Neuere Studien über Wiclif

Textdaten
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Autor: Johann Loserth
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Titel: Neuere Studien über Wiclif
Untertitel:
aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 9 (1893), S. 111–113.
Herausgeber: Ludwig Quidde
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr
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Erscheinungsort: Freiburg i. Br.
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Quelle: Scans auf Commons
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[111] Neuere Studien über Wiclif. Wer jene Studien überblickt, die seit den letzten vier Jahrhunderten über das Leben und die Lehren Wiclif’s auf Englischer Erde erschienen sind, der muss wohl sagen, dass Alt-England diesen „Morgenstern der Reformation“, wie es ihn heute gern nennt, bis auf die letzten zwei Jahrzehnte herab in einer geradezu seltsamen Weise vernachlässigt hat. Wenn man bedenkt, dass von der so grossen Zahl der hervorragenderen Lateinischen Schriften Wiclif’s bis in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts keine einzige – ausser dem Trialogus – gedruckt war und auch dieser bis 1869 nur in zwei ganz unzulänglichen Ausgaben vorlag, so wird man begreifen, dass auch die darstellenden Werke über Wiclif, selbst die eines Lewis, Vaughan u. s. w., bis dahin recht bedeutungslos waren. Man hielt sich eben allein an den Trialogus und einige vereinzelte äussere Zeugnisse über das Leben und Wirken Wiclif’s und liess die handschriftlichen Materialien, die freilich über viele Orte verstreut waren, abseits liegen.

Unter den Engländern trat zuerst der Oxforder Professor Walter Waddington Shirley mit einigen bedeutenden Wiclifstudien auf. Im Jahre 1858 veröffentlichte er die dem Thomas Netter von Walden, dem bekannten Gegner der Wiclif’schen Theologie zugeschriebenen „Fasciculi zizanniorum magistri Johannis Wyclif cum tritico“, dann liess er 1865 als reifste Frucht seiner Studien den Catalogue of the original Works of John Wyclif erscheinen – die grundlegende Vorarbeit zu einer kritischen Gesammtausgabe der Werke Wiclif’s. Der Katalog enthält ein vollständiges Verzeichniss aller Lateinischen und Englischen Schriften Wiclif’s, der vorhandenen sowohl als jener, die als verloren bezeichnet werden, der echten sowohl als auch jener, die ihm fälschlich zugeschrieben werden. Den Werth dieser Arbeit wird man ermessen, wenn man bedenkt, dass die Zahl der erhaltenen Lateinischen Schriften Wiclif’s nicht weniger als 96, die der Englischen [112] 65 beträgt, und dass es unter diesen Werke gibt, die, wie z. B. einzelne Theile aus der Summa Theologiae, wohl mehr als 40 Druckbogen (in 8°) umfassen dürften, andere wieder, die in den Handschriften nicht als Werke Wiclif’s bezeichnet waren. Durchforscht wurden die Handschriften des Britischen Museums und des Lambeth Colleg, die der verschiedenen Collegien zu Cambridge, Oxford, Dublin, Lincoln und der Bibliotheken von Paris, Prag und Wien, sowie einiger Privatbibliotheken, namentlich der des Earl von Ashburnham. Einiges ist Shirley allerdings noch entgangen. Aber der Grund zu den folgenden Arbeiten war doch gelegt.

Noch der eindringlichen Anregung Shirley’s war es zu verdanken, dass in Oxford eine Commission zusammen trat, welche die Ausgabe ausgewählter Werke Wiclif’s in Angriff nahm. Da sich diese aber mehr von sprachlichen und literarhistorischen als von theologischen und historischen Gesichtspunkten leiten liess, so blieben die Lateinischen Schriften Wiclif’s liegen und es wurden zunächst die Englischen Predigten und einzelne Englische Tractate exegetischen, didactischen und polemischen Inhalts durch Thomas Arnold publicirt (Select English Works of John Wyclif), denen 1879 ein Neudruck der Englischen Bibelübersetzung des Neuen Testaments und 1880 Matthew’s Ausgabe von The English Works of Wyclif folgten; die letztere enthalt nicht weniger als 38 Schriften Wiclif’s. Matthew ist einer der hervorragendsten Kenner der Wiclif’schen Theologie auf Englischem Boden und ohne seine opferwillige, hingebende Thätigkeit hätten die Arbeiten der Wyclif Society nicht in so rascher Folge erscheinen können, als es der Fall ist.

Ziemlich gleichzeitig mit Shirley nahm Gotthard Lechler in Leipzig das Studium der Wiclif’schen Theologie in Angriff und liess alsbald selbst so tüchtige Vorgänger wie Böhringer u. A. hinter sich. Als erste Frucht seiner Studien liess er 1863 die kleine aber wichtige Schrift Wiclif’s De officio pastorali erscheinen, der sechs Jahre später die kritische Ausgabe des Trialogus cum supplemento folgte. Diesen Arbeiten schloss sich dann die grundlegende Arbeit „Johann von Wiclif“ (2 Bde., 1873) an, die auch in England volle Anerkennung fand und bis jetzt 2 Auflagen in Englischer Sprache erlebt hat. – Nach Lechler trat R. Buddensieg in Dresden zunächst mit einer Ausgabe der zwar kleinen aber sehr gehaltvollen Wiclif’schen Schrift De Christo et suo adversario Antichristo auf den Plan (1880). Ihr folgte (1883) die grosse Ausgabe der Lateinischen Streitschriften, die 26 Schriften Wiclif’s meist aus dessen letzten Jahren enthält.

Inzwischen war in England ein Ereigniss eingetreten, das den Wiclifstudien einen mächtigen Impuls gab. Die 500jährige Feier des [113] Todestages Wiclif’s (1884) stand bevor. Man dachte anfänglich daran, dem Reformator ein Denkmal zu setzen, einigte sich aber schon 1882 dahin, dass eine Wiclifgesellschaft gegründet werde, welche die Ausgabe der sämmtlichen Lateinischen Werke Wiclif’s in Angriff nehmen sollte.

Die Publicationen der Gesellschaft, auch die erst in Vorbereitung begriffenen, sind im vorigen Heft dieser Zeitschrift unter den „Nachrichten“ aufgezählt worden. Man sieht daraus, wie die Gesellschaft unter der Leitung F. J. Furnivall’s, M. Burrow’s und F. D. Matthew’s trotz geringer Mittel ihre Aufgabe rüstig gefördert hat. Von der Gesellschaft wurden jährlich meist 2 Bände Dank dem besonderen Entgegenkommen der betheiligten Forscher ausgegeben. Neben den Engländern selbst (Harris, Matthew, Lane Poole, Pollard, Sayle) und sogar mit erheblich stärkeren Beiträgen als sie, sind besonders die Deutschen Fachgenossen hier vertreten (R. Beer, Buddensieg, Herzberg-Fränkel, Loserth, Schnabel); ausser ihnen haben noch der Pole Dziewicki und der Czeche Patera mitgearbeitet.

Mit diesen Arbeiten der Wiclif-Society stehen andere in mehr oder weniger enger Verbindung (s. meine Aufsätze „Neuere Erscheinungen der Wiclif-Literatur“ in der HZ Bd. LIII und LXII). Erst jetzt, nachdem die Hauptmasse der bahnbrechenden Werke Wiclif’s gedruckt vorliegt, ist man in der Lage, seine Bedeutung vollkommen zu ermessen, seinen Werdegang zu schildern und den Einfluss genau festzustellen, den er auf das Hussitenthum genommen. Wie man einerseits heute bereits auf die Vorgänger Wiclif’s Rücksicht nimmt, ist aus Poole’s Ausgabe von De Dominio Divino zu ersehen, wo im Anhange das berühmte Werk des Richard von Armagh De pauperie Salvatoris abgedruckt ist. In welcher Weise andererseits Hus und die Taboriten von Wiclif abhängen, habe ich bei jedem der von mir edirten Werke Wiclif’s bis ins Einzelne erwiesen. Es ergibt sich, dass Hus bis in die geringfügigsten Dinge die Lehren seines Meisters wortgetreu aufgenommen hat. Selbst das nationale Moment, das im Husitenthume eine so bedeutende Rolle spielt, geht auf Wiclif zurück. Dass die Taboritenlehre im Wesentlichen mit jener Wiclif’s identisch ist, habe ich in meiner Ausgabe von Wiclif’s De Eucharistia nachgewiesen.

J. Loserth.