Mutterliebe (Lavant)
„Was suchst du in der Einsamkeit
Mit deinem Kinde, junge Mutter,
Von jeder Menschenhilfe weit?"
Für ihre Kuh ein wenig Futter.
Empor auf schmalen steilen Steigen,
Bis sie an wildem Abgrund stand –
Rings kahle Höh'n und tiefes Schweigen.
Hier pocht kein drittes Menschenherz,
Nur sie mit Schmeichellaut und Scherz
Spricht bei der Arbeit zu dem Kinde.
Zu ihr empor wie leises Rieseln,
Wie Uhrgetick der Fall von Kieseln.
Nur über Schnee und Nagelflue
Läßt achtlos sie die Blicke schweifen –
Aus weiter Ferne ab und zu
Und in den Schlummer lullt ihr Kind
Der Wasser monotones Fallen,
Der frische, kühle Morgenwind
Und ferner Herdenglocken Hallen.
Ein Schrei der Angst, ein Schrei des Zornes -
Die Adlermutter schießt herbei
Vom höchsten Punkt des nächsten Hornes,
Denn eine Spalte in der Wand,
Sie birgt, wo Keiner noch ihn fand,
Den Horst und in dem Horst ihr Junges.
Nun hoffe nicht, daß dich die Flucht
Hinab zur nächsten Hütte trage!
Der Aar mit mächt'gem Flügelschlage.
Du mußt der zweiten Mutter stehn,
Dem Fangesschlag, dem Schnabelhiebe -
Du mußt in ihren Augen sehn,
Stark ist dein Arm, der sehnenstraffe,
Und nun mit raschem Griff gepackt
Die Sichel, deine einz'ge Waffe!
Vor jähem Sturz ins Reich der Grüfte –
So triff sie sicher denn und gut,
Die Räuberkönigin der Lüfte!
Und wenn sich unter deinem Stoß
Wie sinkt sie, noch im Fallen groß,
Das stolze Schwingenpaar gebreitet!
Auf Steinen, zackig, rauh und kahl,
Wird in der Schlucht ihr Leib gebettet –
Du und dein Kind, durch dich gerettet!
Anmerkungen (Wikisource)
Ebenfalls abgedruckt in:
- Illustrirter Deutscher Jugendschatz. Eine Festgabe für Knaben, Jünglinge, Mädchen und Jungfrauen. Hrsg. Hasenclever, Verlag Leipzig: E. Thiele, 1.Auflage 1887, 2.Auflage 1893, Seite 158/159.
- Lichtstrahlen der Poesie. Gedichtsammlung. Ausgewählt von Max Kegel. Illustriert von Otto Emil Lau.1890.S.150-153. digital
- Neue Illustrirte Zeitung für Gabelsberger'sche Stenographen. 7. Jahrgang, 1891, Nr.7, Seite 100.
- Lavant, Rudolf (d. i. Richard Cramer): Gedichte. Hrsg. v. Hans Uhlig. Berlin, Akademie Verlag 1965 (Seite 64).