Odessa (Meyer’s Universum)

CLXIII. Die Zinngruben bei Austle in Cornwallis Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band (1837) von Joseph Meyer
CLXIV. Odessa
CLXV. Dresden
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ODESSA

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CLXIV. Odessa.




Es ist ein großartiger Scenenwechsel, sich aus der Tiefe eines brittischen Schachtes zu versetzen auf das hohe Gestade des Pontus Euxinus, dessen Fluthen die Wiege des Menschengeschlechts bespülen, die Sitze der ersten bekannten Völker, den Schauplatz unserer ältesten Geschichte. Lange waren diese Gegenden vergessen. Seitdem die Kultur der Griechen, welche dort überall als Erbauer von Städten und Gründer von Staaten auftraten, untergegangen war, seit dem Einsturz des römischen Ostreichs lagen sie begraben in der Nacht türkischer Barbarei. Erst Peter des Großen überschauendes Auge erkannte die naturgemäße, hohe Bestimmung dieser Länder wieder, und in seinen Plänen für Rußland’s Größe, das Erbe seiner Nachfolger, zeichnete er ihr künftiges Schicksal ein. Ihre Losreißung vom türkischen Joche war bis auf den heutigen Tag das unablässige Streben Rußland’s und der geheime Beweggrund zu jedem neuen Kriege. Wir wissen den Erfolg dieses Strebens. Das bereits Errungene ist so groß, daß der Erwerb des Uebrigen nicht mehr bezweifelt werden darf. Schon ist das schwarze Meer zum Hauptschauplatz der Seemacht Rußland’s erhoben, und seine gewaltigen Kriegsflotten wiegen sich auf des Pontus Fluthen als alleinige Herren. Bald werden auch russische Adler auf allen Theilen seines Gestades horsten.

Ein Blick auf die Karte zeigt die ungeheure Wichtigkeit dieser Länder, an deren Besitz sich nicht zum erstenmal die Weltherrschaft geknüpft hat. Große Ströme bewässern sie und bieten dem Verkehr die ausgedehntesten und bequemsten Pfade dar. Der König der europäischen Flüsse, die Donau, führt den Handel zweier Welttheile auf die kürzeste, diametrische Bahn zurück, von der ihn nur türkische Barbarei und Raubsucht zu vertreiben fähig waren. Dniester, Bug, Dniepr und Don, durch Kanäle mit der Newa und Düna verbunden, vereinigen das [72] schwarze Meer mit dem baltischen, und vermitteln den leichtesten Austausch des Produktenreichthums jener weiten Länderstrecken, welche sie trennen; während die Wolga, durch eine ihrer gewaltigen Krümmungen dem Don sich nähernd, dem menschlichen Unternehmungsgeiste einen unverkennbaren Fingerzeig gibt, wo Asien’s Binnenmeer, der kaspische See, mit dem Pontus Euxinus, der Ostsee, und durch den Bosporus und Hellespont, den Thoren zu den südeuropäischen und afrikanischen Märkten, mit den mittelländischen und atlantischen Oceanen zusammen zu knüpfen sey.

Odessa, die neue, glänzende Hauptstadt jener Erwerbungen Rußland’s, ist ein großes Beispiel von Dem, was ein richtiges Auffassen günstiger Verhältnisse und beharrlicher, thatkräftiger Wille, sie auszubeuten, in kurzer Zeit wirken kann. Im Jahre 1789 war’s, als der russische Admiral Ribas die Türken von der Küste vertrieb. Sie war öde, menschenleer. Ein kleines, altes Fort, das an der Stelle des heutigen Odessa stand, hatte keinen andern Zweck als den, die Seeräuber in Zaum zu halten, welche an den benachbarten Gestaden ihr Wesen trieben. Ribas, der von seinem Gouvernement den Auftrag hatte, sich nach einer schicklichen Stelle zur Gründung eines Ausfuhrhafens für Südrußland umzuschauen, schlug den Platz vor, wo das griechiche Ordessus gestanden; die Kaiserin Katharina billigte mit gewohntem Scharfblick seine Gründung, und stattete ihn mit den Mitteln zur Ausführung freigebig aus. Im Frühling 1793 wurden die ersten Bauten begonnen. Zu Ende des Jahres standen einige 60 Häuser, ein Leuchtthurm, ein Bazar und Magazine, und der alte Hafen war größtentheils gereinigt. Dieß der Anfang der letzt so herrlichen Stadt! – Sechs Jahre später zählte Odessa schon 4200 Einwohner in 500 steinernen Häusern, mit 7 Kirchen und Kapellen für die verschiedenen Kulten des einzigen Gottes. Bereits war es zum Stapelplatz südrussischer Produkte geworden, und 200 Fahrzeuge führten von da Getreide nach Constantinopel. Alexander hatte nicht sobald den Thron bestiegen, als er die große Entwickelung der Provinzen am schwarzen Meere auf alle Weise zu beschleunigen suchte. Besondere Aufmerksamkeit richtete er auf Odessa, und im Herzoge von Richelieu fand er einen Gehülfen, seinen Willen zur That zu machen. Dieser, welcher, als Generalgouverneur von Neurußland, im Jahre 1803 in Odessa seinen Wohnsitz nahm, vereinigte mit einer für das Edle und Gute erglühenden Seele alle Eigenschaften in sich, welche im Gebiete der Coloniegründung den großen Menschen bezeichnen.

Dieser Mann, voll Begeisterung für seinen Beruf, Wüsteneien in bebaute Gegenden zu verwandeln, und Ländereien, welche nie die Pflugschar gefühlt hatten, zu bevölkern, und sie zu Mittelpunkten der Kultur und Gesittung zu erheben, hat seine Aufgabe mit einer Umsicht und Beharrlichkeit durchgeführt, welche ihm die Bewunderung aller Zeiten sichert. Freundlich, ohne seiner Wurde zu vergeben, einfach und ökonomisch in seinen eigenen Ausgaben, kannte seine Freigebigkeit und seine Wohlthätigkeit keine Grenzen. In allem Rechten und Guzen, in der Ueberwindung von Schwierigkeiten war er stets selbst das beste Beispiel für alle Uebrigen. Er machte die Provinz, deren Verwaltung ihm mit unumschränkter Vollmacht anvertraut war, zum Zufluchtsort für Alle, welche [73] die Revolutionen, oder Kriege, zu Grunde gerichtet hatten, und jedem nützlichen Talent und jeder Fertigkeit, welche wo anders kein Gedeihen fand, bot er ein Asyl an, sicherte er Unterstützung und Hülfe zu. Seine Persönlichkeit zog aus allen Gegenden Schaaren von Einwanderern herbei, und Industrie und Gewerbe aller Art suchten unter seiner väterlichen Regierung Schutz und Gedeihen. Alles, was er zum Emporbringen der Provinz, und namentlich Odessa’s, in Petersburg vorschlug, wurde bewilligt: volle Gewerbfreiheit, vervollkommte Posteinrichtungen, Quarantaine-Anstalten, Hospitäler, Handelsschule, Handelsgericht, Börse, Freihafen, Bank, Gelehrten- und Kunstschulen etc. etc. Kaum waren zehn Jahre verflossen unter seiner Verwaltung, und die Bevölkerung, der Handel, die Einkünfte Odessa’s waren gewachsen in einem Verhältniß, für das nur in Nordamerika, dem an Beispielen riesenmäßiger Entwickelung so reichen Lande, ein Maaßstab zu suchen ist.

Als Richelieu das Gouvernement Neurußlands antrat, betrug der jährliche Gesammtverkehr der Provinz nicht ganz 5 Millionen Rubel. Als er Odessa verließ, im Jahre 1816, hatte die Stadt eine Bevölkerung von 35,000 Seelen, die Postanstalt ertrug 190000 Rubel, die Bank allein setzte 25 Millionen jährlich um, die gesammte Aus- und Einfuhr der Provinz war über 45 Millionen gestiegen. Der Zoll lieferte 2 Millionen in den Staatsschatz. Des Landes Gedeihen war nicht geringer, als das der Hauptstadt. Gegenden, die vor 10 Jahren wüst und menschenleer gewesen, waren belebt mit Kolonisten aus dem Innern, wie aus der Fremde; unter den letztern zählte man 30,000 Deutsche! Blühende Städte und Dörfer, lauter neue Schöpfungen, füllten es an und Alexander gab das öffentliche Zeugniß: Richelieu habe Wunder gethan ohne ein Zauberer zu seyn.

Der Verwaltung Richelieu’s folgte 1815 die seines Freundes, des Generals Langeron. Er führte das Werk der Verbesserung in seinem Geiste fort, wenn auch nicht immer mit gleicher Umsicht und mit dem nämlichen Erfolge. – Als Graf Woronzoff, der jetzige Gouverneur Neu-Rußlands, 1823 die Zügel der Verwaltung erfaßte, war die Einwohnerzahl Odessa’s zwar um nur 4000 gestiegen; aber die Stadt hatte über die Hälfte an Umfang gewonnen und galt damals schon als die schönste in der Südhälfte des ganzen Reichs. Unter Woronzoff haben Größe, Einwohnerzahl, Wohlstand und Handel Odessa’s zugenommen in fortschreitendem Verhältniß, und zu Ende vorigen Jahres zählte der auf hohem Gestade prachtvoll gebaute Ort bereits 62,000 Bewohner, 8000 steinerne in breite Straßen ausgelegte Häuser, nahe an 500 große Magazine und über 1000 offene Läden. Die Zahl der Kirchen hat sich verdoppelt, 24 wissenschaftliche Vereine und höhere Schulanstalten befördern die Bildung nach allen Richtungen, und Theater und Oper fehlen nicht, um Odessa auch in Beziehung auf feinern Lebensgenuß jeder ältern europäischen Hauptstadt gleichzustellen. In der nächsten Umgebung der Stadt zählt man über 1000 größtentheils geschmackvolle Gartenanlagen mit freundlichen Landhäusern und die vierzehn zunächst liegenden Dörfer [74] haben an 12,000 Bewohner. Seit einigen Jahren sind hier auch Seebäder eingerichtet, welche in der schönen Jahreszeit sehr stark und von den reichsten Familien Rußlands besucht werden. Die Zahl der Fremden übersteigt oft 10,000.

Der Handel ist unermeßlich. Er beschäftigt jährlich an 1000 Seeschiffe und leider ist für solchen Verkehr der Hafen viel zu klein und auch zu seicht. Doch macht die Sicherheit der Rhede diesen Uebelstand weniger fühlbar. Die meisten Seeschiffe ankern nordöstlich und in halbstündiger Entfernung vom Molo und bedienen sich leichter Barken zum Löschen und Einnehmen ihrer Ladungen.

Der Handel mit dem Ausland ist fast ganz in den Händen der fremden Kaufleute, die sich allmählich, theils selbstständig, theils als Commanditen, hier niedergelassen haben. Alle Handelsnationen haben ihre Repräsentanten. Die Russen selbst beschäftigen sich ausschließlich mit dem Binnenhandel, mit der Küsten- und Stromfahrt. –

Getreide bildet den Hauptartikel im hiesigen Verkehr. Odessa ist das große Magazin für das Getreide der kornreichen Provinzen Cherson, Podolien, Volhynien und der Ukraine. Constantinopel, Syra, Zante, Livorno, Genua und Marseille sind die Märkte, wohin es (vornämlich Weizen), in manchem Jahre zum Werthe von 20 Millionen Rubel, verführt. Talg geht in großen Quantitäten nach England, Leder nach den italienischen Märkten und über Brody nach Oesterreich. Die Wollausfuhr ist schon sehr bedeutend, und wird es, bei der außerordentlich raschen Ausbreitung, welche die Schafzucht in hiesiger Gegend gewinnt, immer mehr. Der reiche Ertrag der Merinoheerden wird meistens in den blühenden Fabriken Moskau’s verarbeitet. – Seilerwaaren, Butter, Kaviar, Talgkerzen bezieht Constantinopel in großer Menge; Leinsaat England. – Die Einfuhren bestehen in Kolonial- und Manufakturwaaren, letztere meistens englische; aber ihr Betrag ist, der schweren Zölle wegen, kaum zwei Drittel der Ausfuhr und klingende Münze dient dazu, die Differenz auszugleichen. –

Im Jahre 1834–1835 berechnete man den Werth sämmtlicher fremden Ein- und Ausfuhren zur See, jene auf 26, diese auf 31 Millionen Rubel. Der Landverkehr über Brody ist durch die Mauthen gewaltsam gelähmt; er setzt 3 bis 4 Millionen im Jahre um, würde aber, wäre er fesselfrei, das Fünffache seyn.