Nächtliche Wanderung durch das Berliner Aquarium
Die Mitternachtsstunde klang noch vom Berliner Rathhause her durch die immer stiller werdenden „Linden“, als wir, zwei einsame Nachtwanderer, jeder mit einer verborgenen Blendlaterne bewaffnet, auf den Zehen schleichend und jedes Geräusch und Gespräch vermeidend, in einer der letzten Aprilnächte ein seltsames Vorhaben ausführten. Den Leser wird bei diesem Eingange ein Schauer überlaufen. Eine Criminalgeschichte? – Weit gefehlt! Was er erfahren wird, ist harmloserer Natur. Durch tägliche Beobachtungen im Berliner Aquarium (Vergl. Jahrg. 1873, Nr. 10) angeregt, hatte ich mir schon oft die Frage vorgelegt: Welche Erscheinungen bietet dieses Thier-Heim in der Nacht, das heißt wie und wo schlafen die Thiere, beziehentlich: schlafen sie überhaupt? Ich trug meinen Wunsch, diese Frage durch eigene Beobachtung zu lösen dem Director des Aquariums, Dr. Hermes vor, und fand bei ihm in liebenswürdigster Weise Gehör und Zustimmung, wir verabredeten, in einer mondhellen Nacht eine Wanderung durch die Räume des interessanten Institutes anzutreten. Heute nun sollte das Vorhaben ausgeführt werden.
Es war mir recht eigenthümlich um das Herz, als sich die schweren eisernen Thore hinter uns schlossen, um uns einer wahrhaft ägyptischen Finsterniß zu überlassen. Mehrere Minuten vergingen, ehe das Auge im Stande war, auch nur die schwächsten Contouren zu entdecken; doch ällmählich begann es zu dämmern. Drohenden Giganten gleich schienen die in den fabelhaftesten Formen aufgebauten Felsstücke und Tropfsteinbildungen den zudringlichen Wanderern den Eingang versperren zu wollen. Wie wenn aus dem tausendjährigen Gestein, das gewaltsam dem mütterlichen Schooße der Erde entrissen und hier aufgethürmt wurde, Gnomen und Bergmännchen hervorgeschlüpft kämen, um nach unserm Begehr zu fragen?
Doch es bleibt todtenstill, nur aus weiter Ferne erklingt das murmelnde Plätschern des Wasserfalles der „Geologischen Grotte“ zu uns herüber; lautlos tasten wir uns durch die labyrinthischen Gänge und bleiben vor dem Käfig des Wasch- und des Nasenbären stehen. Bei diesen Thieren, wie bei allen anderen, beobachteten wir das Verfahren, erst im Dunkel der Nacht zu lauschen und so viel als möglich zu beobachten, um dann plötzlich den Lichtschein unserer bis dahin verborgenen Laternen zur Anwendung zu bringen. Die beiden Bären schlafen in einem an der Wand angebrachten Kasten, doch kaum ist der Behälter erleuchtet, als auch schon der Waschbär seinen Kopf mit größter Vorsicht über den Rand seines „Bettes“ erhebt und mit leuchtenden, unheimlichen Blicke nach uns herüberlugt. Minutenlang bleibt er versteinert in dieser Situation, bewegungslos sucht er unsere Gestalten, hinter denen lange riesenhafte Schatten an den Felswänden hinhuschen, zu ergründen, der Nasenbär liegt zusammengerollt in einem Winkel und hat offenbar keine Ahnung von der Aufregung und Angst seines Gefährten. Wir wenden uns leise zu dem Affenhause. In den verschiedensten Stellungen haben sich die Vierhänder zur Ruhe gebettet. Eine kleine Meerkatze sitzt auf dem Tische (die Wohnung ist, beiläufig gesagt, ganz „menschlich“ eingerichtet) und hat in melancholischer Stellung den Kopf an die Wand gelehnt; die Hände in dem Schooße, macht das Thier den unbeschreiblich komischen Eindruck eines sentimentalen Büßers. Andere hocken in Stroh und weichen Sägespähnen; befreundete Seelen haben sich fest umschlungen und schlafen und träumen gemeinschaftlich.
Jetzt trifft die Schläfer der Strahl unserer Lichter. Verwundert schauen sie auf, verbleiben aber regungslos. Keiner macht den Versuch aufzustehen und dem Grunde der nächtliche Störung nachzuforschen. Aehnliche Resultate ergeben sich fast bei allen schlafenden Säugethieren; es scheint, als übe der nächtliche Ueberfall unsererseits eine magische und bannende Wirkung aus, gegen deren Kraft ihnen eine Auflehnung unmöglich dünkt. Die fliegenden Hunde hängen still an der Decke, sehen uns zwar mit ihren großen schwarzen Augen erschrocken an, verrathen aber sonst keine Zeichen innerer Bewegung. Das eine der beiden Faulthiere hat uns gewiß schon längst gewittert, denn inmitten des Halbdunkels hat es sich erhoben, stützt seine mächtigen Krallen auf den untern Rand des Käfigs und steckt die Nase durch das Gitter. Die plötzlich erhobenen Laternen machen indeß nicht den geringsten Eindruck auf das uns blöde anstarrende Thier, dessen Genosse zusammengerollt auf einem Felsvorsprunge unbekümmert schläft. Wir finden den Prairiehund (Arctomys Ludovicianus) vor seiner Steinwohnung; schon lange sind die regelmäßigen Sprünge und Schritte des mit der größten Geschäftigkeit hin und her eilenden Thieres vom Missouri an unser Ohr gedrungen. Auch das Flatterhörnchen (Pteromys volans), ein echtes Nachtthier aus den Steppen Rußlands und Sibiriens, ist lebendig und springt, respective fliegt unruhig in den dürren Zweigen des in seinem Käfige aufgestellten Bäumches umher. Ebenso sind die beiden in einem geräumigen Becken einquartierten Biber in voller Thätigkeit; das Männchen durchzieht lautlos die Oberfläche und den Grund des Wassers; das Weibchen ist im Begriff, sein scharfes Nagethiergebiß mit weithin vernehmlichem Geräusch an der Rinde eines Baumstammes zu versuchen. Die plötzliche Illumination ihrer Grotte läßt sie zwar eine Augenblick stutzen, doch geht Jeder im nächsten Moment wieder seiner Beschäftigung nach.
Doch nun zu der gefiederten Welt! In den großen, auf das Praktischeste eingerichteten Volièren sitzen die Gestalten der zahlreichen ausländischen und einheimischen Vögel. Während am Tage hundertstimmiger Gesang und unentwirrbares Geschrei die Luft erfüllte, gebaut, geliebt, gezankt und mit dem Nebenbuhler gekämpft wurde, hat jetzt der süße Schlaf sich über alle Parteien gebreitet; der älteste Groll ist vergessen, und nur leise und traumhaft ertönt hier und da ein bald verstummender Gesang. Ob nicht in der That manches der reizenden Geschöpfe jetzt der Freiheit und des sonnigen Vaterlandes gedenkt und sich zurücksehnt in die heimatlichen Wälder? Dort sitzen auf einem Aste, in der Nähe ihrer kunstvoll gestrickten Nester, gegen dreißig Goldweber; die Köpfchen unter die Flügel gesteckt, machen sie den Eindruck von Früchten auf einem blätterlosen Baume. Jenes dunkle Häuschen auf dem langen Zweige sind lauter gute Bekannte: Fink, Meise, Zeisig, Stieglitz, Hänfling, Grasmücke, Rothkehlchen, Nachtigall, Lerche und Bachstelze. Hier hocken schlummernd Drosseln, Staare, Gimpel und Goldbrüstchen in Gesellschaft von Wellensittichen, Rosenpapageien und andern fremdländischen Vogelarten – ein wahrhaft internationales Schlafhaus.
Auf einem Steine an der immer rieselnden Wasserquelle sitzen Flußregenpfeifer und Wiesenpiper; in den schönsten Reflexen erglänzt das Gefieder der Blauheher, Glanzdrosseln und Stahlfinken; Sichler und Ibis verschmähen jede Bequemlichkeit und schlafen, wie noch viele andere ihrer Sippe, auf einem Beine. An dem Wasserfalle der „geologischen Grotte“ bemerken wir in derselben Situation unseren Freund, den Storch – er ist erwacht; auf seinem silbernen Oberschnabel[1] erglänzt in seltsamer Weise der [347] Widerschein des Lichtes; zu seinen Füßen ruht dicht am Rande des Wassers eine Gesellschaft von Enten; oben auf den Felsvorsprüngen stehen Sturm-, Silber- und Lachmöven.
Einen unheimlichen Anblick gewährt das Becken der großen Saurier. Die riesigen Alligatoren, Krokodile aller Größen schwimmen in dem erwärmten Wasser, aus dem nur Augen und Nasenlöcher hervorsehen; das Licht übt keinen Eindruck auf sie aus, ebenso wenig wie auf die große Gesellschaft Schildkröten, von denen viele ganz unter dem Wasser sind, während andere auf dem trockenen Gesteine liegen. Die fremden und heimischen Eidechsen entdeckten wir nach langem Suchen auf den Zweigen und Aesten der in dem Käfige grünenden Gewächse; die Stellungen, welche diese zierlichen und leider von Vielen mit Unrecht gefürchteten Geschöpfe während der Ruhe einnahmen, waren höchst eigenthümlicher Art. Einige schienen, während sie den senkrechten Stamm hinauf liefen, wie jene Thiere in dem Märchen vom „Dornröschen“, vom Zauberschlafe überrascht worden zu sein und hingen mit ausgespreizten Beinen kopfüber oder kopfunter an der Baumrinde; andere lagerten drei- und vierfach über einander auf einem schwankenden wagerechten Aste – von unserer Anwesenheit nahm keines der Thiere irgend welche Notiz. Die Schlangen gaben zu den verschiedensten Beobachtungen Veranlassung; die meisten derselben schliefen zusammengerollt auf dem Sande des Käfigs; die Riesenschlange befand sich indeß in voller Lebensthätigkeit, sie umkreiste in unverkennbarer Aufregung ihren Behälter, stieg bis in die Mitte desselben in die Höhe und hatte es auf der Jagd nach einer feisten Ratte erst so weit gebracht, ihrem Opfer den Schwanz abzubeißen. Die Klapperschlange eilte auf die Laterne zu, während einige Nattern trotz der ziemlich nahe gerückten Beleuchtung regungslos verblieben.
Ein überaus interessantes Bild boten die eigentlichen Fisch-Aquarien. Die Frage: Wie und wann schlafen die Fische? muß nach den von uns beobachteten Erscheinungen verschiedenartig beantwortet werden. Deutlich bemerkte wir in der Dunkelheit, wie in den einzelnen Becken Schlaf und Wachen gleichmäßig vertheilt war. Der riesengroße Seeaal schlängelte sich schwerfällig an den dicken Scheiben entlang; Dorsche und Flundern jagten munter umher, von den übrigen: Fluß- und Kaulbarsch, Karausche, Schleie, Karpfen, Goldstrichbrasse, Seehase, Stör, Seeäsche, Wittling, Hecht und Anderen, befand sich ein Theil in voller Lebendigkeit, der andere lag still und ohne Bewegung der Flosse auf dem Grunde des Bassins unter Steinen oder auf zurücktretenden Felsplatten. Die schlafenden Seehasen (Cyclopterus) hatten sich mit ihren Saugtheilen an den Glaswänden oder dem Granitgestein festgeheftet, um der Ruhe zu pflegen. Eigenthümlich wirkte auf sie die plötzliche Lichterscheinung; die Mehrzahl der Schläfer erwachte und schwamm neugierig herbei, um den unerwarteten Besuch lange anzuglotzen; die zahlreichen Haie, Dornhaie (Acanthias vulgaris) und Hundshai (Scyllina canicula) schlossen ihre katzenähnlichen Augen und blieben ruhig, dagegen kam über eine große Sippe von Seescorpionen (Ancanthias scorpio) ein wahres Entsetzen; in sichtlicher Angst durchschossen sie das Element, sich gegenseitig überrennend; andere wühlten sich in großer Aufregung in den Sand, sodaß kleine Steine und Geröll mit lautem Geräusch an die Glas- und Felswände schlugen, bis schließlich das ganze Becken in undurchdringliches Grau gehüllt war. Einen überraschenden Anblick gewährten die von unserer Laterne bestrahlten Krustenthiere, die „Insecten des Meeres“'. Aus dem Schlafe aufgeschreckt, kommen die Hummern von dem Felsgebirge heruntergestelzt; ihnen folgen Krebse, Krabben, Pfeilschwanzkrebse und Seespinnen, um sich das Kerzenlicht in nächster Nähe zu besehen; hierbei machen wir die merkwürdige Beobachtung, daß die gestielten Augen der Kruster glühwürmchenähnlich leuchten. Einige furchtsame Individuen lassen die beiden Feuerpünktchen unter einem dunklen Stein hervorglänzen, als säße dort das nächtliche Gelichter von Katzen und Eulen.
Ein Bild, wie es reizvoller im ganzen weite Naturreiche nicht wiedergefunden werden dürfte, bot das Becken mit den Hunderten von Garneelen (Garnaten, Crangon vulgare). Diese kleinen, fast glasartig durchsichtigen Krebschen zogen sich, als sie die Lichtflamme erblickten, in die hinteren dunkeln Regionen ihres Heims zurück. Dort lagerten sie in dichten Schaaren beisammen am Boden, von wo die unzähligen glühenden Doppelpünktchen ihres Sehorgans wie der gestirnte Himmel einer Tropenacht zu uns herüber leuchteten. Plötzlich, wie auf ein verabredetes Zeichen, stürzt das feurige Heer nach vorn, um die Lichtquelle zu erstürmen, tritt aber ebenso schnell den Rückzug wieder an. Wohl eine halbe Stunde sahen wir dem reizenden Treiben zu und konnten uns nur mit Mühe davon losreißen. Der vielbewunderte Tintenfisch (Octopus vulgaris) entwand sich einen Moment der selbstgebauten Steinburg, streckte fühlend seine Fangarme nach uns aus, zog sich aber bald furchtsam mit blitzenden Augen zurück. Wenn schon das Schauspiel der Garneelen mich in freudiges Erstaunen versetzt hatte, so wurden wir zu lauter Bewunderung hingerissen, als wir vor dem Becken der Quallen und Polypen standen. Die Goethe’schen Worte durchzitterten meine Seele:
„Ihr alle fühlt geheimes Wirken
Der ewig waltenden Natur,
Und aus den untersten Bezirken
Schwingt sich heraus lebend’ge Spur.“
Wie aus der Nacht zum Licht erstandene feenhafte Zaubergärten breitet es sich vor unseren Auge aus; aus weißem Marmorgestein entwachsen jene fabelhaften Blumengebilde, die wir gern in das Pflanzenreich einreihen möchten: die Erdbeerrose (Actinia mesembrianthemum) , die schimmernde Seenelke (Actinoloba dianthus), die blaßröthliche Petrushand (Lobaria palmata), Gürtel-, Faden-, Höhlen-, Wittwen- und Edelsteinrose, dazwischen Seestern und Seeigel – alle wetteifern an phantastischer Pracht und Lieblichkeit der Formen. Einige bewegen die fadenförmigen langen Fangarme träumerisch dem Lichte entgegen; andere verleugnen den Thiercharacter vollständig und gleichen auf das Täuschendste den freundlichen Kindern aus Wald und Flur. Durch die als Spiegel nach unten wirkende stille Oberfläche des Wassers, die in der darüber liegenden Nacht eine wirksame Folie erhält, erscheint das märchenhafte Gefilde doppelt und schimmert von oben als schwebende Gärten auf uns hernieder.
Die zweite Morgenstunde war längst vorüber, als sich uns die Pforten wieder öffneten. Der Schlaf, in dessen Reich wir neugierig eingedrungen waren, schien rächend mich für diesmal fliehen zu wollen, und lange noch umgaukelte mich die Bilder dieser nächtlichen Wanderung.
- ↑ Dieser Storch wurde dem Aquarium vor einem Jahre mit abgesplittertem Oberschnabel überbracht, eine kundige Hand ersetzte ihm denselben durch einen silbernen, mit dem er sich seit jener Zeit sichtlich wohl befindet.