür erwarten können.

Es scheint, dass in der nach-elisabethanischen Zeit namentlich die englische Hausmusik instrumentaler Art durch die puritanische Bewegung schwer geschädigt wurde. Die englische Revolution und Cromwells Diktatur haben mit vielen anderen kulturellen Ueppigkeiten des old merry England auch die Musikpflege erheblich beeinträchtigt. Aber der Wille zur Musik war doch zu elementar, um sich auf die Dauer unterdrücken zu lassen. Allenfalls konnte man ihn in andere Bahnen lenken. So kam es, dass sich nun ein Hauptinteresse der Engländer der chorisch kirchlichen oder doch religiös gesinnten Musik zuwandte. In Cromwells Todesjahr, 1658, wird Henry Purcell geboren, er gilt bis zum heutigen Tage als Englands stärkste Komponistenbegabung. Mit 18 Jahren Organist, schreibt er instrumentale, chorische und opernhaft szenische Werke verschiedenster Art, deren Wiederbelebung gegenwärtig mehrfach versucht wird. Aber er stirbt bereits 37-jährig, 1695.

Damit wird die musikalische Eigenproduktion national englischer Herkunft für das seriöse Gebiet auf lange Zeit unterbrochen. Unterdessen hat sich in London die italienische Oper aufgetan – das reiche England war für Unternehmer und Künstler des 18. Jahrhunderts eine ähnliche Goldquelle wie Amerika für das 19. Mit der italienischen Oper kommt auch der junge, aus Halle gebürtige, als Musiker italienisierte Händel nach England. Nun vollzieht sich einer der merkwürdigsten Einschmelzungsvorgänge, wie er nur in dem für nationale Abstammungsfragen unempfindlichen 18. Jahrhundert möglich war, dieser deutsch-italienische Modekomponist empfängt aus der musikgesättigten Atmosphäre, aus der Chor-Kultur, aus der freiheitlich demokratischen Geisteshaltung Englands so tiefgehende Anregungen, dass er hier Wurzel fasst und den gewaltigen Schwung gewinnt für die Schaffung seiner heroischen Volksdramen: der grossen alttestamentarischen Oratorien, der jüdischen Heldenmythen als der Symbole christlicher Weltanschauung.

Zwischenfrage: wie wäre es mit einer Aufführung von „Israel in Aegypten“ oder „Judas Makkabäus“ unter dem Motto: Kraft durch Freude! Oder rechnet Händel zu den „zersetzenden Erscheinungen“?

Die Engländer haben Händel stets als zu ihnen gehörend betrachtet. Sie haben darin insofern Recht, als das Werk Händels ohne die allgemein kulturellen und besonderen musikalischen Vorbedingungen des damaligen England nicht vorstellbar ist. Von dieser Zeit ab haben die Engländer vorzugsweise deutsche Komponisten importiert. Zunächst kam Haydn, der für London seine wichtigsten Symphonien, sowie auf englische Anregungen hin die beiden Oratorien schrieb, und der neue Musikgott Englands wurde. Auf Haydn folgte, da Beethoven sich nicht zur Reise entschliessen konnte, als Dirigent, Symphonie- und Oratorienkomponist der damals hochgefeierte Louis Spohr, auf ihn Felix Mendelssohn. Dieser hat die musikalische Physiognomie Englands auf Jahrzehnte hinaus bestimmt. Seine Linie wurde durch Joseph Joachim fortgesetzt, für den England die zweite Heimat war. Erst später kam, lange Zeit auch in England umstritten, Richard Wagner, zur Geltung.

Auffallend geringer als diese deutschen waren die französischen Beziehungen. Sie wurden wohl stets gepflegt. Berlioz war mehrfach in London, eine entscheidende Wendung aber nach der romanischen Seite hat erst mit dem Weltkrieg eingesetzt. Es wäre nicht richtig, hier nur politische Einflüsse anzunehmen. Zweifellos liegen Veränderungen der Geisteshaltung vor, die mit dem Willen zur eigenen Produktion zusammenhängen.

Mit dieser blieb es zunächst unter der Vorherrschaft der ausländischen Musiker kärglich bestellt. Dem Engländer war das Pathos Beethovens oder die schwärmerische Romantik Mendelssohns zwar sehr sympathisch, aber nicht für das eigene Schaffen. Seine selbstkomponierte Musik war hemdärmelig, sie ging nach der parodistischen Seite. Die Beggars-Oper, in unserer Zeit als Drei-Groschen-Oper wieder aufgetaucht, war eine Verhöhnung der altitalienischen Oper. Die auf derbe Massenwirkung zielende englische Operette, zur Groteske neigend, hat jenseits des Kanals immer ein eigenes Dasein geführt. In Arthur Sullivan, 1812 geboren, erstand ihr eine kompositorische Begabung, die weit über England hinauswirkte. Der „Mikado“ wurde ein Welterfolg, seine liedhafte Melodik, seine kultivierte satztechnische Arbeit zeigen die typischen Kennzeichen der englischen Operetten-Musik, gefühlvolle Volkstümlichkeit und burleske Drastik mit ausgesprochener Neigung zum komisch Tanzhaften. Sullivan blieb dabei stets der hochgebildete gepflegt konservative Musiker, der auch eine Reihe grosser Opern geschrieben hatte. Darin ähnelte er dem nur für Orchester und Chor schaffenden, an Brahms anschliessenden Edward Elgar, die traditionssichere akademische Grundhaltung ist für beide bestimmend.

Gerade hiergegen aber richtet sich die heutige Opposition in England. Damit hängt zusammen die vor zwei Jahrzehnten einsetzende Abwendung von der als konventionell empfundenen deutschen Führung, die stärkere Hinneigung zur westlichen Kunst. Es scheint, dass man es in England müde ist, immer nur den Musik-Mäzen zu spielen, zumal in den Musikschulen der Universitäten, in den Chor-Instituten, in den grossen Orchestern, in der Gesamtkultur des Landes wirklich starke musikalische Eigenkräfte vorhanden sind. Auch kompositorische Begabungen zeigen sich: problematische Naturen wie Cyrill Scott, andere, die wie Arthur Bliss[1], die unpathetische tanzhafte Haltung der neuen Musik betonen, dann wieder experimentell gerichtete Erscheinungen wie Holst, schliesslich, wie überall, die Folklore-Bewegung.

Das alles ist noch nicht sehr viel, aber es ist lebendig. Es will heraus aus dem Akademikertum. Es zeigt vor allem, dass die Legende von der Unmusikalität der Engländer eine von den Geschichten ist, die beweisen, wie wenig die Europäer im Grunde genommen von einander wissen.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Blisz