Textdaten
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Autor: Luise E.
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Titel: Eine verlassene Stätte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 633-635
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[633]
Eine verlassene Stätte.
Das alte Schloß Wittekind’s. – Des Sachsenherzogs letzte Tage. – Raub seiner Leiche. – Wittekind’s Freunde, die Sattelmeier. – Des Herzogs Grab. – Ein Sattelmeier in Schleswig-Holstein. – Die verlassene Stätte.

Zu den Orten, denen die Eisenbahn den vollständigen Todesstoß gegeben, gehört auch das in nordwestlicher Richtung von Herford liegende westphälische Landstädtchen Enger, das einst als große, stolze Stadt des mächtigen Sachsenherzogs Wittekind Burg umschloß und den ganzen weiten Gau der Angrivarier beherrschte.

Als noch die Posten und nicht die Dampfwagen jene Strecken Westphalens durchfuhren, hielt sich doch wenigstens mitunter ein durch Enger reisender Fremder an dem einstmals so berühmten Orte auf und besuchte die Kirche, die Wittekind’s Grabstätte ist; jetzt, wo die gerade Linie der Cöln-Mindener Eisenbahn die Gegend durchschneidet, fällt es nie mehr einem Reisenden ein, an der Zwischenstation Herford einen Haltpunkt zu machen, um sich nach dem etwas vom Wege ab befindlichen, einsam liegenden Städtchen zu begeben.

Wittekind’s Grabmal in der Kirche zu Enger.

Vor Zeiten fanden vielfach Wallfahrten zu Wittekind’s Grabe statt. Namentlich am Feste der heiligen drei Könige wurde die Stätte nicht leer von frommen Betern und inbrünstig Flehenden, denn man schrieb einem an seinem Grabe verrichteten Gebete wunderthätige Kraft zu und entfernte sich von der Stätte mit festem Vertrauen auf sichere Erhörung seiner Bitte.

Jetzt ist es schon lange her, daß jene Wallfahrten nicht mehr Gebrauch sind, und vergessen, wie so Vieles auf Erden, über das Jahrhunderte dahin gezogen, ist auch jene alte Sitte. Noch bis auf heutigen Tag wird aber am Dreikönigsfeste Mittags von zwölf bis ein Uhr zu Ehren Wittekind’s in der Kirche zu Enger geläutet; doch der Ton und Schall des Glöckchens, der am sechsten Januar durch das einst so berühmte Angerthal erklingt, er ruft in jener einsamen, verödeten Gegend Westphalens nur hier und da bei Einzelnen eine flüchtige Erinnerung an die fernen Zeiten wach, wo des alten Sachsen-Herzogs starke, feste Burg sich stolz und kühn im Angergau erhoben und dieser tapfere Kriegsheld, nachdem endlich Frieden im Lande herrschte, dort in Enger, im Kreise treuer Freunde und wackerer Waffengefährten, von den Mühen und Drangsalen seines reichen und vielbewegten Lebens ausruhte.

Kirche und Thurm zu Enger.

Daß gerade das Angerthal den Vorzug erhalten, Wittekind’s Burg auf seinem Boden erstehen zu sehen, und es ihm gelang, den mächtigen König (die Volkssage bezeichnet Wittekind stets als König) an dieser Stelle des westphälischen Landes zu fesseln, hatte seinen Grund einzig in einer List des Baumeisters, der die Kirche zu Enger aufgeführt.

Nachdem nämlich Wittekind, nach seiner Bekehrung zum Christenthume, von Karl dem Großen mit dem Herzogthume von Westphalen und Enger belehnt worden und der Friede im Lande hergestellt war, beschloß er, sich in dem ihm verliehenen erblichen [634] Herzogthume eine Burg erbauen zu lassen und seine Freunde und Kampfgenossen um sich zu versammeln. Ihm waren drei Punkte seines Landes gleich lieb zur Ansiedelung, der Werder vor Rehme, die Höhe bei Bünde und das fruchtbare, von Bergketten anmuthig umschlossene Angerthal. Da ihm die Wahl schwer wurde, wollte er die Entscheidung dem Zufall überlassen. Er erklärte daher, er werde an der Stelle der drei bezeichneten Punkte seine Burg erbauen lassen, wo zuerst ein Gotteshaus fertig sei. Man begann an den drei Orten zu gleicher Zeit den Kirchenbau. Der Baumeister im Angerthal, ein Mohr, hielt sich einfach an des Königs Wort, ein Gotteshaus haben zu wollen. Er baute seine Kirche ohne Thurm, und sie wurde zuerst fertig.

Ueber die Eile, mit welcher die Kirche im Angerthale erbaut worden, ist die Schönheit und Solidität des Baues nicht vernachlässigt worden, wie das die Kirche noch heut zu Tage trotz ihrer etwas verworrenen Structuren verräth. An ihrer östlichen Seite zeigt sich in beträchtlicher Höhe ein in Stein ausgehauener Mohrenkopf. Er soll der des Baumeisters sein, welcher ihn als Erinnerung an sich dort hat anbringen lassen. Die Augen dieses Kopfes blicken nach der Gegend, wo die beiden andern Kirchen liegen, und es will den Beschauer bedünken, als trage das Gesicht einen überaus triumphirenden Ausdruck, als wolle der Mund ausrufen: „der Sieg ist mein!“

Bei der Kirche des Angerthales ließ nun Wittekind seine Burg errichten, und ringsumher im Angergau siedelten sich seine Freunde und Kampfgenossen an. Ein kleiner Mauerüberrest am südlichen Abhange des erhöht liegenden Kirchhofs ist jetzt das Einzige, was von der einst so großen stattlichen Burg noch vorhanden. Dem nach Wittekind’s Residenzschlosse forschenden Fremden wird dies Stückchen Ruine mit einem gewissen Stolze gezeigt und ihm außerdem noch an einem Hause in Enger ein achteckiger ausgekehlter Stein bemerklich gemacht, der früher die Königskrone getragen und über dem Portale der Burg seinen Platz gehabt hat. Benennungen einzelner Orte haben sich noch aus jener fernen Zeit im Munde des Volkes erhalten, wie z. B. „der Burggraben“, „Wittekindsgarten“, „die Küche“, „das Backhaus“, „die Pferdeschwemme“, „das Vogelhaus“ etc. Im Jahre 1818 hat man beim Graben in einem Garten, wo früher die Küche der Burg gewesen sein soll, einen gemauerten Heerd und verschiedenes, noch gut erkennbares Küchengeräth gefunden. Es wird als Erinnerung an die „Wittekindszeit“ sorgfältig aufbewahrt.

Von der einst so stolzen Stadt Enger ist jetzt keine Spur mehr zu entdecken. Es ist ein kleines, unbedeutendes Landstädtchen, vielleicht darf man Enger ein armseliges Dorf nennen. Jedenfalls ist es aber Westphalens interessantestes Dorf, und die Bewohner desselben sind stolz auf seine einstige Größe. Selbst die Kirche, Wittekind’s Begräbnißstätte, macht einen unscheinbaren Eindruck. Eigenthümlich ist sie dadurch, daß der Thurm einige Schritte weit von ihr entfernt steht. Wittekind hat ihn später dazu erbauen lassen. In seiner sowie des Baumeisters Absicht hat es zwar gelegen, ihn dicht an die Kirche zu setzen; doch unüberwindliche Hindernisse haben sich der Ausführung dieses Planes entgegengestellt. Stets ist in der Nacht eingestürzt, was am Tage erbaut worden, und man hat zuletzt eingesehen, daß es unmöglich gewesen, den Thurm an der beabsichtigten Stelle zu errichten, da der Boden nicht die Last getragen. Auch an dem Platze, wo er jetzt steht, hat man ihn nicht breiter und höher aufzuführen vermocht. Er hat daher, um nur endlich vollendet zu werden, die unansehnliche Gestalt behalten müssen, die er noch jetzt zeigt.

Glücklich und zufrieden, geachtet und geliebt, lebte Wittekind lange Jahre im Angergau. Als er bereits ein hohes Alter erreicht hatte, wünschte er zu wissen, wie seine Freunde und Unterthanen sich bei seinem Tode benehmen würden. Zweien seiner Vertrauten theilte er seinen Plan mit, den er sich ausgedacht, die Treue und Anhänglichkeit der Engerer und Westphalen zu prüfen. Sie mußten die Nachricht seines Todes verkünden, die Stunde seines Leichenbegängnisses bekannt machen. – Ganze Züge Leidtragender erschienen in der Burg. Wittekind bemerkte mit Rührung, wie sehr man ihn liebte. Als die Schaaren seiner treuen Anhänger wehklagend den geschlossenen Sarg umstanden, trat er gesund und fröhlich unter die Trauernden. Man jubelte über dieses Ende des Leichenbegängnisses, und Niemand war König Wittekind böse wegen dieser Prüfung. Er machte Alle, die gekommen waren und selbst später kamen, zehntfrei. Letztere, die sich verspätet hatten, nannte man von dem Tage ab die Naloper (Nachläufer), und noch existirt in der Nähe von Bünde ein Hof, der den Namen „Nalop“ trägt.

Als Wittekind wirklich todt war, wurde er in der Kirche zu Enger beigesetzt. Die Thüre an der Westseite der Kirche, durch die der Sarg hineingetragen, ist sogleich vermauert und nachdem niemals wieder geöffnet worden: Der Platz, wo die Leiche ausgestellt gewesen und ihr Tage lang die größten Ehrenbezeigungen erwiesen sind, heißt noch bis heutigen Tages die „Leichendeele“. Feierlich ist ein Act darüber aufgenommen, daß in der Kirche zu Enger nur Westphalens tapferer Kriegesheld ruhen solle; und obgleich in spätern Jahren, zu wiederholten Malen, von edlen altadeligen Familien oder der Geistlichkeit Versuche gemacht worden sind, in dem kleinen, aber berühmten Gotteshause eine Gruft zu erhalten, Niemandem ist die Beisetzung gestattet worden, und der greise König ruht dort allein, Keinen hielt man würdig, Platz neben ihm zu erhalten!

Durch List sind einmal der Kirche zu Enger Wittekind’s irdische Ueberreste entzogen und nach der Kirche zu Herford gebracht worden, welche Stadt in frühern Zeiten wegen ihrer vielen Klöster und Heiligengräber den Namen Sancta Herfordia trug.

Wittekind hatte nämlich bei der Kirche zu Enger ein Capitel gestiftet. Die Herren dieses Capitels mußten den Gottesdienst halten und den Unterricht der heranwachsenden Jugend leiten. Es war von dem Könige reichlich mit Grundstücken, Gebäuden und Zehnten ausgestattet. Noch viele Jahrhunderte nach Wittekind’s Tode hielten die Capitelherrn Gottesdienst an des Sachsenherzogs Grabe; doch als Kriege das Land verwüsteten, Raubgesindel die Gegend unsicher machte, die stolze Stadt immer mehr sank, da hielten sie es für unnöthig, in Enger zu bleiben und ihre Pflichten zu erfüllen. Sie verpachteten ihre Ländereien und Besitzungen, bestellten für den Gottesdienst in Enger einen Pfarrer und entflohen nach Herford. Sie verlangten, daß die dem Capitel Zehntpflichtigen ihre Abgaben nach Herford bringen sollten; doch diese, ärgerlich und empört, daß die Capitelherrn Enger und das Grab ihres Wohlthäters verlassen, erklärten auf das Bestimmteste, daß sie nicht das Geld nach Herford bringen würden. Sie stützten sich auf den Ausspruch: „ihre Abgaben an das Capitel, nach des Königs Tode, an dessen Grabe entrichten zu sollen.“

Da nahmen die geistlichen Herren, als sie weder durch Bitten, noch durch Gewalt die ihnen gebührenden Abgaben erhielten, ihre Zuflucht zu einer List. Sie kamen im Geheimen nach Enger, schlichen sich bei Nacht in die Kirche, öffneten die Königsgruft, entnahmen ihr die Leiche Wittekind’s und brachten sie nach Herford.

Sie nahmen auch Wittekind’s Trinkbecher mit sich, welcher sich ebenfalls in der Kirche befand. Er war ein Geschenk Karl's des Großen an Wittekind gewesen. Er soll aus grünem Stein, der kein Gift vertragen, geschnitten gewesen sein und eine Einfassung von vergoldetem Kupfer gehabt haben. Eine Kapsel von unbekanntem Holze hat den Mundbecher umschlossen gehalten. Sie hat eine gelbliche Farbe gezeigt und die Inschrift getragen:

Visdai de Affrica rex.

An dem Rande des Bechers haben die Worte gestanden:

Munere tam claro – ditat nos Affrica raro.

zu Deutsch:

„Also herrliche Gaben – Wir selten von Afrika haben.“

Sehr bald ist in Enger der Raub der Gebeine Wittekind’s entdeckt worden. Die Stadt hat sie sofort als ihr rechtmäßiges Eigenthum reclamirt und eine Klage gegen das Capitel anhängig gemacht. Dieses triumphirte, und das heilige Herford verweigerte die Herausgabe. Beide Städte lebten über 400 Jahre in stetem Kampfe um des Sachsenherzogs irdische Ueberreste. Vorzüglich waren es die Nachkommen der Freunde und Waffengefährten Wittekind’s, seine sogenannten Sattelmeier, die nicht nachließen, die Gebeine ihres hochverehrten und geliebten Königs „Weking“ unablässig zu fordern und darauf zu bestehen, daß Sancta Herfordia seinen Raub herausgäbe. Ihnen ist es wohl allein zu danken, daß der Kirche zu Enger endlich ihr altes Recht wieder zuerkannt worden, und sie Wittekind’s Gebeine zurückerhalten hat.

Eine Anzahl Nachkommen jener berühmten Wittekind’schen Sattelmeier, auch Gesaljas, Saalgenossen, genannt, leben noch in Westphalen. Ihre Besitzungen liegen meistentheils bei Enger und Schildesche, einem Dorfe in der Nähe von Bielefeld. Diese Sattelmeier sind lauter reiche, angesehene Leute, die nicht wenig stolz darauf sind, daß ihre Vorfahren Wittekind’s Freunde und stete Gefährten gewesen. [635] Keiner von diesen Meiern vertauscht wohl seinen alten, ihnen so wohlklingenden Namen mit einem der vornehmsten westphälischen Adelsfamilien. Stolz sagen sie: „Ihr Name ist alt; aber der unsrige ist noch älter, sie sind Grafen und Barone; aber wir sind die Sattelmeier, König Wittekind’s Sattelmeier!“ – Nehmen die westphälischen Sattelmeier es an Rang mit dem westphälischen alten Adel auf, so noch mehr mit dessen Reichthum. Sie waren bereits früher reich und sind es immer mehr geworden, da im Allgemeinen wohl kein Stand in den letzten Jahren mehr emporgekommen ist, als der Bauernstand. Er hat von den theuern Jahren, ja selbst von der Revolutionszeit unendliche Vortheile genossen. – Ihr größter Segen ist ihr consequentes Festhalten an alten, einfachen Sitten und Gebräuchen; – ihr Stolz ist, Bauer zu sein,– nichts Anderes sein und werden zu wollen! – Dieser Stolz ist die sichere Grundlage ihres sich immer mehr anhäufenden Reichthums. Ihre Erinnerungen sind ihnen ein gutes Schild gegen Luxus und Verfeinerung, diese Harpyien des Reichthums. Da sie nun stolz darauf sind, noch den Titel zu tragen, den ihre Ahnen zu des mächtigen Sachsenherzogs Zeiten besessen, wollen sie auch der Beschäftigung ihrer Vorfahren treu bleiben, die einst ebenfalls mit eigener Hand den Boden bebauten, den ihr Herr und König ihnen in seinem verliehenen Herzogthume zur Bebauung angewiesen. Schwere, harte Arbeit kommt ihnen nicht als Schande vor, denn sie gedenken, daß ihre Ahnen, die einst in starker Hand an Wittekind’s Seite das Schwert gegen Karl den Großen geführt, auch später, als Frieden im Lande herrschte, mit dieser Hand das Feld und den Garten bestellt haben.

Viele der den Sattelmeiern von Wittekind eingeräumten Vorrechte sind ihnen bis auf unsere Zeit erhalten, namentlich den sieben, die in der Gegend von Enger noch ansässig sind. Wittekind hatte die Sattelmeier nicht allein von Abgaben frei gemacht, sondern auch Ehrenbezeigungen für sie angeordnet. Zu seinen Lebzeiten bildeten sie sein Gefolge, und bei ihrem Tode wurden ihnen große Ehren erwiesen. Die Gebräuche bei ihrer Bestattung sind es unter andern Vorrechten, welche bis auf die Jetztzeit übergegangen sind. Drei Tage wird ihre Leiche zu ungewöhnlicher Stunde in der Kirche beläutet. Geistliche müssen schon vom Meierhofe aus den Sarg begleiten, hinter dem ein gesatteltes Pferd hergeführt wird. Ehe man den Sarg in die Gruft senkt, wird er in die Kirche zu Enger getragen, vor Wittekind’s Grabmahl auf dem Kirchenchore niedergesetzt, als solle der todte Sattelmeier von seinem geliebten König Weking den letzten Abschied nehmen. Dieser Feierlichkeit folgt Gottesdienst, und erst nach Beendigung desselben erfolgt die Bestattung auf dem Kirchhofe. Den Frauen der Sattelmeier wird beim Leichenbegängnis der größte Theil dieser Ehrenbezeigungen auch erwiesen.

Die Sattelmeier, die Wittekind’s Gebeine für die Kirche in Enger zurückgefordert, und durch Gesetzesausspruch auch endlich ihr Recht erhielten, holten ihres Königs Ueberreste mit vielem Gepränge und Pomp von Herford ab. Sie geleiteten Alle zu Pferde den Sarg, der nun zum zweiten Male in der Kirche beigesetzt wurde, die die Veranlassung von Wittekind’s Ansiedelung im Angergau gewesen.

Das Grabmal Wittekind’s befindet sich auf dem Chore der Kirche zu Enger hinter dem Altare. Es ist eine von Kaiser Karl IV. 1377 im Renaissanccstyl errichtete Tumba. Auf derselben liegt die in Lebensgröße in Stein ausgehauene Gestalt des Sachsenherzogs. Sein Haupt bedeckt eine Art gesteifter Mütze, das Haar ist kurz geschnitten und das Gesicht ohne Bart. Er ist mit einem Talar bekleidet, der weite Aermel hat und welcher, wie auch die Mütze, mit Edelsteinen besetzt zu sein scheint. Seine rechte Hand ruht auf der Brust, die linke, welche den Scepter hält, ist durch das Gewand verhüllt. Die Füße sind mit Schuhen bedeckt, die sehr spitz zulaufen, fast bis zu den Zehen offen geschlitzt sind, und weder Absätze haben, noch mit Bändern befestigt sind. – Das Grabmal trägt an der rechten Seite des Würfels die Inschrift:

Hoc collegium Dionisianum in Dei Opt. Max. honorem privilegiis reditibusque donatum fundavit et confirmavit. Obiit anno Christi DCCCVII. relicto filio et regni herede Wigeberto.

An der linken Seite stehen die Worte:

Monumento Wittekindi, Warnechini filii, Angrivariorum regis. XII. Saxoniae procerum ducis fortissimi.

An dem breiten Rande der vorspringenden Steinplatte, die Wittekind’s Gestalt trägt, ziehen sich die Worte:

Ossa viri fortis – cujus sors nescia mortis – iste locus munit – euge bonus spiritus audit – Omnis mundatur – hunc regem qui veneratur – aegros hic morbis – rex salvat et orbis.

Letztere Worte beziehen sich wohl auf den Ruf der Wunderthätigkeit, in dem Wittekind’s Grab während vieler Jahrhunderte stand.”“

Der Glaube an Wunder ist jetzt mehr und mehr in der Seele der Menschen erloschen. An Wittekind’s Grabe knieen wenigstens keine frommen Beter mehr im gläubigen Vertrauen auf Erhörung ihres Gebets, und vergeblich ertönt am Dreikönigsfeste das Glöckchen durch das Angerthal, denn kein Wallfahrer erscheint, die geweihte Stätte aufzusuchen. Auch ein das Grab besuchender Fremder ist in Enger eine Seltenheit.

Die Bewohner der Gegend sehen den Grund des Verlassenseins jener berühmten Grabstätte in der Länge der Zeit, die darüber hinweggezogen ist, seit Wittekind im Angergau residirte. Ich erhielt wenigstens zu verschiedenen Malen, wenn ich in Enger war, von den verschiedensten Leuten auf Anfragen nach Wittekind die Antwort: „Dat is all unbännig lange her, dat dä Minske hätt livet!“ (Das ist schon sehr lange her, daß der Mensch lebte!) Sagte ich wohl, daß, wenn es auch lange her sei, man ihn dennoch nicht vergessen dürfe, so entgegnete man mir treuherzig: „Nä, dat wirr woll so lange nich sin, we he nau bebimmelt wird, und bebimmeln thun se use olle Weking nau alle Jahr!“ (Nein, das wird wohl so lange nicht der Fall sein, als er noch beläutet wird, und beläutet wird unser alter Wittekind noch jedes Jahr.)

Ich glaube indessen, auch ohne das sogenannte Grabläuten am Dreikönigsfeste wird Wittekind nicht vergessen werden. Die Erinnerung an ihn gehört zu den alten historischen Erinnerungen Westphalens, auf die jeder Bewohner des Landes mit ganz besonderem Stolz zurückblickt. König Weking ist ein Liebling des Volkes und unzählige Sagen knüpfen sich an ihn. Auf vielen Bergeshöhen, wo noch alte, epheuumrankte Wartthürme oder kleine unbedeutende Mauerüberreste stehen, spricht man, es wären die Ruinen ehemaliger Burgen Wittekind’s, und wo man im Angerthal alte verwitterte Bäume an Orten mit hübscher Aussicht trifft, heißt es gewiß: „Das war ein Lieblingsplatz König Weking’s!“

Am tiefsten und festesten wurzelt aber die Liebe zu Wittekind und die Anhänglichkeit an ihn in den Herzen der Nachkommen seiner ehemaligen Genossen. Es ist, als ob er unter den Sattelmeiern noch fortlebte, er noch immer ihr König und Herr, ihr Freund und Gefährte sei. Einen hübschen Zug jener rührenden Anhänglichkeit an ihn erhielt ich, als ich das erste Mal in Enger war. Ich traf dort an Wittekind’s Tumba mit dem Sohne eines Sattelmeiers zusammen. Er wollte sich am Kampfe in Schleswig-Holstein betheiligen und bereits am nächsten Tage sein Heimathland Westphalen verlassen. Sein letzter Abschiedsbesuch galt König Wittekind, dem er Lebewohl sagte. Lange und ernst betrachtete er das Steinantlitz. Er hat es nicht wiedergesehen, – denn schon wenige Wochen später war er in dem Kampfe für deutsche Freiheit und deutsches Recht gefallen.

Oft habe ich an jenen jungen, für die Sache Schleswig-Holsteins begeisterten Bauer denken müssen und mich gefragt, ob er wohl an jenem Tage an Wittekind’s Tumba eine Ahnung seines Todes gehabt und ob ihn das Gefühl in die Kirche zu Enger getrieben hat, Wittekind vor seinem Scheiden aus der Welt noch einmal zu sehen.

Dieses erste Mal, wo ich Jemand an der berühmten Grabesstätte fand, war auch das einzige Mal. Niemals ferner, so oft ich auch Enger besuchte, traf ich dort einen Menschen. Leer, einsam und verödet war die Stätte, die eine so glorreiche, interessante Vergangenheit gehabt hat. Sucht indessen einmal wieder ein Fremder diesen verlassenen Ort, dieses kleine armselige Dorf in Westphalen auf, – er bereut gewiß nicht den kurzen Aufenthalt auf seiner Reise, wenn er nur einigermaßen Interesse für die Ereignisse vergangener Jahrhunderte hat.

Aus der alten Tumba, wo der greise Sachsenherzog in Stein ausgehauen liegt, steigen gar wundersame Bilder aus fernen Zeiten auf, die man mit einer gewissen heiligen Scheu betrachtet, wenn sie vor dem Auge des Geistes vorübergleiten. Unter gleichem wunderbarem Zauber steht man beim Anblick des kleinen Mauerüberrestes am Kirchhofe, – der einzigen, letzten, unbedeutenden Spur jener stolzen Königsburg, deren Zinnen einst weithin durch’s große, mächtige und blühende Angerthal leuchteten. Es ist eine verlassene Stätte; doch eine vergessene wird sie hoffentlich nie werden.

Luise E.