Nihilismus und russische Dichtung (2. Alexander Puschkin)

Textdaten
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Autor: Wilhelm Goldbaum
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Titel: Nihilismus und russische Dichtung, 2. Alexander Puschkin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 547-552
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Teil 3: Nicolaus Gogol
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[547]
Nihilismus und russische Dichtung.
Studien von Wilhelm Goldbaum.
2. Alexander Puschkin.

In die Weltpolitik ist Rußland durch Peter den Großen, in die Weltliteratur durch Alexander Puschkin eingeführt worden. Beiden ward dieses Verdienst lange genug nicht blos in Rußland selbst, sondern auch außerhalb der russischen Grenzen nach Gebühr angerechnet, aber Beiden wird es in der Gegenwart von undankbaren Nachkommen verkleinert, welche in ihrer Verwilderung und Einseitigkeit weder für das Genie auf dem Thron noch für dasjenige in der Dichtung ein Verständniß haben. Daß Peter der [548] Große die Cultur des Westens nach Rußland verpflanzte, beklagen die bornirten Stockrussen, welche die Wiederherstellung des asiatischen Czarenthums und die Erneuerung der Residenz in Moskau ersehnen; daß Alexander Puschkin sich an fremde Vorbilder, an Lord Byron und Walter Scott, anlehnte, verdammen die Nihilisten, deren dreistester literarischer Wortführer, der halbverkommene Pisarew, den traurigen Muth besaß, den „kleinen lieben Puschkin“ einen „leichtsinnigen Versemacher“, einen „kolossal unentwickelten Menschen“ zu nennen.

In einem seiner Gedichte hat Puschkin, dichterischen Selbstbewußtseins voll, der Zukunft seinen Ruhm übermacht; er sang:

„Und lange wird mein Volk sich liebend mein erinnern,
Weil ich es oft erfreut durch meines Sanges Macht,
Für alles Gute Sinn erweckt in seinem Innern
Und den Gefall’nen Trost gebracht.“

Und im verflossenen Jahre haben sie ihm in Moskau in der That ein Denkmal gesetzt, aber es ist blos von Stein. In dem Herzen der heutigen russischen Jugend hat Puschkin keine Stelle; da wühlt der Nihilismus mit seinen Krallen und vernichtet alle Poesie, alle Empfindsamkeit, alle Pietät. Nur die Alten hegen noch Puschkin’s Andenken, und sie wissen auch noch, was er um die Freiheit gelitten. Er war kein Revolutionär, aber als echter Poet stand er auf der Seite des Volkes und verteidigte dessen gerechte Sache dem Czarenthum gegenüber. Dafür ward er verbannt, dafür von der aristokratischen Gesellschaft Petersburgs gepeinigt, bis er blutdürstend sich einem Gegner zum Zweikampfe stellte und jung an Jahren sein Leben verlor. Ihn mit dem Nihilismus in eine Beziehung zu bringen, könnte gewagt erscheinen; dennoch muß er als ein Vorläufer desselben gelten; denn in seiner Seele keimten bereits die Gedanken, welche allmählich zu dem ungeheuren Mißvergnügen anwuchsen, das heute Rußland untergräbt; in seinen Gedichten lebten bereits die Urbilder jener blasirten, todesverachtenden Generation, die, unselig fortschreitend, zur Armee des Nihilismus sich entwickelte. Der Dichter ist ein Seher.

Die seltsamsten Widersprüche waren in Puschkin’s Charakter vereinigt. Er jagte nicht nach der Gunst der Großen, aber auf seinen Adel war er fast in possenhafter Weise stolz; daß er mütterlicherseits von den spanischen Grafen Lerma abstamme, hätte ihm nur bestreiten dürfen, wer ihn beleidigen wollte. Daß ein Puschkin das Manifest, welches die Erhebung der Romanows auf den Czarenthron verkündete, mit einem Kreuze unterzeichnet hatte, erzählte er leuchtenden Auges, so oft sich nur in den Petersburger Salons Gelegenheit dazu bot. Sein Urahn Hannibal aber, ein Mohr, welchen Peter der Große ausbilden ließ und in der Folge zum General ernannte, war ihm allezeit ein Gegenstand kindischer Erinnerungsfreude; die Sehnsucht zog ihn immerdar nach Afrika, dem Mohrenlande, dessen Sonne das Blut seiner Vorfahren gekocht hatte.

Seine Natur beherbergte noch andere Räthsel. Er hatte auf dem Lyceum in Zarskoje-Selo wenig gelernt, so wenig, daß der berühmte polnische Dichter Adam Mickiewicz, der ihm in einer Petersburger Gesellschaft begegnete, über seine Unwissenheit nicht genug staunen konnte. Nachdem er aber zum Hofhistoriographen ernannt worden war, entwickelte er als Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber eine Thätigkeit, um die ihn ergraute Historiker offen beneideten. Er besaß nicht blos die Gewohnheiten, sondern auch die Bedürfnisse eines Cavaliers; er spielte hoch, ritt, focht und machte mit seinem Aeußeren Staat, obgleich er nicht gerade von imposanter Figur war. Als er bereits in ganz Rußland wie ein Heiliger verehrt wurde, vermochte er den Dämon des Spiels noch immer nicht von sich fernzuhalten. Fünf Rubel zahlte ihm sein Verleger für jede Zeile; wenn er am Spieltische alles Geld verloren hatte, warf er mit Bleistift Verse auf das Papier und machte mit ihnen seinen Einsatz. Aber dieser Cavalier hatte zugleich ein tiefes Verständniß für die Volksseele, und kein russischer Poet vor oder nach ihm hat mit gleich seinem Gehör dem Volksliede seinen Zauber abgelauscht. Er hat sich selbst ein Unrecht zugefügt, indem er, in der Gestalt des vornehmen Schriftstellers Tscharsky seine eigene Person dichterisch verkörpernd, von sich sagte, er wolle lieber als trivialer Weltmann denn als Literat erscheinen; er verliere sich in Kleinlichkeiten, an die bei einem begabten Manne kaum zu glauben sei; er stelle aus Eitelkeit den Spieler, Gastronomen und Sportsman vor, obgleich er sich nie der Trümpfe erinnere, insgeheim gebratene Kartoffeln allen Erfindungen der französischen Küche vorziehe und Gebirgsklepper gar nicht von arabischen Vollblutpferden zu unterscheiden vermöge. Das Gegentheil von alledem ist wahr, wie seine besten Zeitgenossen es bezeugen. Er hat sich wie ein Kind gefreut, als er während der Flitterwochen seiner verhängnißvollen Ehe so nahe bei Petersburg sich einnisten konnte, daß ihm der Gebrauch einer Equipage entbehrlich wurde, und was seine Vorliebe für die Franzosen betrifft, so ist es zwar gewiß und wiederholt von ihm bekannt worden, daß es ihm leichter war, Französisch als Russisch zu schreiben, aber es ist auch sicher, daß er starker nationaler Gefühle fähig war, wie jenes merkwürdige Gedicht „An Rußlands Verleumder“ beweist, in welchem er den Parteigängern Polens in Europa zurief:

„O schweigt! Für euch sind nicht geschrieben
Die blut’gen Tafeln der Geschichte;
Ihr seid dem Streite ferngeblieben
Und unbefähigt zum Gerichte.
Für euch sind Kremlin, Praga stumm;
Nach neuem Kampf seht ihr euch um -
Tollkühnes Wagen ist euch Lust;
Haß gegen uns füllt eure Brust.“

Hätten in seiner Seele nicht Widersprüche gewohnt, so wäre er auch kein Dichter gewesen. So paradox es klingen mag, es ist dennoch wahr, daß der Widerspruch in der Seele, die Dissonanz, welche zur harmonischen Auflösung drängt, das Geheimniß aller Poesie ist. Daß dieses Geheimniß in dem damaligen Rußland ein fürchterliches war, daß fast Alle, welche es besaßen, daran zu Grunde gingen, darin liegt eine Tragik von erschütternder Gewalt. Puschkin, der den Herbst liebte und vor dem jungen Frühlingsleben in der Natur sich scheu verhüllte, hat am 19. Februar 1837, im Alter von kaum achtunddreißig Jahre, mit seinem Blute bezahlt, was Rußland an seinen Dichtern sündigte; seine Freunde und Dichtergenossen, Lermontow, Kolzow, Gribojedow, starben wie er, fast bevor sie auf der Höhe des Mannesalters angelangt waren, in Noth, Verbannung, Zweikampf. Ihm schien ein besseres Loos beschieden zu sein; der Czar hielt seine wohlwollende Hand über ihm, und der Ruhm drängte sich zu ihm, wie ein Weib zu seinem Geliebten. Die ersten Gesänge seines Versromanes „Eugen Onägin“ wurden wie eine Offenbarung begrüßt; Hunderte von armen Teufeln fristeten ihr Leben damit, daß sie das Gedicht abschrieben, weil der Druck der ungeheuren Nachfrage nicht zu genügen vermochte. Aber das Elend faßte ihn an einer anderen, der verwundbarsten Stelle. Anonyme Briefe kamen ihm in’s Haus, deren niederträchtige Absender ihm zuraunten, daß sein Weib ihn betrüge. Die Eifersucht ging mit ihm straßauf und straßab; er vermochte vor peinigendem Argwohn nicht mehr zu essen, zu trinken, zu schlafen, und als er dem Zerstörer seines Glückes, dem französischen Gecken Dantes, auf die Spur gekommen zu sein glaubte, als er denselben vor die Mündung seiner Pistole citirte, war er es selbst, den der Tod von dannen rief. Rußland weinte bei dieser Kunde, und der Czar, ein eiserner Mann, war tief erschüttert. Der Familie des Dichters ward auf des Czars Befehl eine Jahrespension von elftausend Rubeln zugewiesen und zur Herstellung einer Gesammtausgabe der Werke Puschkin’s ein Betrag von dreißigtausend Rubeln bewilligt. Aber ausgelöscht ward dadurch die Schmach nicht, daß Rußland seinen besten Dichter nicht vor Elend und jähem Untergange hatte bewahren können, wie es fast alle seine Poeten vor- und seitdem selbst vernichtete, weil es sie allein und vereinsamt auf ihren Posten ließ, nicht zu ihrer Höhe empozuklimmen und in ihrem Glanze sich zu sonnen trachtete, sondern sie vielmehr herabzuzerren bemüht war in das dumpfe Elend, das der Staat über die Gesellschaft brachte und die Gesellschaft dem Staate mit stumpfer Apathie oder verzweifelter Auflehnung heimzahlte.

Und hier ist der Punkt, wo Puschkin’s Genie mit dem Nihilismus zusammenhängt, wen auch nur mit jenem resignirten Nihilismus, der zunächst nichts war als ein nagendes Bewußtsein der Ohnmacht, der Unfreiheit in Haus, Staat und Gesellschaft.

Als Puschkin noch auf dem Lyceum war, schrieb er mit Vorliebe französische Gedichte. In einem derselben entwarf er sein eigenes Portrait, und dabei entschlüpfte ihm folgendes Bekenntniß:

„Die bunten Feste liebe ich,
Schauspiele gleichfalls sehr;
Was noch ich lieb’, das schriebe ich,
Wenn ich nicht im Lyceum wär’.“

Wenn ich nicht im Lyceum wär’! … Vielleicht hätte es richtiger heißen sollen : wenn ich nicht in Rußland wäre! Denn [549] darauf kam die Sache hinaus, daß Niemand in Rußland sagen oder schreiben durfte, was er liebe. An Bildung und Erkenntniß mangelte es nicht; die Franzosen waren im Lande gewesen, und bald darauf die Russen in Frankreich; auf dem Wiener Congresse hatten die Repräsentanten der vornehmen russischen Welt Alles gekostet, was die Civilisation des Westens zu bieten vermochte. Der Czar selbst – Alexander der Erste – coquettirte mit dem Liberalismus, schwärmte für englische Verfassungszustände und spielte den Freisinnigen, bis die deutsche Russin Juliane von Krüdener ihn in ihren Netzen fing und mit den Nebeln einer mystischen Anschauung umgab. Damals hatte es einen Augenblick geschienen, als ob über Rußland die Sonne besserer Tage ihr Licht verbreiten wolle. Aber es war nur ein kurzer Traum; die ihn geträumt hatten, mußten es bitterlich büßen. Der Bund der Decabristen, welcher sich empörte, als Czar Nicolaus die Erbschaft Alexander’s übernahm, ward blutig zertreten. Hat Puschkin diesem Decabristenbunde angehört? Es ist darüber viel gestritten worden, und der Verdacht, daß er im entscheidenden Momente von dem Bunde abgefallen, ward allerdings dadurch bestärkt, daß man ihn geraume Zeit in den revolutionären russischen Kreisen als Renegaten ächtete. Allein es liegt keine Thatsache vor, aus welcher die Ueberzeugung geschöpft werden könnte, daß er in die Pläne und Absichten der Pastel, Bestuschew und Murawiew eingeweiht gewesen. Man rechnete eben nur auf ihn, wie man aller Orten auf [550] den Beistand der Dichter rechnet, wo um die Freiheit gegen den Despotismus gekämpft wird. Und dazu konnte man sich berechtigt erachten, da Puschkin kein Hehl daraus gemacht hatte, daß seine Seele von Freiheitssehnsncht erfüllt war.

Als achtzehnjähriger Jüngling war er aus dem Lyceum nach Petersburg gekommen, um dem Ministerium des Aeußeren zugetheilt zu werden. Er tanzte, schwärmte, flatterte wie ein Schmetterling um die Frauen her; man bewunderte seine gesellschaftlichen Talente, aber durch Arbeitssinn fiel er Niemandem auf. Um so mehr war man überrascht, als er sein Epos „Rußlan und Ludmilla“ veröffentlichte, welches sofort die hohe dichterische Begabung Puschkin’s außer Zweifel stellte. Noch größer aber wurde der Respect, als Epigramme voll Witz und Schärfe, Gedichte voll tiefer Empfindung, Freiheitslieder voll Gluth und Energie unter seinem Namen im Manuscripte von Hand zu Hand wanderten.

„Dieser Puschkin ist Einer von den Unseren,“ flüsterten die Revolutionäre einander zu; „er ist ein gefährliches Subject,“ decretirte der Czar, als ihm Puschkin’s „Ode an die Freiheit“ von höfischen Angebern zugetragen worden war. Und da derartige gefährliche Subjecte unter allen Umständen aus Petersburg entfernt wurden, so konnte auch Puschkin dem Schicksale der Verbannung nicht entgehen; man internirte ihn auf seinem Gute Michailowsk. Während er aber fern von der Hauptstadt im Exil lebte, erhoben sich die Decabristen und wurden niedergeschlagen, und als Nicolaus im Jahre 1826 zur Krönung nach Moskau kam, ließ er den Dichter durch einen Feldjäger zu sich entbieten, um ihm die Freiheit wiederzugeben. Das war Puschkin’s Antheil an der damaligen revolutionären Bewegung; er hatte durch seine Gedichte geholfen, sie vorzubereiten, aber der Verschwörung war er fern geblieben. Nun leuchtete die Gunst des Czars über seinem Haupte, aber ihn vollends zum Sclaven zu machen, war sie nicht im Stande. Er schwieg, da er nicht sagen durfte, was ihm das Herz bewegte. Der Czar berief ihn zu sich in den Winterpalast, um ihn zu fragen, was das beharrliche Stillschweigen seiner Muse bedeute.

„Sire,“ ankwortete der Dichter nach einigem Zögern, „ich will mit der Censur nichts zu schaffen haben.“

„Ist’s das, Alexander Sergejewiksch,“ sprach der Czar, „so werde fortan ich selbst Dein Censor sein.“

Und in der That gingen von dieser Zeit alle Manuscripte Puschkin’s durch die Hände des Czars.

Freilich war damals Alexander Puschkin kein Poet mehr, der dem Czarenthume gefährlich zu werden irgend eine Neigung in sich verspürte. Er hatte es aufgegeben, einen Kampf zu führen, in welchem rohe Gewalt ideale Forderungen niederhalten sollte. Aber die Thatsache, daß der Czar selbst seine Muse beaufsichtigte, hatte eine doppelte Wirkung: sie brachte ihn bei den Einen in den Ruf eines Abtrünnigen und erhöhte in den Augen der Anderen seinen Werth. Der Dichter ging mit dem König, aber als Geisel, nicht als freier Mann. Wer Augen hatte, um zu sehen, dem blieb die wahre Bedeutung dieses Schauspieles nicht verborgen: Nicolaus war zum Censor geworden, um die Poesie zu unterjochen; er wollte sie nicht zu fürchten haben; deshalb fesselte er sie unter dem Vorwande, sie versöhnen zu wollen.

Fürchtete er sie aber wirklich, dieser eherne Autokrat, dem niemals eine Anwandlung von Milde die Seele rührte? Nun, was Nicolaus empfand, das war nicht jene Furcht, welche eine Schwester der Feigheit ist, sondern die andere, mit der die Schlauheit ihre Wiege theilt. Auch hieß dasjenige, wovon Puschkin’s Muse eine Weile gesungen hatte, nicht Freiheitsdurst, sondern Weltschmerz. Von England war das Gespenst herübergekommen; es hatte trotz aller Wachsamkeit der Kosaken die Grenzen Rußlands überschritten. Wenn man es sich verkörperte, so glich es einem wunderschönen, leidenschaftlichen, in allen Tiefen und auf allen Höhen der Menschheit bewanderten Manne, der den Despoten und den Philistern trotzte, einem Manne, der, halb Faust und halb Don Juan, nicht einmal seinen hinkenden Fuß zu verbergen brauchte, um die Frauen an sich zu fesseln, der eiligst da war, wo Völker um ihre Freiheit stritten – dieses Gespenst war mit Einem Worte Lord Byron. Und Nicolaus sah ein, daß auch ein Czar ohnmächtig war, zu verhüten, daß die Jugend sich von dem britischen Lord verzaubern ließ, daß sie ihm trunken folgte auf den Pfaden seiner unerhörten Phantasie und in Verzückung nachlallte, was er ihr vorsang.

Auch war damals noch die russische Jugend empfindsam, den Eindrücken der Schönheit zugänglich; sie hatte, freilich nur innerhalb des Kreises, den als ungeheuerer äußerer Ring die stumpfe Masse der Leibeigenen umgab, an deutschen und französischen Dichtungen ihre geistigen Neigungen genährt. Heute ist diese Jugend roh, verkommen, mit unverdautem Wissensstoffe angefüllt. Damals schwur sie auf Voltaire, Jean-Jacques Rousseau, Schiller; heute kniet sie vor Bakunin, Lassalle. Damals erfuhr sie in den Lyceen die Wirkung classischer Studien, und wenn sie auch für Tacitus sich nicht begeistern durfte, so konnte sie an Ovid und Horaz sich unbehindert ergötzen. Heute wird sie durch eine Realschule gejagt, der es entweder an den unteren oder an den oberen Classen gebricht und die kein Recht besitzt, ihre Zöglinge der Hochschule zu übergeben; wenn sie diese Realschule absolvirt hat, so steht sie rathlos da, ohne Aussicht auf Amt und Beschäftigung, und als ein Glück muß es dieser ausgediente Realschüler ansehen, wenn er irgendwo in Dorf oder Stadt bei einem Friedensrichter als Schreiber ein Unterkommen findet. Damals war der Geblldete in Rußland zumeist auch der Reiche; henle ist der halbgeblldete Arme in der ungeheueren Mehrzahl. Und der Staat, der diese Halbbildung befördert, sorgt nicht einmal dafür, daß der Student bewahrt bleibe vor verfrühter Noth und Sorge; er erlaubt ihm, zu heirathen, noch bevor er die Universität verlassen – so reißt er mit sich auch ein Weib in Elend und Entbehrung.

Damals also flüchtete das Mißvergnügen sich in die Hülle des Weltschmerzes; es rang nach einem poetischen Ausdrucke. Heute nennt es sich Nihilismus, und durch dreiste politische oder socialistische Formeln hindurch grinst sein verzweifelter Blick den Staat, die Gesellschaft, die Familie an. Dieses Mißvergnügen war schüchtern, resignirt, als es dem Staate gegenüber keine andere Waffe zu schwingen vermochte, außer derjenigen des Verses oder der Philosophie; es ist herausfordernd und kühn geworden, seitdem es auf der Eisenbahn dahinbraust, mittelst des elektrischen Drahtes die Welt durchblitzen, auf dem Rücken des gedruckten Wortes in drei Tagen die Grenzen des gewaltigen Czarenreiches durchmessen darf.

Will man. nun das Verhältniß Alexander Puschkin’s zum Nihilismus bestimmen, so darf man wohl sagen, er repräsentire in der Entwickelungsgeschichte desselben das ästhetische Stadium, jenes nämlich, wo die Bewegung schlummert und ohne alle Tendenz, zwecklos, gleichsam um ihrer selbst willen sich bemerkbar macht, ja wo sie noch demjenigen, den sie erfaßt, nicht einmal zu vollem Bewußtsein kommt. Es muß als feststehend angesehen bleiben, daß der Kampf in Rußland sich, ganz wie anderswo, zunächst um das Recht der Persönlichkeit entspann und daß er in der Folge nur in dem Maße einen specifischen Charakter erhielt, in welchem die Art des Kampfes eine andere, dem slavischen Naturell der Kämpfer entsprechende wurde. Das Ringen um die persönlichen Berechtigungen hat aber von vornherein in seiner allgemein menschlichen Bedeutung etwas, das dem Poeten näher geht, als dem Politiker und Staatsökonomen. Je mehr Gewalt der Czar für sich in Anspruch nimmt und je brutaler seine Werkzeuge das Berechtigungsgebiet des Einzelnen – angeblich im Namen des Staates – verengern, desto eifersüchtiger trachten diejenigen, welche auf ihre Individualität nicht verzichten wollen, ihr „Menschenrecht“ zu wahren. Czar Nicolaus ist unter allen Czaren der größte Verächter des persönlichen Rechtes gewesen: er hat Iwan Turgenjew verbannt, weil dieser in einem Nachrufe von dem „großen“ Gogol gesprochen hatte. Als „groß“ sollte in Rußland nur der Czar zu gelten haben. Unter der nikolaitischen Regierung ist daher auch der Keim des Nihilismus gelegt worden.

Aber wo waren damals die Individualitäten in Rußland, welche sich zu wehren den Muth haben konnten? Unter dem Adel, der seitdem niemals aufgehört hat, an den Nihilismus sein Contingent abzugeben. Es war doch für einen Edelmann, der sich einen höheren Stammbaum als die Romanows vindicirte, auf die Dauer kaum erträglich, des Morgens über dem Voltaire, dem Byron, dem Schiller zu sitzen und des Nachmittags sich von einem Tschinownik „in des Czars Namen“ irgend ein persönliches Recht cassiren zu lassen. Es gab Niemanden unterhalb des Czars, der in irgend einem Augenblicke vor der Knute, vor der Deportation sicher war, und eine Sage erzählt, daß sogar Puschkin geknutet worden sei, als es sich darum handelte, ihm revolutionäre Neigungen auszutreiben. Zunächst also war die Bewegung eine wesentlich aristokratische, ihr Ziel, dem Czar und seinen Creaturen [551] gegenüber das Recht der Persönlichkeit zu wahren. Und zugleich war es eine Bewegung, die von der Jugend ausging; denn die Alten, in dem Rußland Katharina’s geboren und erzogen, hatten frühzeitig verzichten gelernt, wenn sie überhaupt jemals Etwas zu wünschen sich erdreistet hatten.

Karamsin, der Historiker, Derschawin und Schukowski, die Poeten der Vor-Puschkin’schen Generation, sprachen niemals von Freiheit, und Schukowski, der Hofpoet, wurde tatsächlich geistesirr, als er, von Deutschland heimkehrend, die daselbst empfangenen Eindrücke in sich zu verarbeiten suchte. Puschkin dagegen beruft sich nicht ohne Stolz auf den Dichter Lomonossow, welcher dem Grafen Schuwalow, als dieser sich mit ihm einen Scherz erlaubte, rund heraus erklärt hatte:

„Excellenz, ich will nicht blos keines irdischen Machthabers, sondern selbst nicht meines Heergottes Narr sein.“

Da ist der Ursprung des Kampfes. Und Puschkin selbst sagt dem Czar in’s Gesicht, er wolle lieber das Schreiben unterlassen, als die Censur dulden. Da ist die Resignation.

Und aussichtslos war bis auf Weiteres allerdings jede Auflehnung. Was konnte der Einzelne gegen die Macht des Czars aufbieten, hinter dem ein Wald von „todten Seelen“ in stummem Gehorsam stand? Mußte aber darum ein Puschkin nothwendig zum Sclaven werden? Nein, der Dichter ist allemal frei, zum mindesten in dem Reiche, das er sich selbst mit seiner Phantasie aufrichtet: die Gestalten, die er schafft sind ihm mehr unterthan, als die Leibeigenen dem Czar, und er darf zum mächtigsten Heerscher sagen:

„Mußt mir meine Hütte doch lassen stehn, die du nicht gebaut.“

So blieb Puschkin trotzalledem der Stärkere von den Beiden; die Lücken, welche Nicolaus mit dem Rothstift in seine Dichtungen riß, haben nur gezeigt, wo der Kaiser schwächer war als der Dichter. Und der Dichter hinwiederum bewies an seinen Gestalten, um wieviel besser er Rußland kannte als der Czar. Denn diese Gestalten sind lebendig, weil ihre Urbilder es ebenfalls waren. Puschkin ging dem nationalen Bedürfnisse nach, indem er die Sage und Geschichte seines Volkes mit seiner Phantasie durchdrang, von Boris Godunow, Pugatschew, dem Czar Saltan und von Pultawa erzählte; er achtete den Geschmack seiner russischen Zeitgenossen, indem er ihnen in der Novelle die „Capitainsbraut“ und in den Gedichten „das Räuberbrüderpaar“, „Graf Rulin“, „der Gefangene im Kaukasus“ Früchte seines Genius darbot, welche ihnen wie Leckerbissen munden mußten. Doch auch das Elend der Zeit fand seine Verkörperung in dem bereits erwähnten „Eugen Onägin“, diesem Muster aller problematischen Existenzen, diesem echten Repräsentanten des resignirten Nihilismus, der das Leben erschöpft, ohne seinen Werth zu erkennen, der den Tod sich wünscht, weil er neugierig ist, ob es auch in einer anderen Welt „so schal, ekel und unersprießlich“ ist.

Wie müßig ist es doch, darüber zu grübeln, welchen Antheil Lord Byrons Einfluß an diesem „Eugen Onägin“ hat, ob er ein echter Russe oder eine Composistion von westlichen und heimischen Substanzen sei! Leser von Literaturkenntniß denken, wenn sie diesen Onägin kennen lernen, gleichsam mechanisch an Don Juan, an Faust, an Hamlet und an Manfred. Aber er ist von alledem etwas, außerdem jedoch ein vornehmer Russe aus der nikolaistschen Zeit. Das aber bedeutet, daß er ein unnützer, ein überflüssiger Mensch ist, der lebt, weil er geboren wurde, lernt, weil er neugierig ist, den Frauen nachstellt, weil dies der Czar erlaubt, spielt, weil er sich die Langeweile vertreiben will, und im Duell einen Freund tödtet, obgleich ihm die Empfindlichkeit des in seiner Ehre verletzten Freundes eine sehr problematische Sache zu sein scheint. „Er lebt zu rasch und fühlt zu früh“, dieses Motto hat Puschkin seinem „Eugen Onägin“ mitgegeben. Ja wohl, Onägin ist längst ausgelebt, da noch in seinem Leibe die Lebenskraft eines Riesen steckt; die Frage ist nur, warum er sich so früh ausgelebt hat. Warum? Hätte ihm der Staat erlaubt, seinem Leben einen ernsten Inhalt zu geben, es nach seiner eigenen Weise zu gestalten und mit einem dankenswerthen öffentlichen Wirken auszufüllen, so wäre ihm sein Lebenstag langsamer dahingeflossen und fruchtbarer. Aber der Staat hatte eine offene Pforte nur für diejenigen, die an sclavischem Gehorsam Gefallen fanden, und dazu war „Eugen Onägin“ nicht gemacht. Er zählte zu der Masse von Leuten, welche sich für zu gut hielten, dem Staate bedingungslos ihre Persönlichkeit dahinzugeben, und dann zu schlecht wurden, um ihrer Persönlichkeit ein freies Stück Dasein zu erobern. Was er um sich her mit seinen Augen schaute, war Elend, Knechtschaft, Corruption; er mochte zuerst glauben, es werde besser werden, vielleicht morgen, übermorgen, in einem Jahre. Und er wartete, die Zeit bei dem Knalle von Champagnerpfropsen, in den Armen lüsterner Weiber sich verkürzend, philosophirend, dichtend, am Kartentische sich in Leidenschaft verzehrend. Aber es ward nicht besser.

„Sagt mir, ihr friedlichen Gewalten,
Wo meine gold’ne Jugend blieb!
Was wird der nächste Tag mir bringen?
Mein Auge, ach! kann nicht durchdringen,
Was sich verhüllt im Graun der Nacht.“

Er konnte sogar tugendhaft sein, dieser Eugen Onägin; er konnte die schöne Tatjana, die sich ihm an den Hals warf, moralisirend zurückweisen und sich des poetischen Freundes Wladimir Lansky erfreuen, der ein echter Schwärmer war.

„Wladimir Lansky, von Gemüthe
Göttinger Bursch’, der in der Blüthe
Der Hoffnung und des Lebens stehst,
Verehrer Kant’s ist und Poet.
Aus Deutschlands Nebeln kam er wieder
Mit Früchten der Gelehrsamkeit,
Freiheitsideen unsrer Zeit.“

Aber es änderte sich nichts um ihn her, und es dünkte ihm zuletzt, daß es sehr gleichgültig sei, ob man gut oder schlecht ist, ein honettes Leben führt oder sein Vermögen verlottert.

Und so wird Onägin, nach Puschkin’s eigenen Worten, zum „Product der Gesellschaft und der Sitten seiner Zeit, zerfressen von der Moralkrankheit, an der sein Geschlecht dahinsiecht“. Der Dichter selbst aber entläßt ihn mit einem traurigen Bekenntniß, das er zum Schlusse dem Leser macht:

„Das Leben nahm mir viel, ja viel!
Heil dem, der früh sich abgewendet
Vom Lebensfest und, klug belehrt,
Das Glas nicht bis zum Grunde leert,
Seinen Roman nicht ganz beendet,
Den rechten Augenblick ersehn
Zum Schluß, wie ich mit Freund Eugen.“

Der schauerliche Roman des Nihilismus war noch nicht über die erster Capitel hinaus gediehen, als Puschkiu seinem Volke diesen „Eugen Onägin“ vorführte. Die Blasirtheit ist nicht gefährlich, die Resignation nicht bedrohlich. Aber es werden sich weitere Capitel anfügen und „Eugen Onägin“ wird aufhören, sich mit Wein, Würfeln und Weibern zu bescheiden; er wird den Staat fragen: Was hast du aus mir gemacht? Und die Antwort wird ein Faustschlag sein, der sein Gesicht entstellt. Dann wird Eugen Onägin’s Seele sich mit Wut und Tücke erfüllen; er wird zuerst insgeheim knirschen und auf Rache sinnen, wenn aber die Zeit gekommen ist, wie ein Rasender an dem Staate rütteln. So wird der resignirte Nihilist sich in einen nihilistischen Mörder verwandeln, verhärtet in seinem Gemüthe durch das Gefühl einer fünfzig Jahre lang empfundenen Schmach. Und dann wird der Czar umsonst Censor sein wollen; denn „Eugen Onägin“ wird Solowiew, Scheliabow, Kibaltschitsch heißen, und neben ihm wird nicht mehr die sanfte, schöne Tatjana schreiten, sondern ein Weib von ganz anderer Art, eine Wjera Sassulitsch, eine Sophie Perowski.

Nicht künstlich hergestellt, sondern geschichtlich geworden ist dieser Zusammenhang; nicht ohne Bedacht ist Alexander Sergejewitsch Puschkin als der Vorläufer des Nihilismus bezeichnet worden. Käme es darauf an, die Geschichte des Nihilismus in fortlaufender Darstellung von Ursache und Folge zu erzählen, so müßte es ein Kleines sein, bei jedem hervorragenden Dichter nach Puschkin einen „Eugen Onägin“ nachzuweisen; freilich würde man ihn fortgeschritten finden in dem Willen und der Fähigkeit, dem Staate seine Sünden heimzuzahlen; denn das ist das Vorrecht der Dichtung, daß sie die Wirklichkeit begleitet, bisweilen wie ein Commentar, öfter aber noch wie ein Spiegel.

Hätte Czar Nicolaus, anstatt sich als Censor über den Dichter zu setzen, in den Spiegel geschaut, den ihm Puschkin vorhielt, so wäre seinem Sohne das furchtbare Schicksal, das ihn am Katharina-Canal ereilte, vielleicht erspart geblieben. Mit dem „Eugen Onägin“ von damals hätte sich eine Versöhnung finden lassen; ob sie mit [552] den Nihilisten von heute noch zu erreichen ist, wird Manchem zweifelhaft erscheinen.

Das aber ist gewiß, daß jener despotische Czar, welcher der Dichtung Fesseln anlegen wollte, indem er den Dichter mit seiner Huld überschüttete, sich über die Dauer seines Werkes ebenso gröblich getäuscht hat, wie über die tiefere Bedeutung der Gedichte Puschkin’s; denn als wäre er auf ihn gewendet, so klingt noch heute der Vers Puschkin’s:

„Ein Denkmal hab’ ich mir in meinem Volk gegründet;
Nicht Menschenhand erschuf’s; kein Gras bewächst den Pfad;
Doch stolzer ragt es auf als jenes, das verkündet
     Napoleon’sche Ruhmesthat.“