Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Nur eine Putzmacherin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44–46, S. 629–632, 645–649, 661–664
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[629]
Nur eine Putzmacherin.
Eine stille Geschichte.

„Putz- und Modewaarenhandlung von L. Albrecht“ prangte mit großen Buchstaben auf einem Schilde über der Thür eines stattlichen Hauses. Ein riesiges Schaufenster, hinter welchem eine Menge der elegantesten Putzsachen die vorübergehenden Feminina zum Eintritt oder wenigstens zum Stehenbleiben lockte, machte das Schild fast überflüssig; auch gab es in der ganzen Stadt wohl kein weibliches Wesen, vom kleinen Schulmädchen bis zur Matrone, von jenen bejammernswerthen Geschöpfen, die „für Alles“ dienen, bis zur gebietenden Frau Präsidentin, das nicht die Albrecht’sche Putzhandlung, wenn auch nur von außen, kannte. Doch auch weit über das Weichbild der Provinzialstadt hinaus war der Ruf der Madame Albrecht gedrungen, und seit einer Reihe von Jahren konnte keine Dame in Stadt und weiter Umgegend Anspruch auf Eleganz machen, deren Hüte, Hauben, Coiffuren, Morgenhauben etc. nicht bei dieser berühmten Modistin gekauft waren. Das öffentliche Geheimniß ihrer Ueberlegenheit über alle Nebenbuhlerinnen, welche sich etwa bestrebten, ein Geschäft neben dem ihrigen in Flor zu bringen, bestand darin, daß sie die Modelle ihrer Putzsachen nicht aus Berlin oder Leipzig, sondern direct aus Paris bezog. Das konnte ihr Niemand auf die Dauer nachthun, so blieb denn L. Albrecht die erste Firma in R., und was nicht aus ihrer Werkstätte hervorging, war auch nicht modern. Es geschah sogar nicht selten, daß Bestellungen aus der Provinzialhauptstadt gemacht wurden, weil man in derselben nicht Pariser Modelle hatte.

Madame Albrecht, die frühzeitig Wittwe geworden war, hatte sich dabei ein ansehnliches Vermögen erworben; sie stattete ihre Töchter sehr reich aus, ließ ihre Söhne studiren, nahm in den gesellschaflichen Kreisen R.’s eine bedeutende Stelle ein und war wegen [630] der reichlichen Bezahlung ihrer Demoiselles bekannt. Die Töchter anständiger Familien drängten sich dazu, in ihrem Geschäft zu arbeiten, oder das Putzmachen zu erlernen.

Die Arbeitsstube lag nach dem Hofe hinaus, damit die jungen Damen nicht durch Blicke aus dem Fenster oder durch Vorübergehende gestört würden. In dem großen, saalähnlichen Gemach arbeiteten an einem langen Tisch gewöhnlich zwölf bis fünfzehn Mädchen. Die Aufsicht führte eine arme Verwandte der Principalin, die hier schon manches Jahr den Scepter oder vielmehr die Zuschneidescheere führte. Indeß war sie nur dem Namen nach Directrice; in allen schwierigen Fällen zog sie sich in ein kleines Zimmer zurück, das von der Arbeitsstube weit entfernt lag, und erholte sich Raths bei einem alten Inventarium der Handlung, dem Niemand ansah, welche wichtige Stelle es hier bekleidete.

Das Gespräch verstummte selten an dem großen Arbeitstisch, und häufig erklang auch ein herzliches Gelächter. Die jungen Mädchen waren immer zum Scherzen aufgelegt, und Fräulein Therese, die Directrice, stimmte gern selber mit ein. Die Heiterste von Allen, Aline Munk, war seit einigen Wochen ungewöhnlich still und ernst und wurde deshalb oft geneckt.

Eines Vormittags fiel die Rede auf das, was Jede sich wünschte, und da kamen denn sehr verschiedene Dinge zum Vorschein, fast Alles, was Mädchen zu reizen pflegt, von dem Pariser Krepphut an, der eben copirt wurde, bis zur Staatscarosse mit vier Pferden und dem galonnirten Lakaien hintenauf; Eine wünschte sich eine Hütte und ein Herz, die Andere einen englischen Lord zum Gemahl, sei er noch so alt und unausstehlich, die Dritte begehrte gar Königin zu sein, aber nur die Königin der Bälle.

„Und Sie sagen gar nichts?“ fragte die Directrice Aline; sie selber hatte sich eben ein so blühendes und rentables Geschäft gewünscht, als das ihrer Principalin.

Aline schlug ihre großen, braunen Augen auf und versetzte lebhaft: „Ich möchte so reich sein, daß ich Unterricht im Deutschen und Französischen, im Zeichnen und der Musik und überhaupt in allem Wissenswürdigen nehmen könnte.“

Einige lachten, Andere waren verwundert über diese Idee, die ihnen Allen sehr fern lag. Ein kleines schnippisches Mädchen aber rief:

„O, das hat seinen Grund, und ich wette, daß ich diesen Grund kenne!“

Man bestürmte sie mit Fragen, während ein dunkles Roth auf Alinens Antlitz flammte.

„Nun, vis-à-vis von Fräulein Aline wohnt ein hübscher, junger Bauführer, der gewöhnlich im Fenster liegt, wenn ich sie Morgens oder Nachmittags abhole!“ antwortete Jene indiscret. „Er soll sehr musikalisch und gebildet sein; da ist es Wohl kein Wunder, wenn gewisse Leute es auch werden möchten!“

Aline leugnete, und das forderte die Glossen und Neckereien ihrer muntern Gefährtinnen noch mehr heraus. Sie machte daher gute Miene zum Spiel und behauptete, die junge Plaudererin hole sie nur deshalb immer ab, weil der Bauführer aus dem Fenster sehe. Dies brachte die Lacherinnen auf ihre Seite, und die Verrätherin wurde nun tüchtig aufgezogen.

Niemand hatte bemerkt, daß eine Person Zeuge der Scene gewesen, welche die Arbeitsstube selten betrat, wenn sie von ihren fröhlichen Inhaberinnen bevölkert war.

Als man ihre Anwesenheit bemerkte, verstummte das Gespräch zum Theil und viele Augen richteten sich neugierig auf diese mittelgroße Gestalt, die viel kleiner aussah, als sie wirklich war, weil der Oberkörper sich stark vorbeugte. Ein dunkles Kleid, so abgetragen und vielfach ausgebessert, daß es das ärmste der jungen Mädchen nicht angezogen hätte, umschloß die schlanke, hagere Figur. Keine Schleife, kein Kragen oder sonstiger Zierrath hob die dürftige Kleidung und eben so schmucklos war das äußerst spärliche, hellblonde Haar geordnet. Das Gesicht war gelblich bleich und die Abmagerung der früher gewiß vollen Wangen hatte manches Fältchen entstehen lassen. Dies Antlitz mochte einst ziemlich hübsch gewesen sein, das war indeß schon lange her. Die matten, bläulichgrauen Augen schauten trübe und glanzlos aus tiefen Höhlen, doch um den entfärbten Mund mit den schmerzvoll herabgezogenen Winkeln lag ein ruhiges, friedsames Lächeln als Beweis, daß stille Ergebung schon die Oberhand über den bittern Harm gewonnen, der hier, gewiß mehr als die Zeit, Lebenskraft und Wohlgestalt zerstört hatte.

Nachdem die still Eingetretene von der Directrice den verlangten Draht erhalten hatte, entfernte sie sich eben so still wieder. Die jüngern Putzmacherinnen schauten ihr nach und die jüngste Novize dieses Ordens, welche sich erst seit einigen Tagen in der Arbeitsstube befand, fragte neugierig, wer das sei.

„Wie, Sie kennen unsere älteste Arbeiterin nicht?“ versetzte Fräulein Therese. Auf weitere Fragen fuhr sie fort: „Ich kenne sie fast nicht genauer, als die Damen, welche schon einige Zeit bei uns arbeiten, denn ich bin ja erst seit sieben Jahren hier. Sie ist nicht mittheilsam und obgleich sie bei uns wohnt, lebt sie doch wie eine Einsiedlerin. Beim Mittagsessen spricht sie kaum ein Wort, geht niemals aus und trägt Sommer und Winter dieses braune Kleid, von dem ich nicht begreife, daß es so lange zusammenhält. Sie wird von der Familie „Cousine“ genannt, wahrscheinlich, weil ihre Schwester mit dem Stiefsohne der Madame Albrecht, dem Bergwerksdirector, verheirathet ist. Da sie sehr still und ungesellig ist, erlaubt ihr meine Tante, allein zu arbeiten. Dies ist Alles, was ich von ihr weiß, doch wird Allerlei von ihr gesprochen und vermuthet, und darüber können die meisten Damen hier bessere Auskunft geben, als ich. Was davon wahr ist oder falsch, mögen Sie selber herausfinden, ich habe dabei keine Stimme.“

Es kamen nun verschiedene Aeußerungen zu Tage und wurde Alles durchgesprochen, was seit Jahren über Emilie Röder im Schwunge war. Was am meisten Aufsehn erregte, war der Geiz der alten Putzmacherin. Die Principalin zahlte ihr natürlich einen anständigen Gehalt, sie ging immer so dürftig gekleidet, besuchte nie das Theater, hatte überhaupt keine Bedürfnisse, wie andere Menschen. Einige der Anwesenden erinnerten sich, theils aus ihrer Kindheit, theils wußten sie es von Andern, daß Emilie schon seit zwanzig Jahren bei Madame Albrecht war, just so lange, als diese ihre Modellsachen aus Paris bezog. Sie war damals ein blühendes Mädchen gewesen, hatte aber nie an den Vergnügungen der Jugend Theil genommen, sondern vom frühen Morgen bis in die späte Nacht rastlos gearbeitet, wie sie es auch jetzt noch that. Schon damals hatte sie nichts auf ihr Aeußeres verwendet, sondern ihr Geld erspart. Auch hatte sich in der Arbeitsstube von einer Generation der Arbeiterinnen auf die andere das Gerücht fortgepflanzt, daß die Putzmacherin einst einen Bräutigam gehabt. Es war indeß manches Jahr verstrichen, ehe er zu Brod gekommen, und dann war er, wie es hieß, über den Geiz der Braut so entrüstet gewesen, daß er mit ihr gebrochen hatte. Das fanden die frohherzigen Mädchen alle ganz natürlich von dem Mann, denn konnte man sich auch etwas Abscheulicheres denken, als jedem Vergnügen der Jugend und Geselligkeit zu entsagen und mit schnöder Habsucht Geld zusammen zu raffen? Eine der Putzmacherinnen, welche am längsten hier arbeitete, erinnerte sich noch ganz genau, daß kurz vor ihrem Eintritt in’s Geschäft Emilie von ihrer Principalin, die sie merkwürdiger Weise höchst ungern entließ, Abschied genommen hatte, um sich zu verheirathen. Nach kurzer Zeit war sie jedoch zurückgekehrt, bleich und angegriffen, und hatte dann an einem heftigen Fieber lange krank gelegen, wobei die Principalin für sie wie für ein eignes Kind gesorgt.

„Wie für ihr eignes Kind?“ fragte mit großer Ueberraschung Fräulein Malwina, die junge Dame, welche den Grund für Alinens Wißbegier angegeben hatte. „Ist sie denn noch so jung? Oder vielmehr, wie lange ist es denn schon her, seitdem die Hochzeit zu Wasser wurde?“

Die Erzählerin versicherte, sich dessen nicht mehr genau zu erinnern; die Meisten lachten darüber, weil sie wußten, daß Jene es stets vermied, Jahreszahlen zu nennen, nach denen man ihr eignes Alter berechnen konnte. Sie hatte niemals Lust, die Neugierigen über die ziemlich bedeutende Anzahl der Jahre aufzuklären, welche schon über ihren sorgfältig gewellten Scheitel dahingezogen waren. Uebrigens mochte seit ihrem Eintritt in’s Geschäft schon mancher Schnee gefallen und zerronnen sein, denn die verschmähte Braut war dem Anschein nach tief in den Vierzigen.

Die große Zurückgezogenheit und der Fleiß derselben hatten zu einem seltsamen Gerücht Anlaß gegeben, das durch plauderhafte Ladenmamsells oder Stubenmädchen unter’s Publicum gekommen und von neidischen Rivalinnen der Modistin bekräftigt sein mochte. Es hieß nämlich, die stille alte Putzmacherin fertige die Sachen selber, welche angeblich aus der Welthauptstadt der Moden verschrieben waren. Madame Albrecht und Fräulein Therese lächelten nur, wenn die Rede zufällig darauf kam. Und in der That war es ja auch lächerlich, und Jeder, der die stille, verkümmerte Emilie sah, [631] fand die Idee absurd, daß diese bezaubernd schönen Hütchen oder diese reizenden Coiffuren, welche die Herzen aller jungen Frauen entzückten, unter ihren hagern Händen hervorgegangen sein sollten. Daß sie gut copirte, war gewiß – allein dergleichen Meisterwerke erfinden –? Wie abgeschmackt, es ihr zuzumuthen! Da hätte jede der jungen Arbeiterinnen lieber sich selber ein solches Putzmachergenie zugetraut.

Noch sprachen alle lebhaft über Emilie, wobei sie fast darüber einig waren, daß Jene nicht recht gescheidt und die Principalin ein wahres Muster von Großmuth und Menschenfreundlichkeit sei, weil sie die närrische alte Jungfer im Hause behalte und obenein so freundlich behandelte. Da wurde Aline in’s Zimmer der Madame Albrecht gerufen und diese sagte ihr verbindlich:

„Fräulein Röder braucht eine junge Dame, die ihr ein wenig in die Hände arbeitet, Schleifen, Rüschen und dergleichen macht. Sie sind geschickt, Fräulein Munk, es wäre mir lieb, wenn Sie ihr alle Nachmittag von zwei bis drei Uhr in ihrem Stübchen helfen wollten. Es genirt sie, wegen jeder Kleinigkeit in die Arbeitsstube zu kommen, und sie wählte ausdrücklich Sie zur Gehülfin. Ich hoffe, es ist Ihnen nicht zu langweilig, täglich eine Stunde die gewohnte frohe Gesellschaft zu missen.“

Das junge Mädchen äußerte seine Bereitwilligkeit, und die Dame setzte hinzu: „Fräulein Emilie ist sehr eigen, daher können Sie dafür, daß Sie unter ihrer Anleitung arbeiten, Abends eine Stunde früher nach Hause gehen.“

Aline war darüber theils verwundert, theils erfreut. Jedenfalls war es ein Zeichen von Vertrauen, daß sie Zutritt in die kleine Arbeitsstube erhielt, worin nur die alte Demoiselle saß, wo Fräulein Therese zuschnitt und die Principalin oft vertraulich mit dieser sprach und sich auch zuweilen ein oder das andere Glied der Familie befand. Ihre Mitarbeiterinnen kamen nicht in dies Gemach, sie selber hatte darin schon einige Mal gearbeitet und schöne Augenblicke verlebt. Es enthielt übrigens nichts Merkwürdiges – einen großen Arbeitstisch, Haubenköpfe und Schachteln und was sonst zum Geschäft gehört. In einem Glasschrank befanden sich gewöhnlich einige wunderschöne Sachen, Pariser Modelle, und auch auf dem Tisch stand zuweilen etwas davon, weil Fräulein Emilie es copirte, wie es hieß.

Diese war heute nicht so theilnahmlos und gleichgültig, so ganz mit ihrer Arbeit beschäftigt, wie sonst. Sie richtete ihre Blicke prüfend auf das junge Mädchen und bemerkte wahrscheinlich jetzt zum ersten Male, daß es hübsch und einnehmend war. Dann gab sie ihm Arbeit, und Aline sah wieder, was sie schon längst entdeckt, daß Emilie einen außerordentlich guten Geschmack besaß und eine bewunderungswerthe Geschicklichkeit in der Verfertigung zierlicher Gegenstände. Sogar die einfachste Schleife ging unter ihren schmalen Händen hervor, als sei sie gar nicht gemacht, sondern habe von selber ihre leichte, gefällige Form angenommen.

Gegen ihre sonstige Gewohnheit, stumm zu arbeiten, fragte Emilie nach den Verhältnissen ihrer Gefährtin. Diese hatte bald ihre ganze Geschichte mitgetheilt. Ihr Vater war Beamter gewesen, doch schon längst todt, wie auch die Mutter. Sie lebte bei einer verheiratheten Schwester und mußte selber für ihren Unterhalt sorgen, da Jene, die Frau eines Eisenbahnbeamten, mit sich zu thun hatte.

„Und warum wünschten Sie reich genug zu sein, um Unterricht zu nehmen?“ fragte das alte Mädchen.

„Ich habe in meinem Leben so wenig gelernt!“ antwortete Aline mit gesenkter Stimme. „Schon von früher Jugend an mußte ich stricken, häkeln und flicken – da konnte ich an nichts Anderes denken, als an Gelderwerb. Aber nun ich älter werde, quält es mich, daß ich so gar wenig weiß und mein ganzes Leben nur mit Handarbeiten hinbringen soll. Die Meinigen sind auch schlichte Leute – in ihrer Mitte wird der Mangel an geistiger Bildung bei mir nicht vermißt; aber ich hörte Andere sprechen und da empfand ich mit bitterm Schmerz, daß ich nur von Hüten und Hauben, Stickereien oder dergleichen reden kann. Es gibt doch noch so unsäglich Vieles, was darüber hinausliegt, und ich – verstehe von Alldem nichts! Heißt das nicht sein Leben verfehlt haben?“

Sie war erstaunt über ihre Offenheit, allein sie erschrak heftig, als sie sah, welchen tiefen Eindruck sie hervorgebracht. Emilie war noch bleicher, als gewöhnlich; ihre Lippen bebten und nur mit Mühe vermochte sie eine Thräne zurückzudrängen.

„Mein Gott, Fräulein, ich habe Sie doch nicht beleidigt?“ sagte das junge Mädchen betroffen.

„Nein, nein, ich glaubte nur, Sie schilderten meine eigene Jugend!“ antwortete die Putzmacherin fast unhörbar.

So tief ihre Bewegung auch war, sie hatte sich bald gefaßt und arbeitete emsig weiter. Ihre Gesellschafterin war viel nachhaltiger ergriffen. Sie schaute auf das verblühte Gesicht, auf die verkümmerte Gestalt vor ihr und dachte daran, wie viel heiße Thränen über diese blassen Wangen geflossen sein mußten, um ihnen so tiefe Falten auszuhöhlen; wie drückend die Last gewesen, welche diese einst gewiß elastische und lebenskräftige Gestalt gebeugt. Ihr Blick schweifte zum Spiegel hinüber, welcher ihr eigenes, blühendes Bild wiedergab, und zu dem Mitgefühl um dies arme Wesen, welches in der That sein Dasein verfehlt, kam ein leises Grauen vor der eigenen Zukunft und Mitleid mit sich selber. Jene war einst ja auch siebzehn Jahr gewesen, wie sie jetzt; – Träume, Ahnungen, Wunsche und Hoffnungen, wie sie ihre eigne Brust hoben, hatten gewiß auch dieses Herz höher schlagen lassen, und jetzt?

„Was machen Sie denn, Fräulein? Sie verderben ja die Gardine!“ sagte in diesem Augenblicke das alte Mädchen, zwar nicht unfreundlich, doch ziemlich gleichgültig. Aline hatte es nicht beachtet, daß ein paar schwere Tropfen auf ihre Arbeit geträufelt waren. Sie wurde glühend roth und senkte beschämt den Kopf, gefaßt auf eine Strafrede. Doch diese blieb aus, vielleicht weil in demselben Augenblicke im anstoßenden Zimmer die Töne eines Flügels erklangen. Der älteste Sohn der Principalin, der Baumeister titulirt wurde, obgleich er das Baumeisterexamen noch nicht gemacht hatte, spielte hier gewöhnlich Nachmittags ein Stündchen, und Aline hatte ihn schon öfter vernommen. Heute hörte er indeß bald wieder auf, sein jüngster Bruder, der Student, welcher sich in den Sommerferien hier aufhielt, trat zu dem Spieler, und sie plauderten mit einander. Die dünne Wand ließ jedes Wort durchdringen, und das junge Mädchen lauschte still auf die sonore Stimme des Baumeisters.

Vor einigen Wochen hatte sie einst zufällig auf derselben Stelle gesessen und gehört, wie dieselbe Stimme zu dem stets widerspruchslustigen Bruder sagte: „Nein, auch für Mädchen der Mittelstände scheint mir vielseitige Bildung unerläßlich. Geistige Entwickelung heißt ja erst Leben, und sollen denn so viele arme Geschöpfe ihr Dasein hindurch bei Handarbeiten vegetiren, wie etwa unsere Cousine Emilie? Freilich machen Kenntnisse nicht glücklich, aber wahre Bildung läßt nie ganz unglücklich werden; sie gibt auch dem Einsamen und Verlassenen mannichfache Anknüpfungspunkte an das Leben; – daher ist sie vor Allem den alten Mädchen nöthig.“

Aline hatte damals erschrocken auf die alte Putzmacherin geschaut, die eben erwähnt worden. Doch diese hatte von dem Gespräch im Nebenzimmer nichts gehört, wie sie überhaupt, in ihre Arbeit vertieft, wenig von dem wahrzunehmen pflegte, was um sie her vorging.

Auf das junge Mädchen hatten jene Worte einen unauslöschlichen Eindruck hervorgebracht, und es beklagte seitdem lebhaft, daß es nicht Zeit und Gelegenheit hatte, sich zu bilden.

Jetzt entfernten sich die Sprechenden aus dem Nebenzimmer, und Aline spann ihre vorhin unterbrochenen Gedanken weiter aus. Ihre Gesellschafterin war auch einmal siebzehn Jahre gewesen, ihre Jugend hatte der ihrigen geglichen – würde sie selbst auch einst ein so verkümmertes, altes Mädchen werden, das in dem Putzmachen mit Leib und Seele aufgegangen war? Wie unsäglich öde und trostlos erschien ihr ein solches Leben! Und doch stand ihr keine andere Zukunft bevor, doch war es auch ihr Loos, einsam zu verblühen, lebenslänglich Putz zu machen, kein höheres Interesse als Blonden und Sammetblumen zu haben. Verheirathen würde sie sich nie, das war sicher – es schien ihr entsetzlich, einem Manne um der Versorgung willen die Hand zu reichen, wie das ihre Schwester gethan hatte, und wie es arme Mädchen oft thun müssen, wenn sie nicht verlassen altern wollen. Selbst ein Dasein, wie es die arme Emilie führte, schien ihr nicht so bedauernswerth, als eine Ehe, wie sie Mädchen ihres Standes gewöhnlich wird – konnte man in dem öden, einsamen Alter doch wenigstens ungestört den Erinnerungen der Jugend nachhängen. Ob Emilie deren auch wohl hatte? – Gewiß, sie hatte ja sogar einen Bräutigam gehabt!

Mit lebhaftem Interesse schaute das junge Mädchen auf das alte; es bemühte sich, auf dem bleichen Antlitz und in feinen Fältchen die Geschichte der Vergangenheit wie die Empfindungen der Gegenwart zu lesen, doch ließ sich davon nichts wahrnehmen. Mit [632] einer Sorgfalt und Zärtlichkeit, wie eine Mutter ihr Kind, hielt Emilie auf ihrem Schooße den Haubenkopf und war ganz vertieft in die Aufgabe, einen Aufputz zu beginnen, der schon in seinen ersten Anfängen reizend zu werden versprach.

Aline unterdrückte einen Seufzer. Wie war es möglich, so stumpf, so prosaisch zu sein und nicht einmal eine Thräne für das vernichtete Glück, für das verlorene Leben zu haben! Aber es war gut, daß die Verlassene in ihrer Beschäftigung Genüge fand, und den Geiz, welchen Andere in ihr tadelten, entschuldigte Aline in ihrem Herzen. Mußte sie doch für ihr Alter sparen, für die Zeit, in welcher sie nicht mehr arbeiten konnte.

„Es schlägt drei Uhr!“ sagte jetzt Emilie. Das war für die junge Arbeiterin ein Wink, nach der Arbeitsstube zurückzukehren. Doch ehe sie die Schwelle erreicht, fragte Jene:

„Und hatte die kleine Schwätzerin Recht? War es ein Baumeister, der Sie wißbegierig machte?“

Aline erröthete stammend und stammelte: „Ein Baumeister – welcher Baumeister?“

„Ihr vis-à-vis!“

„Ach, der Bauführer – nein, der gewiß nicht!“ rief das Mädchen schnell und erleichtert.

„Der gewiß nicht!“ wiederholte die alte Putzmacherin leise, als Aline sich entfernt hatte. „Also ein Anderer.“

Aline war von Allem, was sie in dem kleinen Zimmer gedacht hatte, tief niedergedrückt, Ihre Gefährtinnen zogen sie mit ihrem Ernst, ihrer Schweigsamkeit ans und meinten, sie habe sich drinnen von der alten Jungfer, diesem Gespenst einer Putzmacherin, angesteckt. Die Neckereien wie das Gelächter der jungen Mädchen waren ihr in hohem Grade zuwider, und sie begriff die Abneigung der armen Emilie gegen die Geselligkeit; auch ihr würde jetzt Einsamkeit lieber gewesen sein.

Emilie war indeß nicht so ruhig, wie Aline geglaubt hatte. Als sie allein war, ruhete die sonst so fleißige Nadel, und lange starrte sie wie abwesend auf den schönen Rosenzweig in ihrer Hand, der den Aufsatz zieren sollte, welcher zum Geschenk für eine Braut bestimmt war. Dann stand sie auf und wühlte, um sich zu zerstreuen, in Tüll, Blonden und Spitzen, in Bändern, Blumen und Federn. Welche Masse von all diesen Gegenständen hatte sie schon verarbeitet zu hübschen, geschmackvollen Sachen und darin ihre Vergangenheit zu begraben gedacht! allein das war ihr nicht gelungen, wie sie jetzt wieder einsah. Die Erinnerung malte mit so lebendigen Farben, die vergessen geglaubte Jugend trat wieder vor ihren Geist, und mit all den freundlichen, lockenden Bildern war auch der tiefe Schmerz aufgefrischt, welcher einst ihre Seele zerrissen hatte.

Aber sie hatte nicht Zeit, ihren Erinnerungen und ihrem Weh nachzuhängen. Der Aufsatz war zum Abend bestellt, denn morgen fand die Hochzeit statt, er mußte also fertig werden. Und er wurde es auch und wurde so hübsch und zierlich, daß er allgemeine Bewunderung erregte, als man ihn am andern Tage statt des Myrthenkranzes auf das lockige Haar der glücklichen Neuvermählten setzte.

„Wie reizend – wie geschmackvoll – das mache einmal eine Deutsche nach – es geht doch nichts über die Pariser Eleganz! Die Hauptsache aber ist, wie duftig das Alles aussieht, wie hingehaucht, wie von Elfenhänden zusammengefügt!“ So hieß es hier und da, und Niemand ahnte, daß eine einfache, unscheinbare Deutsche die Verfertigerin dieses als Kunstwerk gepriesenen Häubchens war.

Gegen Abend setzte die Schöpferin manches Kopfschmuckes, der als Wunder von Schönheit gerühmt worden, einen vergilbten Strohhut auf, dessen altmodische Façon in Wahrheit haarsträubend war für jede Putzmacherin und was einer solchen verwandt ist. Der Sommermantel, vor einer Reihe von Jahren aus einem alten Camelotkleide fabricirt, war auch nichts weniger als elegant. Die Principalin hatte ihr oft hübsche Kleidungsstücke schenken wollen, allein sie hatte versichert, die ihrigen seien gut für sie, und sich lieber das Geld ausgebeten. Dieser Geiz hatte sie bei den Wenigen in Mißcredit gebracht, die sich durch ihre Einsylbigkeit und Ungeselligkeit nicht abhalten ließen, sie zu bedauern.

Sie ging zu dem Rector der Töchterschule, einem vielseitig gebildeten Mann, und sagte ihm, sie habe von einer Dame, die nicht genannt sein wolle, Auftrag, einem jungen Mädchen Privatunterricht geben zu lassen. Er erklärte sich dazu bereit und fragte, in welchen Gegenständen.

Die Putzmacherin war ein wenig verlegen, sagte dann aber einfach: „Ich kann Ihnen nicht nennen, was dem Mädchen zu wissen nöthig ist, denn ich verstehe selbst zu wenig von solchen Sachen. Prüfen Sie die Kenntnisse Ihrer Schülerin und bringen Sie ihr dann Alles bei, was Sie für angemessen hallen uns wozu ihre Fähigkeiten ausreichen!“

Am andern Mittag war Aline nicht wenig überrascht, als ihre Schwester ihr einen Brief einhändigte, der für sie abgegeben war. Ihr Staunen erreichte den höchsten Grad, denn fünf Zehnthalerscheine fielen aus dem Couvert, und auf einem Blättchen stand mit feiner, etwas kritzliger Handschrift: „Vorläufig zu Büchern und zur Entschädigung für die nöthige Zeitversäumniß. Der Rector Molkow ist bereit, Ihnen so viel Unterricht zu ertheilen, als Sie wollen.“

Das Mädchen eilte zum Rector, in der Hoffnung, Auskunft über die Senderin des Geldes zu erhalten. Allein dieser kannte den Namen der Dame nicht, war auch ersucht worden, über die Sache zu schweigen, und beschrieb daher nicht einmal das Aeußere der Person, welche mit ihm unterhandelt hatte. Er kannte die Putzmacherin nicht, und hielt sie für eine Kammerjungfer oder dergleichen.

Alinens Wunsch, etwas zu lernen, konnte nun in Erfüllung gehen, allein sie brannte vor Verlangen, zu wissen, wer sich so großmüthig erwiesen. Sie erinnerte sich genau, daß sie sich fast nur in der Arbeitsstube und gegen Emilie ausgesprochen hatte – sollte am Ende gar diese –? Aber das war unmöglich, man kannte sie ja allgemein als sehr genau und habsüchtig, wie sollte sie also für eine Unbekannte so viel Geld ausgeben?’ Ein anderer Gedanke zuckte durch des Mädchens Hirn, allein der war noch thörichter.

Nachmittags theilte sie der alten Putzmacherin sogleich mit, was ihr widerfahren war, und behielt sie dabei fest im Auge. Doch Emilie blieb unbefangen.

„Das ist ja recht schön,“ sagte sie dann mit einer Theilnahme, wie sie an dem stillen, bleichen Wesen selten wahrzunehmen war. „Was wollen Sie sich aber den Kopf zerbrechen? Denken Sie, ein Erdmännchen oder dergleichen habe Ihren Wunsch erfüllt. Ich will für Sie auch thun, was ich vermag, und unsere Principalin ersuchen, daß sie Ihnen noch eine Stunde nachläßt, damit Sie mehr Zeit haben.“

Aline war ganz niedergeschlagen, daß ihre Wohlthäterin so unbekannt bleiben sollte; gedankenlos ergriff sie ein Hutband, an welchem der Zettel steckte, worauf die Auslagen zu dem eben fertig gewordenen Hute verzeichnet waren. Es war dieselbe feine, etwas kritzlige Handschrift, wie auf dem Blättchen, womit das Geld begleitet gewesen.

„Fräulein – liebes Fräulein – da, ist das nicht von Ihnen geschrieben?“ rief Aline und wies ihr den Zettel, indem sie zugleich das anonyme Schreiben hervorzog.

Daran hatte die bescheidene Geberin nicht gedacht. Sie war unzufrieden, daß sie nun Dankergießungen aushalten sollte, die sie beschämten, allein Leugnen war jetzt unmöglich.

Aline weigerte sich lebhaft, das Geld anzunehmen; sie sei jünger, als Emilie, die das Ihrige selber brauche, und könne arbeiten, behauptete sie.

„Heute geht es hier ja ungewöhnlich laut zu!“ sagte scherzend der jüngste Sohn des Hauses, indem er die Thür öffnete und den Kopf neugierig hineinsteckte. Das hübsche Mädchen zog ihn näher. Er redete die alte Putzmacherin an und nannte sie Cousinchen, wie er und alle seine Geschwister das von Jugend auf gewöhnt waren.

Der Studiosus entfernte sich indeß bald, denn Cousine Emilie war so wortkarg und theilnahmlos, wie immer, und das junge Mädchen schien eben so einfältig als hübsch, denn es antwortete ihm fast gar nicht.

„Machen Sie sich kein unnützes Bedenken über die Annahme des Geldes,“ sagte Emilie nach dieser Unterbrechung. „Ich habe so viel und mehr, als ich verbrauchen werde in meinem Leben; die Meinigen sind so gestellt, daß mein Nachlaß ihnen nicht nöthig ist – sie sollen ihn also auch nicht haben. Ueberdies macht es mir die größte Freude, die ich noch erleben kann. Um Sie ganz zu beruhigen, will ich Ihnen etwas sagen, was ich noch keinem Menschen anvertraute. Ich selber habe schmerzlich erfahren, wie weh Mangel an geistiger Ausbildung thun kann; daher ist es das Hauptstreben meines Lebens, so viel zu erwerben, daß einige andere Mädchen vor meiner Erfahrung bewahrt bleiben können. Ich brauche für mich sehr wenig, habe also schon eine kleine Summe erspart.“

[645] „Wozu soll ich mein Capital bis zu meinem Tode brach liegen lassen?“ fuhr Emilie nach einer Pause fort. „Ist es nicht besser, daß ich es noch zu meinen Lebzeiten Zinsen tragen sehe? Auch mache ich Bedingungen.“

„Welche?“ fragte Aline lebhaft.

„Sie dürfen nie von dem Gelde sprechen und auch nicht von dem, was ich Ihnen sagte. Ich liebe es nicht, alte Geschichten aufzurühren, denn ich bin körperlich zu schwach, um das öftere Gedenken an die Vergangenheit zu ertragen; auch stört mich das ja in meiner Arbeit. Dann müssen Sie Alles ohne Widerrede annehmen, was ich für Sie thun kann. Dafür sind Sie mir keinen Dank schuldig, nur den Vorsatz, Andere zu unterstützen, wenn Sie es einst im Stande sind – wenn nicht, dann fällt diese Verpflichtung natürlich weg, und wir sind quitt.“

So lange hatte sie gewiß seit Jahren nicht geredet, auch nicht in so leichtem, heiterem Tone; sie wollte dadurch dem jungen Mädchen die Annahme der Unterstützung weniger drückend machen und das Ganze in einen Scherz verwandeln.

Aline war indeß zu tief ergriffen, nicht nur von dieser Großmuth gegen sie, sondern auch von dem Blick, welchen sie in das Innere des armen Mädchens that, welches bei seinem Leid auch noch Verkennung ertrug. Sie empfand innige Theilnahme für Emilie und wünschte heiß, daß sie etwas für sie thun könnte. Ihre Bewegung war zu lebhaft, um ihr Worte zu gestatten, aber indem ihre Thränen wann auf die bleiche Hand flössen, welche sie an ihre glühenden Lippen preßte, gelobte sie sich, töchterlich für die Einsame zu sorgen, wenn sie einst der Pflege bedürftig sei.

Emilie schien in ihren Gedanken zu lesen, und einen Augenblick neigte sich ihre hagere, verkümmerte Gestalt zärtlich über die vollen Formen der jugendlichen Gesellschafterin. Ihre Stimme zitterte, und ein Anflug von Röthe überhauchte ihr Gesicht, als sie leise sagte:

„Ich habe kein Kind, und Sie haben keine Mutter – lassen Sie mich die Stelle Ihrer lieben Verstorbenen vertreten.“

Nach wenig Augenblicken fügte sie indeß gefaßt hinzu: „Doch jetzt wollen wir fleißig sein – auch kommt da Jemand.“

Therese trat ein, und Aline beugte ihr Gesicht tief über ihre Arbeit.

Von jetzt ab arbeitete sie Nachmittags immer bei ihrer neuen Freundin, und diese schickte sie gewöhnlich schon um vier Uhr nach Hause. Auf die Einwendungen des jungen Mädchens antwortete sie lächelnd: „Gehen Sie nur, Sie müssen ja fleißig sein. Für die vier Thaler, welche Sie monatlich bekommen, arbeiten Sie genug, und ich will schon verantworten, was ich thue; Madame Albrecht wendet gegen meine Anordnungen nie etwas ein!“

Das geschah in der That niemals, und Jeder wunderte sich über die Rücksicht, welche die Prinzipalin für ihre Demoiselle hatte. Der Studiosus begriff das nun vollends nicht, und es machte ihm Vergnügen, die alte Schachtel, wie er sie nannte, etwas burschikos aufzuziehen, wenn er ihrer ansichtig wurde. Emilie schien es nie zu bemerken, wenigstens achtete sie nicht darauf; überhaupt interessirte sie anscheinend nichts so lebhaft, als die Façon eines Hutes, oder das Modell einer Haube. Der Putzhändlerin gefielen indeß diese Neckereien nicht, und sie verwies sie einst dem Uebermüthigen ungewöhnlich ernst.

„Aber Mutter, in welchem Verhältniß stehst Du nur zu diesem alten Haubenstock!“ sagte er scherzend. „Sie scheint eine verwünschte Prinzessin zu sein, und wenn das ist, so will ich ihr alle mögliche Ehrfurcht erweisen – will sie sogar erlösen, wenn ich vermag. Mit natürlichen Dingen kann es überhaupt nicht zugehen, daß ein Menschenkind so versessen in Putzsachen ist, wie sie, und wenigstens mußt Du zugeben, es ist entsetzlich langweilig, mit diesem stummen, gespensterhaften Wesen umzugehen und mir nicht zu verdenken, wenn ich schlechte Witze mache, nur um ihr altes gefaltetes Gesicht zu vergessen.“

„Nun, so gewaltig alt ist sie nicht – ich bin wenigstens fünfzehn Jahre älter!“ sagte Madame Albrecht.

Ihre Söhne, denn auch der Baumeister war anwesend, schauten sie überrascht an. Sie war im Anfange der Fünfzig, blühend und etwas stark; in dem reichen, geschmackvollen Anzüge konnte sie für eine sehr gut conservirte Frau gelten. Wie alt, fast greisenhaft, sah Emilie neben ihr aus, und sie sollte fünfzehn Jahre jünger sein?

„Kummer und noch viel mehr anhaltende, unausgesetzte Arbeit hatten sie vorzeitig gealtert!“ sprach Madame Albrecht ernst weiter. „Allein, das gibt Niemand ein Recht, über sie zu spotten und am wenigsten einem meiner Kinder. Ohne sie wäre ich arm geblieben, nur ihren fleißigen, geschickten Händen verdanke ich es, daß ich meinen Kindern eine anständige Erziehung geben konnte, daß ich selber eine geachtete Stellung einnehme und wohlhabend bin. Ihr wundert Euch? Und doch ist dies buchstäblich wahr. Ihr wisset, daß ich nach dem frühen Tode Eures Vaters unser Galanteriegeschäft aufgab, das immer ziemlich schlecht gegangen war, und ein Putzgeschäft anfing. Dieses hatte auch keinen besondern Fortgang, denn ich bin kein Putzmachergenie, und bei den Directricen, [646] die ich hielt, kam nicht viel heraus. Dennoch mußte ich eine haben, und als ich meiner bisherigen eben gekündigt hatte, sah ich mich auf dem Wege nach Leipzig nach einer neuen um. Ein blutjunges Ding, ein kaum siebzehnjähriges Mädchen, wurde mir als eine sehr geschickte und fleißige Arbeiterin gerühmt. Ich ließ Emilie Röder kommen, und sie gefiel mir, denn sie war still und bescheiden, und nicht auf den Kopf gefallen, wie ihre Augen sogleich verriethen. Diese grauen Augen, die Ihr nur matt und glanzlos kennt, waren damals blau und strahlend. Ueberhaupt war sie sehr hübsch, obgleich Dir das sonderbar klingen wird, August, und fast keine Spur davon übrig ist. Namentlich hatte sie einen wunderschönen, wahrhaft blendenden Teint, so zart und rosig, wie ich ihn seitdem kaum wieder gesehen habe. Aber das gehört nicht zur Sache. – Sie gefiel mir also, doch als die Rede auf den Gehalt kam, verging mir die Lust, sie zu engagiren. Sie sagte nämlich mit einem glühenden Erröthen: Ich muß zweihundert Thaler haben – darunter kann ich mich auf kein Engagement einlassen. Das ist allerdings sehr viel, aber wollen Sie es mir geben, so soll es Ihr Schade nicht sein. Ich will rastlos arbeiten, vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht – ich mache sonst für mich, was Tisch und Wohnung anlangt, nicht die geringsten Ansprüche – nur geben Sie mir zweihundert Thaler. Was meine Leistungen betrifft, so sollen Sie damit gewiß zufrieden sein. Ich arbeite nicht schlecht und will mich auf’s Höchste anstrengen, es noch besser zu machen. – Es klingt zwar anmaßend, dennoch sage ich, meine Arbeiten sollen Pariser Modellen nicht nachstehen, und ich bin bereit, Ihnen sogleich Beweise dafür zu geben. – Ich konnte meiner Directrice nicht mehr als hundert Thaler zahlen, der Ausdruck: Pariser Modelle fiel mir jedoch auf, und ich hatte dabei einen Gedanken. Ich ließ Tüll, Band, Blumen und was sonst zur Sache gehört, kommen und das junge Mädchen begann vor meinen Augen mit einem Eifer und einer Geschicklichkeit zu arbeiten, wovon ich auf’s Höchste überrascht war. Ich gab ihr zweihundert Thaler und hatte dabei keinen Verlust. Sie hielt, was sie versprochen hatte; ihre Arbeiten übertrafen an Zierlichkeit und Eleganz Alles, was man jemals bei uns gesehen hatte. Emilie wurde nicht müde, Veränderungen zu treffen, Erfindungen zu machen, und ihre Ideen waren immer so originell und dabei so ansprechend und kleidsam, daß unsre Damen ihr Leben dafür gelassen hätten, diese Hüte oder Coiffüren kämen gradeswegs aus Paris, wie ich ausgesprengt hatte, um Aufmerksamkeit zu erregen!“

August lachte ausgelassen bei der Vorstellung, die schönen Bewohnerinnen seiner Vaterstadt hätten auf Treu und Glauben als Pariser Putzartikel gekauft, was in dem düstern Hinterstübchen seiner Mutter eine Deutsche fabricirt hatte, der man wahrhaftig wenig Esprit ansah. Sein Bruder aber schüttelte mißbilligend den Kopf.

„Ich weiß, was Du sagen willst, Hermann,“ fuhr die Mutter schnell fort, „es ist eine Schwindelei, das Publikum so anzuführen, aber bei Geschäftsleuten kommt es darauf selten an. Auch geschah hier ja Niemand Unrecht, es wurde nur Allen geholfen. Die Putzsachen wären bei all ihrer Schönheit unverkauft geblieben, hätten die Leute gewußt, daß sie hier gefertigt worden; mir wirklich aus Paris Modelle kommen zu lassen, war unmöglich, wer hätte sie denn bezahlt? Und dann war es ja unnöthig, weil Emilie reizend arbeitete. Uebrigens sagte ich den Leuten auch nie gradezu die Unwahrheit, und wenn mich Jemand fragte, ob die Waaren wirklich aus Paris seien, dann wies ich Ihnen nur die saubern Arbeiten Emiliens und die Kopien, welche in der Arbeitsstube darnach angefertigt wurden, und fragte, was sie dazu meinten. Alle riefen dann überzeugt: Welcher Unterschied! Da sieht man doch auf den ersten Blick, was unter den leichten, geschickten Pariser Händen hervorging und was bei uns geprudelt wird! – Meine Käuferinnen waren glücklich in dem harmlosen Wahn, Pariser Putzsachen zu tragen; ich kam aus meiner beschränkten Lage und erhielt ein so einträgliches Geschäft, wie es selten eins gibt, wobei Ihr auch nicht vergessen wurdet. Und selbst Emilie war dabei zufrieden, versicherte wenigstens, es zu sein, obgleich ihre frischen Wangen erbleichten und die anhaltende Arbeit ihren Körper krümmte. – Sie hatte ja ihren Willen und bekam das Geld, welches sie verlangte, und später noch eine Zulage!“

„Aber was fing sie denn nur damit an?“ rief der Studiosus verwundert.

„Sie schickte es ihrem Bräutigam, unterstützte ihn so lange, bis er sich selber forthelfen konnte,“ entgegnete die Mutter.

„Und er ließ dann das arme Geschöpf sitzen?“ fragte der Jüngling.

„Schändlich!“ rief der Baumeister.

„Er erfuhr nie, daß das Geld von ihr gekommen war. Und dann sind wir Menschen auch mitunter recht egoistisch und rücksichtslos,“ sagte Madame Albrecht, und ein Schatten zog über ihr volles, freundliches Gesicht. Sie dachte daran, wie ungern sie es gesehen hatte, als Emilie sie einst verließ, um glücklich zu sein, und wie lieb es ihr gewesen, als sie leidend zu ihr zurückkehrte. War sie nun doch sicher gewesen, daß die geschickte Arbeiterin fortan immer bei ihr bleiben und ihre Kunden sich nicht zu Andern wenden würden, weil sie keine Modelle mehr aus Paris kommen ließ. „Das ist eine lange Geschichte!“ sagte sie, als August die näheren Umstände wissen wollte.

Der Baumeister hatte indeß still nachgedacht, jetzt sagte er: „Damals achtete ich nicht darauf, jetzt besinne ich mich aber, daß ja unser Gustav ihr Bräutigam war, nicht wahr, Mutter?“

Die Glocke ertönte, ein Zeichen, die Gegenwart der Prinzipalin werde im Geschäftslocal gewünscht. Sie bejahte nur kurz die letzte Frage und ging in den Laden.

August war ärgerlich, daß er die Geschichte nicht erfuhr und meinte: „Emilie soll sie mir selber erzählen.“ Sein Bruder wollte ihn zurückhalten, allein er ging zu dem alten Mädchen hinein, das also fast seine Stiefschwägerin geworden wäre und in seinen Augen ein hohes Interesse gewonnen hatte.

Wie gewöhnlich, war Emilie in ihre Arbeit vertieft; auf seine Anrede erhob sie zwar die matten Augen, allein die Frage, welche auf seinen Lippen schwebte, verstummte, als er diesem trüben, glanzlosen Blick begegnete und das wehmüthige Lächeln auf dem erblichenen Gesicht sah. Eine unbescheidene Frage hätte sie ja gekränkt – er unterdrückte also seine Neugier.

Gleich darauf wurde zu Tisch gerufen und der Studiosus hatte während des Mahls eine so große und achtungsvolle Aufmerksamkeit für die alte, sonst geneckte und gehänselte Cousine, daß Fräulein Therese sich darüber sehr wunderte und Mutter und Bruder sich lächelnd ansahen. Nur der Gegenstand seiner Theilnahme bemerkte dieselbe nicht und ging auf seine Unterhaltung nicht ein, obgleich er die verschiedensten Saiten anschlug und von Allem zu reden begann, was nach seiner Meinung ein Interesse für Frauenzimmer haben könne. Nur als seine Mutter und Therese mit ihr über einige Angelegenheiten des Geschäftes sprachen, nahm sie lebhaft Theil daran.

„Im Grunde kann ich es unserm Gustav doch nicht verdenken, daß er sie aufgab!“ sagte August nach dem Essen zu seinem Bruder. „Was hätte er denn mit einer Frau anfangen sollen, die durchweg Putzmacherin ist und für nichts Anderes Sinn hat, als für die kostbaren Gegenstände, welche in ihr Metier schlagen?“

„Nun, vor dreizehn Jahren – denn so lange ist es ja schon her – war sie noch nicht durchweg Putzmacherin,“ meinte der Baumeister. „Ich erinnere mich noch vollkommen, daß sie damals, obgleich sehr fleißig, doch nicht so ganz in ihrem Geschäft aufgegangen war, wie jetzt.“

Er bedauerte das verlassene Mädchen von ganzem Herzen, und besonders leid that es ihm, daß er sie früher in jugendlichem Uebermuth auch oft gequält und aufgezogen hatte und ihr nicht den kleinsten Theil der Achtung und Theilnahme bewiesen, welche sie verdiente. Er ging daher zu ihr, entschlossen, ihre wirklich schönen Arbeiten nach Kräften zu bewundern und ihr dadurch ein Vergnügen zu machen, daß er Interesse für die Dinge äußerte, welche sie ganz in Anspruch zu nehmen schienen.

Emilie war in der That nicht unempfindlich für das bewundernde Erstaunen, welches der Anblick ihrer zierlichen Schöpfungen hervorzurufen pflegte. Sie hatte von Natur viel Sinn und Geschick für geschmackvolle Handarbeiten; der heiße Wunsch, so viel Geld zu erwerben, um ihren Geliebten zu unterstützen, machte eine Art Künstlerin aus ihr, und als später ihre Hoffnungen zu Grabe getragen waren, suchte sie Zerstreuung in der ihr lieb gewordenen Beschäftigung und fand eine kleine Genugthuung darin, daß die Erzeugnisse ihrer Kunstfertigkeit andre dergleichen Arbeiten weit übertrafen. Auch das einfachste, bescheidenste Gemüth sehnt sich, zuweilen sogar unbewußt, nach der Anerkennung seines Schaffens, gehöre dies einem Gebiete an, welchem es wolle.

Emilie war nicht allein; Aline arbeitete bei ihr und gerieth bei dem Eintritt des jungen Mannes in tiefe Verwirrung. Der [647] Baumeister begrüßte sie als Bekannte und mit Vergnügen, wie es schien. Wenigstens vergaß er, weshalb er gekommen war, und unterhielt sich bald angelegentlich mit dem jungen Mädchen, das nicht so einsilbig und theilnahmlos war, wie in der letzten Zeit, sondern die frühere Lebhaftigkeit wiedergefunden hatte.

Emilie mischte sich nicht in die Unterhaltung, schien mit ihren Gedanken ganz abwesend zu sein, als aber der junge Mann sich entfernt hatte, fragte sie, woher Aline ihn kenne.

Sie erzählte, daß sie ihn nur einmal gesehen hatte, als sie vor ungefähr zwei Monaten in der Leihbibliothek war. Er kaufte dort etwas, und der Roman, welchen sie verlangte, hatte Veranlassung zu einem Gespräch gegeben. Freilich währte dasselbe nicht lange, dennoch hatte Aline oft daran gedacht und diese flüchtige Begegnung nicht vergessen. Sie hatte erfahren, was Moore in Lala Rookh sagt: „O Blick’ und Töne gibt’s, die schnell das Herz durchzucken sonnenhell, als fänd’ in der Minute Raum der Geist des ganzen Lebens Traum;“ sie verschloß das natürlich in der Tiefe ihres Herzens und erwähnte davon eben so wenig gegen Emilie, wie sie überhaupt davon gesprochen hatte. Doch eine große Veränderung war seitdem in ihr vorgegangen, sie schien aus einem Traume erwacht zu sein. Ohne zu wissen woher, kamen ihr mancherlei Ideen über Dinge, an welche sie sonst niemals gedacht hatte, und vorbei war es mit dem harm- und gedankenlosen Frohsinn, womit sie sonst in’s Leben geschaut hatte.

Einige Male hatte sie den Baumeister auf der Straße oder im Flur getroffen, und das waren denn stets wichtige Begebenheiten für sie gewesen; sein Gruß hatte sie lebhaft erfreut – er kannte sie also noch. Dann hatte sie auch einige Male seine Stimme im anstoßenden Zimmer gehört und seinem Clavierspiel gelauscht – gesprochen hatte sie ihn aber nicht. Die Arbeitsstube war eine Region, von welcher der Wille der Modehändlerin ihre Söhne von jeher fern gehalten hatte, obgleich deren Unterhaltung den jungen Damen gewiß höchst willkommen gewesen wäre.

Uebrigens fand der Baumeister einen größeren Geschmack an der Cousine Emilie, als man je bemerkt hatte, und es traf sich merkwürdiger Weise sehr häufig, daß die Besuche, welche er in ihrem Stübchen abstattete, in die Zeit fielen, während Aline dort beschäftigt war. Der Studiosus war schon abgereist, das kleine Gemach und was darin gesprochen wurde, lag außer der Gehör- und Gesichtsweite der jungen Damen, welche die Arbeitsstube inne hatten und eben so neugierig, als scharfsichtig waren, und Fräulein Therese fesselten ihre Pflichten als Directrice an die Arbeiterinnen. So war Niemand da, der des Baumeisters plötzliche Passion für die Gesellschaft der Cousine beachtete.

Emilie selber schien auch wenig davon zu bemerken und zuweilen gar nicht zu wissen, daß der junge Mann überhaupt anwesend war. Er plauderte daher ganz ungestört mit Aline. Alle, die nicht aus eigner Erfahrung die Unterhaltungen kennen, in denen zuweilen über Nichts gesprochen und doch so Bedeutendes gesagt wird, die dem Gleichgiltigen langweilig scheinen und dem dabei Betheiligten in hohem Grade interessant sind, hätten sich gewundert, wovon sie doch immer zu reden hatten. Dennoch hielt das Mädchen die halbe Stunde, die in der Gegenwart des Baumeisters minutengleich entschwand, für unendlich mehr werth, als den ganzen übrigen Tag und fand den Vormittag immer unausstehlich lang und langweilig. Und Hermann Albrecht gewährten diese Unterhaltungen gleichfalls einen so großen Genuß, daß er sie keinen Tag versäumte.

So theilnahmlos Emilie auch gewöhnlich war, zuweilen verrieth doch ein Blick, daß ihr das sichtliche Vergnügen nicht entging, welches Beiden diese scheinbar so unbedeutenden Gespräche machten. Mitunter zuckte auch wohl ein wehmüthiges Lächeln um ihren Mund, das der Erinnerung an die entschwundene Zeit galt, in welcher auch sie, wie Aline jetzt, mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen Worten gelauscht und Worte ausgetauscht hatte, in denen für sie ein tiefer Sinn und hohe Wichtigkeit lag. Aber das war nun längst vorbei, und sie hatte nicht Zeit, den Liebestraum ihrer Jugend wieder durchzuträumen. Sie mußte fleißig sein – denn der Winter war vor der Thür, und die Winterhüte noch lange nicht fertig. Sie sann eifrig nach über neue Hutfaçons und hübsche Garnirungen und umgab sich oft mit einem ganzen Jahrmarkt von Sammet, Atlas, Plüsch und Velour, von Spitzen, Federn und Paradiesvögeln. Das kleine Zimmer war mit diesen kostbaren Artikeln oft so angefüllt und überfüllt, daß der Baumeister keinen leeren Stuhl fand.

Das Magazin der Madame Albrecht war in diesem Herbst aber auch so reich ausgestattet mit prachtvollen Novitäten, wie nur je in einem der früheren Jahre, und ihre Waaren fanden den reißendsten Absatz. Emilie arbeitete rastlos, gönnte sich kaum Zeit zum Essen, schien des Schlafes fast gar nicht zu bedürfen. Die Modehändlerin ermahnte sie, sich zu schonen, der Baumeister machte ihr Vorwürfe darüber, daß sie es nicht that, aber sie schüttelte dann nur mit ihrem stillen Lächeln den Kopf.

Uebrigens währte Alinens stilles Glück nicht lange. Der Baumeister reiste nach Berlin, um sein Examen zu machen und blieb den ganzen Winter hindurch fort. Diese Zeit benutzte das Mädchen auf’s Eifrigste zu rastlosen Studien, und da sie viel natürliche Anlage und Lernluft hatte und überdies ein mächtiger Impuls – einer der mächtigsten im Frauenherzen – sie bewegte, so machte sie überraschend schnelle Fortschritte.

Der Baumeister entdeckte nach seiner Rückkehr, daß sie eine Bildung besaß, welche er in ihrer Sphäre nicht hatte vermuthen dürfen, und fand sie nur um so anziehender. In Kurzem hatte sich Alles gemacht, wie es vorauszusehen gewesen. Auf Emilie war, trotz ihrer Abgeschlossenheit und Einseitigkeit, Alinen’s innige Anhänglichkeit nicht ohne Einfluß geblieben, und sie hatte das junge Mädchen täglich lieber gewonnen. Jetzt bot sie mit Freuden die Hand zur Befestigung ihres Glückes; während der Baumeister Alinen seine Liebe gestand, übernahm sie es, die Mutter für die Verbindung zu stimmen.

Das wurde ihr nicht schwer. Die Mutter hatte ihm zwar eine reiche Braut gewünscht, allein der junge Mann war unabhängig, auch war sie ja selbst einst in beschränkten Verhältnissen gewesen und Aline ein liebenswürdiges, unbescholtenes Mädchen. Als Emilie ihr vollends mit etwas bebender Stimme sagte: „Ich sollte einst die Frau Ihres Stiefsohns werden – nehmen Sie jetzt von meiner Hand eine Schwiegertochter,“ verstummte sie mit jeder Einwendung.

Der Baumeister fand auch nicht mehr Schwierigkeiten. Aline wollte zwar mit stockendem Athem geltend machen, daß sie arm sei und wenig gebildet, allein er widerlegte das siegreich, und die Zustimmung der Mutter hob jedes Bedenken. Aline schied aus der Arbeitsstube, deren Inhaberinnen ihr Glück anstaunten, theils beneideten, und der Baumeister übernahm ihre weitere Ausbildung. Emilie wollte die Ausstattung besorgen, allein die Modistin trug dafür selber Sorge und nur die nöthigen Hüte und Hauben durfte sie fertigen. Diese wurden denn auch solche Meisterwerke, daß sie allgemeines Aufsehen erregten.

Jahre kamen und vergingen. Aline war längst Frau Baumeisterin und glückliche Mutter; ihr Mann betete sie an, seine Familie liebte sie, und ihre Stellung in der Gesellschaft war so angenehm, wie sie sich dieselbe in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt hatte. Der ehemalige Studiosus war Assessor, und seine Mutter hatte sich von dem Geschäft zurückgezogen. Fräulein Therese, die sich übrigens auch in den heiligen Ehestand begeben, hatte die Modehandlung in Compagnie mit Emilie übernommen, dergestalt, daß jene mit ihrem Mann den Einkauf und Verkauf besorgte, während diese die Anfertigung der Modellhüte und Coiffuren behielt, welche noch immer in so hohem Ansehen standen und noch immer so gesucht wurden, wie sonst, obgleich nicht mehr alle Welt sie für Pariser Arbeit kaufte. Die Zeit hatte an und in Allen und Allem Veränderungen hervorgebracht. Nur an Emilien schien sie fast spurlos vorübergezogen zu sein. Das fand Aline auch, als sie eines Nachmittags in dem kleinen Stübchen ihrer alten Freundin saß. Sie hatte diese schon oft gedrängt, ihre Geschichte zu erzählen, aber diese hatte die Erfüllung ihrer Bitte immer hinausgeschoben. Gedankenvoll blickte die blühende, elegant gekleidete junge Frau heute in dem einfachen Gemach umher. Es war ganz wie damals, als sie es zuerst betrat, oder als sie später hier so glückliche Stunden verplauderte; auch die alte Putzmacherin saß ihr so still, so bleich und fleißig gegenüber, sogar das alte braune Kleid, welches sie trug, schien dasselbe zu sein, nur das spärliche Haar war noch spärlicher und die gebeugte Gestalt noch gebeugter geworden.

Als wäre es gestern gewesen, so deutlich erinnerte sich die Frau Baumeisterin der trüben Empfindungen, welche sie einst auf dieser Stelle beim Anschauen des alten Mädchens ergriffen hatten. Wie damals und wie seither oft, fühlte sie inniges Mitleiden mit der Vereinsamten und hätte viel darum gegeben, wäre es möglich [648] gewesen, etwas für sie zu thun. Seitdem sie selber so glücklich war, wie nur Jemand sein kann, erschien ihr das öde, traurige Leben Emilien’s noch unendlich beklagenswerther als einst, und der Gedanke daran war der Wermuthstropfen in ihrem Freudenbecher. Sie verdankte ihr so viel und hatte sie so lieb, dennoch vermochte sie ihr nicht einmal ein Vergnügen zu machen, denn Emilie war ja für Alles unempfindlich, was nicht das Putzmachen betraf. Es war all’ ihren Bitten und Ueberredungskünsten nicht gelungen, sie ein wenig geselliger zu machen, selbst in ihrem häuslichen Kreise, unter Alinen’s lieblichen Kindern, fühlte sie sich nicht recht behaglich. Sie nahm zwar herzlichen Antheil an ihrem Wohlergehen, doch nur aus der Ferne.

Für heute hatte sie endlich die Erzählung ihrer Geschichte zugesagt. Die jetzige Principalin und ihr Mann waren ausgegangen und für Vermeidung jeder Störung gesorgt. Emilie erzählte schlicht und mit gesenkter Stimme ihre Geschichte, die so einfach und alltäglich war, nun sie in Worte gekleidet wurde, daß sie sich selber fast darüber wunderte, wie diese unbedeutenden Begebenheiten der Inhalt eines ganzen Menschenlebens sein und es mit so namenlosem Glück und doch auch wieder mit so unsäglichem Leid erfüllen konnten.

„Mein Vater war früh gestorben, und die Mutter ernährte mich und meine Schwestern kümmerlich genug dadurch, daß sie einigen jungen Leuten Mittagessen gab,“ erzählte sie, indem sie, gewohnt unausgesetzt zu arbeiten, auch jetzt Drahtstäbe zu einem Hutgestell zusammenbog. „Wir mußten von Jugend auf fleißig sein, und ich kann nicht sagen, daß ich dazu unlustig war. Meine älteste Schwester, die später starb, hatte ein kleines Putzgeschäft, und ich war von jetzo ihre fleißigste Gehilfin; schon als kleines Kind machte ich Hauben und Hüte, nicht nur für meine Puppen, sondern auch für die aller meiner Bekannten, weil sie das selber nicht so gut verstanden. Nach dem Vergnügen, etwas recht zierliches zu machen, kannte ich kein größeres, als es wegzuschenken; mein Lebelang begriff ich nie, daß Jemand lieber nehmen, als geben kann; ich hätte am liebsten mein kleines Herz fortgegeben. Uebrigens geschah das auch bald genug. Der Stiefsohn Ihrer Schwiegermutter, Aline, war nach dem Tode seines Vaters zu seiner Großmutter gekommen; sie war indeß auch bald gestorben, ohne ihm viel zu hinterlassen, Madame Albrecht konnte ihn nicht besonders unterstützen, weil sie sich selber in sehr beschränkten Verhältnissen befand, dennoch wollte er Abiturient werden und dann das Bergfach studiren. Er war einmal davon überzeugt, daß er seinen Vorsatz verwirklichen werde, obgleich jeder Andere daran verzweifelt hätte. – Er aß bei uns, und ich lernte ihn kennen, als ich kaum fünfzehn Jahr alt war. Was soll ich Ihnen davon viel erzählen? Ich habe in meiner Einsamkeit das Reden fast verlernt, verstehe nicht schöne Worte zu machen und dann können wohl auch die allerschönsten nicht ausdrücken, was man eben erleben muß, um es zu verstehn. Jung sein, lieben und geliebt werden, das heißt von Allem nichts wissen, was es Drückendes im Leben geben mag, und an kein Leid glauben, und doch macht der Schmerz sich uns später nur zu sehr fühlbar. – Es dauerte lange, ehe wir von Blicken zu Worten kamen, aber wir waren ja Beide noch sehr jung, und es ist nicht gerade der kleinste Genuß, in den Augen die Gefühle zu lesen, welche noch nicht auf die Lippen zu treten wagten. Bald wurde Gustav wie ein Glied unserer Familie betrachtet, denn die Meinigen gewannen ihn Alle sehr lieb. Wenn er Zeit hatte, las er uns bei unserer Arbeit vor, oder er ging mit uns spazieren. Meine Mutter beachtete es nicht, daß wir nur Sinn für einander hatten und Gustav stets in meiner Nähe war; sie meinte, es sei eine Kinderei, über die wir später lachen würden, und sollte es sich zufällig schicken, daß wir ein Paar würden, so hatte sie auch nichts gegen den Schwiegersohn. So vergingen uns einige Jahre schnell und angenehm wie ein Traum. Wenn ich später an jene Zeit dachte, schien es mir oft, ein ganzer trüber, sonnenloser Lebenstag sei mit einem solchen Lebensmorgen nicht zu theuer erkauft. Aber das Menschenherz ist so ungenügsam, und je größer ein Glück war, desto tiefer fühlt man eben seinen Verlust.“

„Wie sah denn Gustav aus – war er hübsch?“ fragte Aline, als die Erzählerin bewegt schwieg. Ein leichtes Lächeln trat auf die farblosen Lippen der alten Jungfer, als sie sagte:

„Das ist eine verfängliche Frage, liebe Aline; welches Mädchen hält den Geliebten nicht für den schönsten Mann, den es gibt? Aber Gustav war wirklich nicht häßlich – mit einem Wort, er sah aus wie der Baumeister. Beide ähneln wohl ihrem Vater. Auch hatte er ähnliche Gesinnungen, wie der Baumeister, was die Bildung angeht. Er sprach am liebsten nur mit Leuten, die viel wissen, und verlangte auch von den Frauen, daß sie von Allem mitreden können, wenigstens Sinn und Verstand für Alles haben, was Großes und Gutes in der Welt ist und passirt. Freilich merkte ich das erst viel später – damals war er noch ein bloßer Jüngling, und wenn wir mit einander plauderten, so war es gewöhnlich nicht von gelehrten Sachen. Und redete er einmal davon, so hörte ich ihn gern an und gab auch wohl meine Meinung dazu, denn die Worte gingen mir flink genug vom Munde. Auch war ich nicht auf den Kopf gefallen und hatte große Lust, von Allem etwas wegzubekommen und zu lernen und zu denken. Es mag Ihnen das sonderbar vorkommen, Aline, wenn Sie mich ansehen, wie ich jetzt bin und schon lange bin. Aber es vergeht Einem Manches im Leben, und Sie mögen mir glauben, daß ich damals vielleicht alles Mögliche hätte lernen können und so klug und gebildet und geistreich werden, wie irgend Eine.“

Die junge Frau glaubte das gern. War sie doch auch einst ein unwissendes Mädchen gewesen und hatte sich geistig so schnell gebildet, daß man ihre vielseitige Entwickelung bewunderte. Zugleich regte sich wieder in ihren, Herzen die heiße Dankbarkeit gegen das geistig verkümmerte Wesen, welches ihr die Mittel zu höherer Bildung gegeben hatte, und sie hätte einen Funken der göttlichen Allmacht besitzen mögen, um Emilien’s Vergangenheit auszulöschen und sie wieder jung zu machen. Diese war selber viel weniger schmerzvoll bewegt, wie sie; wenigstens fütterte sie emsig den Schirm ihres Hutgestells, und der rosenfarbene Stoff, auf welchen sie sich herabbeugte, warf einen Schimmer von der Röthe der Jugend auf ihr verblühtes Gesicht. Oder war es die Erinnerung, welche die eingefallenen Wangen lebenswarm anhauchte?

„Gustav sollte jetzt Abiturient werden,“ fuhr sie fort. „Wir hatten die herrlichsten Pläne für die Zukunft gemacht und zu ihrer Verwirklichung fehlte nichts weiter, als Geld. Tag und Nacht sann ich darüber, wie ich welches erwerben könnte, um es Gustav heimlich zukommen zu lassen. Er war zu stolz, etwas von mir anzunehmen, überhaupt da er wußte, daß wir selber nichts übrig hatten. Ich faßte den Entschluß, Directrice zu werden, und war unbeschreiblich glücklich, als zufällig gerade die Stiefmutter Gustav’s mich engagirte. Jetzt durfte ich nicht mehr darum sorgen, wie ich ihm Geld zukommen ließ, ohne ihm weh zu thun. Madame Albrecht gab meiner Bitte nach und sandte ihm meinen Gehalt in ihrem eigenen Namen; er wußte nicht, wie ihre Verhältnisse standen, und nahm die Unterstützung von der Frau seines Vaters dankbar an. – Der Abschied war mir nicht schwer geworden, ich war so glückselig, wie sich’s gar nicht beschreiben läßt, daß ich ihm die Mittel schaffen konnte, zu werden, was er werden wollte, sonst aber nicht hätte werden können. All’ mein Denken und Trachten richtete sich auf meine Arbeit, denn ich hatte gegen Madame Albrecht die Verpflichtung übernommen, Außerordentliches zu leisten; auch arbeitete ich ja für ihn. Wie hätte ich mir da Rast gönnen sollen, oder was brauchte ich überhaupt Erholung? Ich hatte früher die Musik und den Tanz geliebt, gern gelesen, auch einen Spaziergang oder eine fröhliche Unterhaltung gern gehabt, jetzt gab ich Alles das auf; ich hatte ja nicht Zeit dazu, jeder Augenblick, in dem ich nicht arbeitete, erschien mir als Zeitverschwendung. Mit siebzehn Jahren ist man noch nicht über die Eitelkeit hinaus; ich hatte mich früher gern zierlich gekleidet, schon um Gustav zu gefallen. Jetzt konnte ich keine Sorgfalt mehr darauf verwenden, das kostete Zeit und Geld, und Beides brauchte ich für ihn, und dann tröstete ich mich auch damit, daß er mich nicht sah. Ermüdung und Langeweile, oder Ueberdruß und Mißstimmung kannte ich nicht. Fielen mir Nachts, wenn ich einsam bei der Lampe saß, auch zuweilen die ungehorsamen Augenlider zu, dann raffte ich mich schnell und fröhlich wieder auf. Ich lachte im Stillen darüber, wenn Madame Albrecht sagte, ich brächte meine schönste Lebenszeit ungenossen zu, werde mich mit meinem Fleiß krank machen. Ich dauerte die gute Frau sogar, weil sie nicht aus Erfahrung wußte, daß es für mich keinen größeren Genuß geben konnte, als zu denken: Dein Gustav kann werden, was er will, er braucht sich nicht das Nothwendige abgehen zu lassen, und Dein Fleiß, Deine Geschicklichkeit ist es, was ihn vor Mangel schützt. Krankheit fürchtete ich nicht; ich war ja jung, ich arbeitete gern unausgesetzt, und es geschah nicht aus schnöder Habsucht – Gott mußte mir also Kraft [649] geben. Und er gab sie auch wirklich. Meine Anstrengung wurde belohnt – unser Geschäft kam in Ruf, und ich verdiente den für die Verhältnisse ziemlich bedeutenden Gehalt, welchen ich erhielt, dessen Verwendung mir noch eine unendlich größere Freude machte, als die Erwerbung. Ich für meine Person brauchte ja nichts – und wie gern entbehrte ich Kleinigkeiten, an denen sonst eines Mädchens Herz hängt! Mitunter that es mir sehr weh, daß wir getrennt waren, es wurde mir nach ihm so bange um’s Herz, daß ich’s gar nicht sagen kann, und ich hätte ihn so gern, so sehr gern, einmal gesehen. Aber das konnte doch nicht sein, es kostete ja zu viel. Wir hatten gleich miteinander verabredet, daß Gustav nie zu Besuch kommen sollte, daß wir uns nicht einmal schreiben wollten, denn das Geld war uns knapp und die Zeit kostbar. Auch härmte ich mich nie lange um unsere Trennung, denn ich wußte ja, wir würden uns wiedersehen und uns dann nie mehr trennen. Je weniger Zeit wir jetzt auf Briefe verwendeten, desto eher konnten wir wieder beisammen sein. Ueberdies verging die Zeit wie im Fluge und ein Jahr nach dem andern verrann.“

[661] „Gustav brauchte jetzt meine Unterstützung nicht mehr,“ fuhr das alte Mädchen fort, „wohl aber meine Mutter und die jüngste Schwester. Die älteste war gestorben, die zweite hatte sich gut verheirathet, konnte aber für die Mutter nichts thun, denn ihr Mann war genau, und es wären Zwistigkeiten entstanden, hätte sie die Ihrigen unterstützt. Und doch war das nöthig. Die Mutter war alt und die Jüngste wuchs heran. Ihre Lehrer lobten ihren guten Kopf von jeher, und die Mutter hatte immer gewünscht, sie zur Gouvernante zu bilden. Gustav bedurfte meines Geldes nicht mehr, seine Stiefmutter war auch so gestellt, daß sie ihn ein wenig unterstützen konnte. Ich war an unausgesetzte Arbeit, wie an die größte Einfachheit gewöhnt, ich brauchte also meinen Arbeitslohn vorläufig nicht. Ich hatte zwar gedacht, mir eine Ausstattung zu ersparen, aber natürlich konnte ich die Mutter nicht darben lassen oder zugeben, daß meine Schwester nicht viel lernte, da sie doch große Lust dazu hatte. Mit Vergnügen schickte ich ihnen, was ich hatte, und dachte, eine Ausstattung für mich werde sich finden. Und sie fand sich wirklich, denn Madame Albrecht behauptete, ich sei die Gründerin ihres Wohlstandes, und zeigte sich dankbar. Auch schob sich unsere Verbindung lange hinaus, denn die Beförderung im Bergfach ist ungemein langwierig. Gustav gab also die Staatscarriere auf und ging in’s Ausland. Vorher kam er hierher und Alles, was wir sonst mit einander gehofft und verabredet hatten, wurde wieder durchgesprochen, doch nur im Fluge. Er hielt sich nicht lange auf, denn es drängte ihn, eine gesicherte Stellung zu erringen. Dennoch vergingen Jahre, ehe er sie hatte und die Hochzeit festgesetzt wurde. Ich verließ meine Schwiegermutter und reiste nach Berlin. – Was soll ich Ihnen von meinem Glück sagen? Sieben Jahre hatte ich fast nur von der Hoffnung gelebt, und diese Hoffnung sollte endlich in Erfüllung gehen; sieben Jahre lang war mir der Gedanke an ihn, den ich so sehr lieb hatte, das ganze Leben gewesen, hatte ich ununterbrochen für ihn, für die Wittwe und die Kinder seines Vaters, wie für die Meinigen gearbeitet. Ich hatte es gewiß mit Freuden gethan und wäre für Gustav gern zu noch viel Schwererem bereit gewesen; auch war mir meine sonst schon werthe Beschäftigung noch werther geworden, weil sie mir die Mittel zu seiner Unterstützung gegeben hatte. Dennoch war ich ganz unsagbar glücklich, denn jetzt sollte ja erst mein wahres Leben beginnen; an seiner Seite wollte ich nachholen, was ich versäumt hatte, und Alles genießen, was die Welt und das Leben bieten, wenn man einen offenen Sinn dafür hat. – Gustav empfing mich – er war auf einige Wochen nach Berlin gekommen. Darauf wollte er auf kurze Zeit nach dem Hüttenwerk in Baden zurückkehren, bei welchem er angestellt war, und dann nur zur Trauung wiederkommen. –

Nachdem die erste berauschende Aufregung des Wiedersehens vorüber war, sagten Mutter und Schwester wie aus einem Munde: „Emilie, Gott im Himmel, wie siehst Du aus?“ Ich schaute in den gegenüber hängenden Spiegel und erschrak vor mir selber und noch heftiger, da ich meine Schwester darin neben mir sah. Ich war bleich und abgefallen, ich hatte nicht Zeit gehabt, daran zu denken – auch hatte sich das ja ganz allmählich gefunden. Das frische blühende Gesicht meiner Schwester mahnte mich daran, daß ich einst auch so ausgesehen hatte, und zeigte mir den großen Unterschied zwischen sonst und jetzt, „Armer Gustav, du bekommst eine alte, häßliche Frau!“ sagte ich ein wenig niedergeschlagen. Er aber zog mich in seine Arme und sagte herzlich: wenn meine Jugendblüthe verschwunden sei, indem ich ihm die Treue bewahrte, so sei es ja seine Pflicht, die Röthe der Gesundheit wieder auf meine Wangen zurückzubringen. Er war dabei lieb und gut gegen mich, dennoch gab mir das Wort: „Pflicht“ einen Stich in’s Herz. War es wirklich nur Pflicht, die ihn zur Verbindung mit mir trieb? – war die Liebe erloschen? Ich grübelte darüber, und mein Glück war nicht mehr ungetrübt. Auch sah ich in kurzer Zeit ein, was ich früher nie bedacht hatte: Gustav war ein gebildeter, geistreicher Mann – ich verstand nur Putz zu machen; früher, als wir Beide jung waren, da paßten wir vortrefflich zusammen – jetzt nicht mehr. Er war in den sieben Jahren immer vorwärts gegangen, hatte Gott weiß was Alles gelernt, gesehen, gelesen und gedacht. Ich war die Zeit über nicht blos stehen geblieben, sondern noch verdummt – war nichts, als eine unwissende Handarbeiterin. Das zeigte sich bald. Wovon Gustav auch sprechen mochte, ich wußte darüber nichts zu sagen, konnte über nichts mitreden. Meine Schwester verstand das sehr gut, sie hatte alle möglichen Kenntnisse und freute sich, mit einem so gescheidten Mann, wie Gustav, zu sprechen. Ich saß dabei und horchte, wollte anfangs wohl auch ein Wort dazugeben, wenn Gustav mich aufforderte. Aber das kam dann so ungeschickt und einfältig heraus, daß ich mich herzlich schämte. Noch öfter verstand ich auch gar nichts von dem, was sie redeten, und mußte auf Gustavs Fragen meine Unwissenheit bekennen. O Aline, mit welch schmerzlicher Scham das geschah! Und wie Gustav dann drein sah, wenn ich das nicht einmal gelesen, was von guten Büchern herausgekommen war seit den sieben Jahren, ganz zu geschweigen von allem Uebrigen, was zur Bildung gehört! Ich kann das ja nicht so erzählen, aber Sie werden wohl wissen, was Alles [662] in einer Unterhaltung vorkommen kann, wie Vielerlei man gehört und gelesen haben muß, um doch überall ein wenig zu Hause zu sein. Gustav war über meine Unwissenheit verwundert und verlegen, gereizt und betrübt. Er sagte nichts und suchte sich zu beherrschen, aber ich sah, wie es in ihm arbeitete. Ich las jeden Gedanken in seinem Innern, denn wenn ich auch sonst nichts verstand, ihn verstand ich. Dazu braucht man ja auch keine Bildung, dazu braucht man blos so herzlich zu lieben, wie ich Gustav geliebt hatte und noch immer liebte.“

Sie schwieg und schöpfte lange und tief Athem. Die sonst unermüdliche und fleißige Hand ruhte, ein Zeichen ungewöhnlicher Aufregung. Hastig und mit zitternder Stimme fuhr sie nach einer kleinen Pause fort:

„Gustav hatte mir treu seine Liebe bewahrt, aber was die Trennung nicht vermocht hatte, das that das Beisammensein. Sein Herz erkaltete und nur seine Großmuth, wie sein Pflichtgefühl, hinderte ihn, zu gestehen, daß die Jugendgeliebte dem Manne nicht genügte, nicht genügen konnte. Ich fühlte das und wußte, was ich zu thun hatte. Sein Glück ging natürlich über mein eigenes, und wie hätte ich auch glücklich sein können, während er litt? Und er mußte leiden, wenn ich sein wurde. Gott im Himmel, hatte ich darum gearbeitet und entbehrt, daß er durch mich elend wurde? Hätte ich noch eine Jugend gehabt, ich hätte sie wieder mit Freuden für ihn hingegeben, wie konnte ich mich also besinnen, ob meine übrige Lebenszeit öde, hoffnungslos sein sollte? Ich gab ihn also auf und wurde wieder Putzmacherin. Aber was ich litt, das kann keine Zunge aussprechen! Es sind seitdem zwanzig Jahr verflossen, aber noch jetzt –“ fügte sie mit zuckenden Lippen und bebendem Ton hinzu, „noch jetzt zittert das thörichte Herz bei der Erinnerung an das damalige Weh.“

„Warum thaten Sie das auch? warum rissen Sie sich von ihm los?“ rief Aline schmerzlich. „Sie waren noch jung genug, Sie hätten ja noch Alles nachholen, sich noch hinreichend ausbilden können! Sie liebten ihn, und ich weiß es aus eigener Erfahrung, wie die Liebe jede Fähigkeit steigert; nichts ist so leicht, wie Kenntnisse zu erwerben, um dem Manne, der uns theuer ist, zu genügen. Es ist dann, als lernten wir gar nicht, als erinnerten wir uns nur eines Vergessenen, das stets in unserem Geiste lag, uns aber jetzt erst zum Bewußtsein kommt!“

Die Putzmacherin schüttelte den Kopf und fuhr mit der Hand über Stirn und Augen, als wollte sie mit der Thräne, welche die Bilder der Vergangenheit ihr erpreßt, auch gleich diese, oder wenigstens ihren Schmerz, fortwischen. Dann nahm sie den Hut auf, woran sie gearbeitet, und steckte bedächtig in zierlichen Fältchen den Atlas auf Kopf und Krempe. Die Wogen des Schmerzes haben im Alter nicht mehr die gewaltige Kraft, wie in der Jugend; wenn die Erinnerung sie auch noch zuweilen aufwallen läßt, so ebnen sie sich doch bald wieder.

„Mit Ihnen war das etwas ganz Anderes, Sie waren jung!“ sagte sie mit wehmüthigem Lächeln. „Ich war vierundzwanzig Jahr und obendrein kränklich. Meine Kraft war gebrochen, wie Ihre Schwiegermutter es mir einst vorhergesagt, ohne daß ich es ihr geglaubt. Andere Mädchen mögen in meinem damaligen Alter noch jung sein, ich fühlte, daß meine Jugend vorüber war. Die anhaltende Arbeit, der Mangel an Bewegung und freier Luft hatten mich mehr angegriffen, als ich es bisher in meiner Hoffnungsfreudigkeit bemerkt. Und sogar, wenn ich den Muth und die Stärke in mir gefühlt, noch genügende Bildung zu erlangen – es hätte nichts mehr geholfen, glücklich wären wir doch nicht geworden. Ich kann es, nicht so recht sagen, aber hier in meinem Herzen weiß ich’s ganz deutlich, daß es nimmer gut gethan hätte. Wenn ein Mann ein junges unwissendes Mädchen lieb hat, dann mag es sich unter seinen Augen ausbilden; es thut der Liebe keinem Eintrag, es erhöht sie manchmal wohl noch, wenn er seine Braut selber unterrichtet. Ganz anders war das mit mir. Gustav hatte mich gewiß von ganzem Herzen lieb gehabt, hatte ihn mir doch sieben Jahr hindurch keine Andere abwendig gemacht. Ich war nicht gerade unleidlich als junges Mädchen, und Gustav hatte mein Bild von damals aus seiner Jugendzeit mit sich in sein Mannesalter genommen. Während unserer langen Trennung hatte sich mein Andenken natürlich sehr verschönert und in den paar Tagen, die er einmal hier zubrachte, konnte er nicht von seinem Irrthum zurückkommen. Die Freude hatte meine Wangen geröthet, meinen Augen Glanz gegeben und meine Stimmung war auch wie in der Jugend. Als er mich endlich verblüht und alternd wiederfand, da hätte seine Liebe nur fortbestehen können, wenn ich klug und gescheidt gewesen wäre, wenn meine Unterhaltung ihn angezogen hätte. So fehlte mir Alles, Jugend, Schönheit, Geist, Kenntnisse, selbst Liebenswürdigkeit; denn ich fühlte mich so elend und auch so gedrückt und verschüchtert von der Erkenntnis; meiner Armuth, daß ich unmöglich heiter und angenehm sein konnte. Ich hatte nichts, als mein treues Herz, und das war nicht genug für einen Mann, der noch so jung war, wie Gustav, der in seiner Frau auch eine Freundin und Gesellschafterin haben wollte. Er sah, daß seine Wahl eine unglückliche, übereilte gewesen war, daß er sich in jugendlicher Thorheit zu früh und an die Unrechte gebunden hatte, und seine Liebe erkaltete. Hätte ich nun auch mit Ernst und Ausdauer gestrebt, Alles zu erlernen, was mir fehlte, so hätte er mich deshalb gewiß geachtet, aber wäre seine Liebe dadurch wieder erweckt worden? Gewiß nicht! Und dann wäre es mir auch nicht gelungen, das Versäumte nachzuholen, denn ich war dumpf und stumpf geworden und nicht mehr geschickt, ein frisches, regsames Leben zu beginnen. Ja, wäre ich jung gewesen, hätte ich gewußt, daß er mich liebte, dann wäre das ein Anderes gewesen. So benahm mir der Gedanke, daß es mit seiner Liebe vorbei sei und vorbei sein müsse, vollends das letzte Bischen Sinn und Verstand. Damals dachte ich das Alles nicht so ganz klar; aber ich fühlte es in mir desto lebhafter, daß ein Abgrund zwischen uns lag, den nichts ausfüllen konnte. – Ich reiste schnell ab und sagte Gustav nur schriftlich, daß ich einsehe, wir paßten nicht mehr für einander, darum gäbe ich ihm seine Freiheit zurück. Er schrieb mir wieder und suchte mich zu einer Sinnesänderung zu bewegen. Seine Worte hätten jedem Fremden warm geklungen, ich kannte aber die Sprache des Herzens und las in seinem Briefe nur, daß er ein zu ehrenhafter Mann war, um ein Mädchen sitzen zu lassen, und – daß er Mitleid mit mir hatte. Ich blieb standhaft und die Zeit lehrte, daß ich Recht gehabt. Er verheirathete sich mit meiner Schwester und lebt mit ihr in der glücklichsten Ehe, wie ich später von Madame Albrecht hörte. Ich selber hatte nie eine Berührung mit ihnen – ich konnte es nicht, weil mein Schmerz dadurch ja immer auf’s Neue erwacht wäre. Aber stets dankte ich Gott für sein und meiner Schwester Glück.“

Sie hielt eine Weile inne und schaute ihre Arbeit an. Wie weit waren wohl ihre Gedanken von derselben! dennoch fuhr sie fort, zu nähen oder Stecknadeln einzustecken, und es schien, selbst die mechanische Beschäftigung stille lind ihr erregtes Gemüth.

„Madame Albrecht nahm mich mit offenen Armen auf,“ sprach sie weiter. „Sie war zwar schon wohlhabend, allein die Erziehung und Ausstattung ihrer Kinder kostete viel, sie konnte mich also wohl brauchen. Meine Natur war aber zu sehr angegriffen, ich wurde krank und nur ihre sorgliche Pflege half mir wieder auf. Zuerst war ich, Gott verzeihe mir’s, wenig dankbar dafür, daß ich am Leben geblieben, aber ich lebte nun doch einmal und richtete mich wieder hier ein in diesem Stübchen, wo ich sonst auch gearbeitet hatte. Was brauche ich erst zu sagen, wie schwer und langsam mir die Stunden hinschlichen? Sie können sich das wohl denken. Aber die Zeit milderte nach und nach den wilden Schmerz, und mit jedem abgelaufenen Jahre wurde es stiller in dem unruhigen Herzen, vernarbte die Wunde in der Brust mehr. Zuerst war mir jede Gesellschaft zuwider, war mir am wohlsten, wenn ich keinen Menschen sah oder hörte, und ich lebte nur für meine Arbeit. Auch später konnte ich mich nie recht an die Leute anschließen, so herzlich mir auch Alle hier im Hause entgegenkamen und so sehr ich Jedem auch das Beste wünschte. Gott weiß, ich war nicht mißgünstig, es war gewiß nicht Neid, aber ich konnte kein frohes Lachen hören, kein blühendes, zufriedenes Gesicht sehen und besonders kein fröhliches Kind. Es gab mir dann allemal einen tiefen Stich in's Herz und ich mußte an die Vergangenheit denken, in der ich auch glücklich war, und daran, wie ich mir die Zukunft so anders geträumt und vorgestellt hatte, als sie nun wirklich geworden war. Auch lesen oder Musik hören konnte ich nicht, ich mochte nicht einmal spazieren gehen, denn Alles erinnerte mich ja an frühere Zeiten und an mein Unglück. Mein Gemüth war zu wund, Alles that ihm weh. Zuletzt, als ich ruhiger geworden war, hatte ich mich so an meine Abgeschlossenheit und an die Arbeit gewöhnt, daß mir nirgend so wohl war, wie hier in dem kleinen Stübchen unter Hüten und Hauben. Die ganze Welt hatte für mich beinahe aufgehört zu sein, war mir wenigstens ganz fremd geworden, und ich hatte nie den Wunsch, meine Lebensweise zu ändern.“

[663] Die junge Frau kämpfte mit ihren Thränen. Ihr war jetzt geistige Regsamkeit, fortschreitende Entwickelung, Verkehr und Zusammenhang mit der Außenwelt Bedürfniß, sie besaß einen zärtlichen, geliebten Gatten, liebliche Kinder, einen traulichen, heimischen Heerd. Emilie hatte von alldem nichts; sie war nicht allein einsam im Herzen, sie entbehrte auch die Anregungen und Genüsse der Bildung. Ein solch’ enges, beschränktes Leben erschien ihr namenlos beklagenswerth und viel schlimmer als der Tod; es schien ihr wie eine Verbannung in die unermeßlichen Einöden Sibiriens, wo jede geistige Lebensregung, jeder Keim zu fruchtbringender Fortentwickelung erstarren und verkümmern muß. Sie gab ihren Empfindungen keine Worte, um die Putzmacherin nicht zu verletzen, allein diese schien in ihrem Innern zu lesen; hatten ihre eignen Gedanken doch auch dieselbe Richtung genommen.

„So gar elend, wie Sie sich mein Leben vorstellen, ist es nicht!“ sagte sie sanft. „Wenn man jung, gesund und glücklich ist, dann wünscht man sich etwas Anderes und braucht auch etwas Anderes, als wenn man alternd, schwächlich und kummervoll ist. Mir war Ruhe das Allernothwendigste, es that mir wohl, mich von Allem abzusperren und nur auf das Allernächste zu achten. Wie sagt nur Schiller? „„In den Ocean schifft mit tausend Masten der Jüngling; still, auf gerettetem Boot, treibt in den Hafen der Greis.““ Wenn Männer nach dem Schiffbruch ihrer Hoffnungen und Pläne sich bescheiden lernen und lernen müssen, wie viel leichter wird das nicht uns? Haben wir doch auf unsern, Lebensschiffchen nie tausend Masten, ja, ich kann wohl sagen, daß ich nur einen einzigen hatte und der hieß Gustav. Nachdem ich ihn verloren, gab’s für mich nur die Möglichkeit, in einem stillen Hafen zu ankern, wie ich’s gethan habe. Auch ist’s ja die Hauptsache, wie man zu leben, was man für Ansprüche zu machen gewöhnt ist. Man spinnt sich zuletzt ein, wie eine Puppe, und fühlt sich gar nicht bedrückt in dem engen Gehäuse, in dem Andere ersticken möchten. Und ein großer Trost war mir meine Arbeit. Der Dichter hat Recht, nichts bleibt uns so lieb und tröstlich bis zu allerletzt, als „„Beschäftigung, die nie ermattet““. Sie sehen, ich weiß doch noch Etwas von Schiller, so arm an Bildung und Poesie ich auch bin!“ unterbrach sie sich mit einem melancholischen Lächeln. „Das macht, Gustav liebte Schiller und las uns zuweilen etwas von ihm vor, und dergleichen prägt sich Einem dann wohl für immer ein, so schwach und vergeßlich das Gedächtniß sonst auch wird, wenn es ohne Uebung bleibt, wie das meine. – Ja, was ich von der Arbeit sagen wollte: Alles, was wir fertigen, auch das Geringste, macht uns Freude, und wie ein Künstler oder Dichter an seinen Werken, fühlt Jeder, je nach seinen Kräften, auch Lust an dem, was er geschaffen. Ich kann wohl sagen, meine Putzsachen erfreuten mich, wenn sie allmählich so hübsch und duftig unter meinen Händen entstanden. Ich sann gern über Veränderungen daran, scheute keine Mühe, jedes Hütchen oder Häubchen zu einer Art Kunstwerk zu machen.“

Der Eintritt des Baumeisters unterbrach sie. Er schaute, nachdem er die Putzmacherin herzlich begrüßt hatte, befremdet und besorgt in die thränenvollen Augen seiner Frau. Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust und flüsterte, um ihre Bewegung zu erklären:

„Ach, denke Dir, sie hat Deinem Stiefbruder ihr Gehalt zum Studiren gegeben und ihm später entsagt, weil sie ihm nicht gebildet genug war!“

„Ich wußte das längst –“ sagte der Baumeister und schaute sich gedankenvoll in dem kleinen Stübchen um, worin er so angenehme Stunden verbracht hatte. Dann sagte er: „Ich habe eben einen Brief von Gustav bekommen. Er und seine Frau wünschen dringend, daß Sie zu ihnen kämen, und er ersucht mich, Sie dazu zu bewegen.“

Er zog das Schreiben hervor und reichte es Emilie, die es zögernd nahm und dann auf ihren Arbeitstisch legte, während sie schweigend den Kopf schüttelte.

„Sie wollen nicht?“ sagte der Baumeister. „Warum? Sie haben Ihre Jugend für ihn geopfert – weshalb soll er nicht für Ihr Alter sorgen? Er weiß zwar nichts von dieser Verpflichtung, aber er hat doch eine große Schuld gegen Sie; es war jedenfalls unrecht’, daß er Sie aufgab und zwar nach einer so langen Verbindung.“

„Nein, nein, das machen Sie ihm nicht zum Vorwurf!“ erwiderte das alte Mädchen mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit. Durfte sie denn zugeben, daß der einst Geliebte getadelt wurde? „Ich habe ihm nie einen Vorwurf daraus gemacht, daß er mich zu lieben aufhörte, denn das war nicht seine Schuld – wir paßten einmal nicht mehr zusammen. Auch wollte er ja sein Wort halten, und ich war es, die zuerst brach, weil ich fühlte, daß wir unglücklich sein würden. Konnte ich etwa darum einen Anspruch auf ihn gründen, weil ich viele Jahre, von der zartesten Jugend an, nur in dem Gedanken an ihn lebte, weil ich dadurch um jede andre Aussicht auf Lebensglück gekommen war? Gott weiß, ich bin von Herzen gewiß demüthig, bin ich doch auch nur ein armes, unbedeutendes Mädchen – aber dazu war ich doch zu stolz. Als er einsah, daß er sich in mir getäuscht, daß ich ihn nicht glücklich machen konnte, da hörte auch seine Verbindlichkeit gegen mich auf; mein einziges Anrecht an ihn war seine Liebe, nicht ein Versprechen, nicht ein Verlöbniß. Auch was ich für ihn empfunden oder vielleicht gethan hatte, verpflichtete ihn zu nichts –“ fuhr sie fort, während eine tiefe Röthe auf ihren Wangen brannte und ihre matten Augen in Hellem Glanz leuchteten. Es wurde ihr schwer, zu einem Mann von den Gefühlen zu sprechen, welche sie stets verschämt im tiefsten Herzen verborgen hatte, doch galt es ja seine Vertheidigung. „Mag er lange glücklich leben und einst sanft entschlafen – gegen mich hat er keine Schuld, die sein Gewissen nur im Geringsten drücken dürfte. Ich habe ihn so sehr geliebt, daß sein Glück mein Hauptwunsch war, und bin ihm dankbar, daß ich ihn so lieben konnte, daß er und seine Neigung meine Jugend unaussprechlich schön machte. Daß ich für ihn arbeitete und entbehrte, konnte natürlich nie in Rechnung kommen – dafür waren wir gleich quitt. Man ist ja mit Freuden bereit, für den Mann, den man von Herzen lieb hat, viel mehr, ungleich Schwereres zu thun und zu leiden, als einige Nachtstunden bei der Handarbeit zuzubringen oder unnützem Luxus zu entsagen. Das liegt einmal in der Natur – ist kein Verdienst. Und je mehr man thun und opfern kann, desto glücklicher und stolzer ist man ja. Wenn mich später in Leid und Einsamkeit, in Schwäche und Alter Etwas aufrichtete, so war es eben der Gedanke, daß ich ihm genützt hatte. Dadurch bekam mein Leben einen Werth für mich, den es sonst nie gehabt hätte. Und darum begreifen Sie gewiß, daß hier von einer Wiedererstattung nie die Rede sein kann und darf, und werden es an Gustav nicht verrathen, daß er damals mein Geld erhielt. Es würde ihn ja nur unnütz quälen, daß er für mich durchaus nichts thun kann.“

Der Baumeister und seine Frau hatten mit Ueberraschung in das Gesicht des alten Märchens geschaut, das unverkennbare Spuren von Schönheit und Lieblichkeit zeigte, nun die fahle Farbe, die Stumpfheit oder doch Unbelebtheit und Ermüdung gewichen war, wodurch es sonst entstellt wurde.

„Dann kommen Sie zu uns!“ sagte der Baumeister warm, „Geben Sie das Putzmachen auf, bei dem Sie körperlich und geistig verfallen sind. Wir wollen es Ihnen bei uns so behaglich machen, wie möglich – Sie sollen ganz ungenirt nach Ihren Neigungen und Gewohnheiten leben. Dabei werden Sie sich in kurzer Zeit erholen und noch einmal anfangen zu leben – sind Sie doch kaum in der Mitte der Vierzig.“

Aline stimmte sogleich ein und zählte als Ueberredungsgründe Alles auf, was sie thun wollte, um der alten Freundin das Leben recht angenehm zu machen. Doch diese dankte ihnen und sagte: „Wenn ich nicht mehr arbeiten kann, dann komme ich zu Euch, und Sie sollen mich pflegen, Aline. Jetzt thäte das nimmer gut. Ihr seid mir herzlich willkommen, wenn Ihr zu mir kommt, aber bei Euch würde ich mich nicht behaglich fühlen und nur Euer Glück stören. Ich passe nach Bildung und Lebensgewohnheiten nicht in Eure Mitte und bin zu alt, ein neues Leben anzufangen. Auch habe ich meine Art Stolz und denke, mag Einer sein, was er will, darauf kommt’s wenig an, die Hauptsache ist, daß er das, wozu ihn die Umstände machten, auch recht und von ganzer Seele ist. Auf den Platz nicht hingehören, den man einnimmt, ist immer schlimm, aber im Aller am allerschlimmsten, denn man findet sich nicht mehr so leicht zurecht, wie in der Jugend – hat nicht mehr die Fähigkeit dazu. Es ist närrisch und hochmüthig, aber gewiß würde es mich kränken, wenn ich von so Vielem, was bei Euch besprochen wird, nichts verstände – hier kann mir das nicht passiren, hier fühle ich mich sicher und daheim, weil ich weiß, daß ich verstehe, was zur Arbeit nöthig ist, und meine Sachen nicht verpfusche. [664] Darum laßt mich nur immer bleiben, was ich war und bin – eine Putzmacherin.“

Das junge Ehepaar nahm bald Abschied, denn es dämmerte schon und Aline ängstigte sich um ihre Kleinen, von denen sie ungewöhnlich lange fortgeblieben war. Bei dem Lächeln und Plaudern ihrer Kinder, an der Seite ihres Mannes dachte die junge Mutter mit doppelter Wehmuth an das freudenleere Loos ihrer Wohlthäterin, allein der traurige Gedanke an ein ödes, glückloses Leben trat vor dem eignen Glück auch bald wieder in den Hintergrund.

Die Putzmacherin saß indeß, ermüdet von dem ungewohnt vielen Sprechen, in dem kleinen dämmernden Stübchen. Hier war sie einst, freudig und hoffnungsvoll, viele Jahre hindurch Tag aus Tag ein bis lange nach Mitternacht fleißig gewesen, im Stillen immer wieder berechnend, was Gustav für ihren Arbeitslohn haben könne, oder wie lange es wohl noch bis zu ihrer Vereinigung wäre; hier hatte sie die letzte Zeit vor ihrer Reise nach Berlin in einem Rausch des Entzückens zugebracht und später auf derselben Stelle das qualvolle Weh ihres Herzens still und einsam durchgekämpft und überwunden. Würde sie je ein Ort, und sei es der allerschönste auf dem ganzen Erdkreise, so anheimeln, wie dies kleine Zimmer, in dem sich ihr Dasein abgesponnen hatte? Schon darum konnte sie es nicht verlassen. Auch war ihr die hübsche, zierliche Arbeit lieb und werth geworden durch die lange Gewohnheit und noch mehr durch all’ die Träume, Wünsche, Gedanken und Empfindungen, welche ihr Inneres erfüllt hatten, während die Finger sich emsig geregt. Ueberdies hatte sie noch einen andern Grund, ihre Beschäftigung nicht aufzugeben, den zu nennen sie zu bescheiden gewesen. Nach ihrer Trennung von ihrem Geliebten hatte sie Niemand gehabt, für den sie arbeiten konnte, denn ihre Mutter war bei der jüngsten Tochter und bedurfte ihrer Unterstützung nicht. Dennoch war es ihr Bedürfniß, daß ihre Arbeit durch irgend einen Zweck gleichsam geheiligt werde; an sich selbst zu denken hatte sie nie gelernt, und die Nutzlosigkeit ihres Daseins vermehrte noch ihr Elend. Ihr warmes, großmüthiges Herz hatte indeß bald einen Lebenszweck gefunden. Ihr eignes Leben erschien ihr so gebrochen, daß sie es nicht der Mühe werth hielt, es mit größerer Gemächlichkeit, als sonst, zu umgeben oder gar mit dem Luxus, welchen der reichliche Ertrag ihrer Arbeit wohl gestattet hätte; – sie sparte eifrig, um einst das Geld für Andre zu verwenden. Ihr Lebensglück war durch den Mangel an Kenntnissen zerstört worden, sie wollte wenigstens einige Mädchen vor einem ähnlichen Loose bewahren. Alles, was sie erarbeitete und erdarbte und einst hinterließ, sollte einen Fond bilden, dessen Interessen zur Unterstützung armer Mädchen bestimmt waren, die Lust und Anlagen zu geistiger Entwickelung, aber nicht die Mittel dazu besaßen. Seit fast zwanzig Jahren hatte sie ihr bedeutendes Gehalt zu diesem Zweck gesammelt, das Wenige, was sie für sich verwendet, war nicht einmal der Rede werth. Und seit dem Rücktritt der Madame Albrecht hatte sie in Gemeinschaft mit der ehemaligen Directrice das Geschäft übernommen, in welchem das darauf verwendete Capital sich erstaunlich hoch verzinste. So hatte sie es jetzt schon zu einem ziemlich ansehnlichen Vermögen gebracht, doch nur ihre nächsten Freunde ahnten, wozu es bestimmt war, und durften davon niemals reden.

Das Mädchen brachte die Lampe, und Emilie las nun den Brief des ehemaligen Bräutigams. Er erzählte dem Bruder von seiner Frau und Familie und seinem häuslichen Glück. Diesem fehlte nur, wie er hinzusetzte, daß Emilie sich bewegen lasse, zu ihnen zu kommen. Er sprach in Ausdrücken von der Schwester seiner Gattin, welche bewiesen, daß er der Geliebten seiner Jugend eine Achtung und Theilnahme bewahrt hatte, wie sie nach der Auflösung solcher Verhältnisse selten zu finden sein mag.

Lange neigte sich das verwelkte Gesicht der Putzmacherin über diese Schriftzüge, deren Anblick einst ihr Herz in Entzücken klopfen gemacht hatte. Noch vor wenigen Jahren hätte sie dieselben nur mit tiefem Weh betrachtet, jetzt hatte sie sich endlich zum Frieden durchgerungen. Eine Freudenthräne, ein lange ungewohnter Gast in diesen trübgewordenen Augen, fiel auf das Papier; es freute sie, daß es ihm wohl ging und daß er ihrer gedachte.

Endlich faltete sie das Blatt zusammen und flüsterte dann: „Gott segne Dich, mein Gustav, Dich und die Deinigen. Wie habe ich Dich lieb gehabt – so sehr, daß ich gern noch einmal all’ das vergangene Leid auf mich nähme, wenn es Dir nützte.“

Sie nahm den begonnenen Hut vor und vollendete ihn, Friede und Heiterkeit im Herzen. Hatte sie doch auch Ursache zufrieden zu sein und ihre Beschäftigung zu lieben. Auf ihrer Seele lag nicht wie ein drückender Alp jener Fluch, der gewöhnlich alte Mädchen verfolgt, der Fluch eines unnützen, zwecklosen Daseins. Ihr Leben war, bei aller anscheinenden Armuth, Beschränkung und Einseitigkeit, nicht verfehlt; sie hatte durch Fleiß und Ausdauer eine Geschicklichkeit in ihrem Fach erlangt, die segensreich für Viele geworden war. Sie hatte ihrem Geliebten eine ehrenvolle, ihn befriedigende Laufbahn möglich gemacht und dazu beigetragen, daß ihre Schwester eine passende Gattin für ihn wurde. Seine Verwandten dankten ihr Wohlstand, Erziehung und eine ehrenvolle Stellung im Leben, und zu Alinens Glück hatte sie auch mitgewirkt. Und einst würden noch viele Mädchen, die sonst bei dem Drang nach höherer Entwicklung in Unwissenheit verkommen wären, eine Thräne der Dankbarkeit haben für das edle, dann längst in Staub zerfallne Herz, welches das eigne düstre Dasein mit dem Streben erhellte, Andern das Licht zugänglich zu machen, welches ihm selber fehlte.

Was kümmert es sie, daß ihr Mühen verkannt wird? Das eigne Bewußtsein überwiegt unendlich die Meinung der Menge, und es würde ihr nur peinlich sein, wollte Jemand ihr Beweise von Achtung zollen. Still und geräuschlos, eben so unermüdlich, obgleich nicht in so übersprudelnder Hoffnungsfreudigkeit, wie einst das Geld zu Gustavs Studien, erarbeitet sie eine kleine Summe nach der andern. Die Leute aber, welche der verfallenen Gestalt in dem unscheinbaren Anzüge zuweilen ansichtig werden, schütteln den Kopf und sagen: „Wie kann man nur so geizig sein! – die Habsucht verzehrt die alte Putzmacherin ganz – so viel, wie sie braucht, muß sie doch längst zusammengescharrt haben.“ Oder es heißt auch wohl: „Da geht eine närrische alte Jungfer – wozu war die wohl nütze in der Welt?“