Meister George Bährs Tod
← Aus dem Leben Moritz Retzschs | Meister George Bährs Tod (1896) von Otto Richter Erschienen in: Dresdner Geschichtsblätter Band 1 (1892 bis 1896) |
Rubens „Urtheil Salomonis“ im Stadtmuseum → |
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext. |
Von dem Erbauer unsrer herrlichen Frauenkirche, dem Rathszimmermeister George Bähr, geht die Sage, daß er sich, des fortwährenden Kampfes um die Durchführung seines Werkes müde, durch Herabstürzen vom Baugerüste selbst den Tod gegeben habe. Wer das qualvolle Ringen kannte, zu dem der große Künstler durch die Mißgunst seiner Neider und den Kleinmuth seiner Gönner verurtheilt war, dem mochte ein solches ergreifendes Ende seines mühereichen Lebens nicht von vornherein unglaubhaft erscheinen. Da aber nie Jemand auch nur das geringste zur Begründung dieser Sage hatte beibringen können, würde sie allmählich doch wohl in Vergessenheit gerathen sein, wäre sie nicht aufgefrischt worden durch das Ergebniß der am 12. und 14. Juli 1854 erfolgten Aushebung der Gebeine Bährs auf dem Johanniskirchhofe. In der Absicht, seine irdischen Reste in die Katakomben der Frauenkirche überzuführen, öffnete man damals ein Grab, das als das seinige galt, und fand darin ein Gerippe, von dem der Schädel über der rechten Augenhöhlung einen vier Centimeter breiten Bruch zeigte und auch drei Rippen gebrochen waren. Es schien also mit dem Sturze seine volle Richtigkeit zu haben.
Demgegenüber hat aber bereits unser einstiges Vereinsmitglied Advokat Karl Gautsch in einem Vortrage am 8. Januar 1875 (s. Dresdner Anzeiger vom 18. Juni 1875) ausgeführt, daß die Nachricht von dem Sturze Bährs nichts als eine Sage sei, die erst hundert Jahre nach seinem Tode auftauche, während die gleichzeitigen Nachrichten eines solchen Ereignisses mit keiner Silbe gedächten. Die „Dresdnischen Merkwürdigkeiten“, eine Zeitschrift, die sich einen so aufsehenerregenden Fall sicher nicht hätte entgehen lassen, berichten in der Märznummer des Jahres 1738 ganz einfach: „Den 16. Mart. starb allhier der bekannte Architectus und Raths-Zimmermeister, Herr George Bähr, im hohen Alter, welcher Baumeister von hiesiger neuen Frauen-Kirch gewesen.“ Die Inschrift auf dem Grabdenkmale lautet auch nur dahin, daß er „seelig“ gestorben sei, und ebenso giebt die amtliche Nachricht im Thurmknopfe der Frauenkirche den Todestag ohne jede Andeutung eines außergewöhnlichen Vorfalles an. Wenn nun sogar auch der Chronist Hasche, der doch sonst gern auf Grund mündlicher Ueberlieferung berichtet, 1784 in seinem „Versuch einer Dresdner Kunstgeschichte“ (Magazin der sächs. Geschichte I, 158) Bährs Leben kurz erzählt und ihn als einen der größten Baumeister feiert, ohne auch nur ein Wort von einem unnatürlichen Tode zu sagen, so ist dies der sicherste Beweis dafür, daß damals die Fabel von dem Sturze noch nicht erfunden war. Erst im Jahre 1834 taucht sie sonderbarerweise in den vom Stadtrath K. A. Friedrich verfaßten „Nachrichten über die Erbauung der Frauenkirche“ (S. 26) auf, die doch im Uebrigen aktenmäßig und zuverlässig sind. Schon 1841 bemächtigt sich ein Novellist (J. P. Lyser) und 1857 ein zweiter (Fr. Lubojatzky) des dankbaren Stoffes. Gegenüber jenem Ausgrabungsergebniß aber warf Gautsch mit Recht die Frage auf, ob denn die gefundenen Gebeine wirklich diejenigen Bährs waren?
Trotz alledem hat Richard Steche, auf weiter nichts als den von dem Maler Professor Bähr, einem Nachkommen des Meisters, aufgenommenen Ausgrabungsbericht gestützt, die Sage von dem Sturze Bährs für [282] geschichtliche Wahrheit genommen, wenn er auch nicht an Selbstmord, sondern nur an einen Unglücksfall glauben will, da Bähr zu einer Zeit, wo der bestrittenste Theil seines Werkes, die Kuppel, glücklich vollendet war, keinen Grund zur Verzweiflung mehr haben konnte (Die Bauten von Dresden S. 95). Leider ist ihm hierin auch Jean Louis Sponsel gefolgt, indem er auf Seite 63 seiner ausgezeichneten quellenmäßigen Baugeschichte der Frauenkirche (Dresden, bei Wilhelm Baensch, 1893) berichtet: „Am 16. März des Jahres 1738 erhob sich der 72jährige Greis zum letzten Male von seinem Krankenlager, um das Werk seines Lebens noch einmal zu besuchen. Ob ihn nur die Absicht, den Bau einer nochmaligen Prüfung zu unterwerfen, um gegen die zu erwartenden Angriffe gewappnet zu sein, oder ob ihn andere Gründe dorthin führten, können wir heute nicht entscheiden. Durch einen Sturz von dem Baugerüste erlitt der Künstler einen schweren Schädelbruch und endete noch an demselben Tage in seiner Wohnung sein thatenreiches und schwergeprüftes Leben.“
Ich habe es von jeher bedauert, daß auf ein ganz unbeglaubigtes Gerücht hin das Andenken des trefflichen Meisters mit dem Verdachte des Selbstmordes belastet war. Jetzt aber, wo zu befürchten ist, daß, auf die Autorität Sponsels gestützt, alle Handbücher der Kunstgeschichte den Sturz Bährs als Thatsache behandeln werden, erschien es mir geradezu als Pflicht, der Sache einmal auf den Grund zu gehen. Meine Nachforschungen nach bisher unbekannten Nachrichten über das Ende des Künstlers sind nicht erfolglos gewesen. Zunächst fand ich in den Rathsprotokollen (Rathsarchiv A. II. 1001. Bl. 200b.) unterm 8. März 1738 folgende Niederschrift:
- „Des alten Rathszimmermeister Bährens Abschieds-Schreiben, darinn er zugleich vor seinen Vetter Joh. Georg Schmieden, und sein Weib und 6 unerzogene Kinder bittet – abgelesen.“
Das Abschieds- und Bittschreiben selbst ist uns leider nicht erhalten, aber als eine Folge davon muß offenbar ein Rathsbeschluß betrachtet werden, wonach ihm noch an demselben Tage für verschiedene Modelle und Risse (vgl. Sponsel S. 121) eine Vergütung von 50 Thalern bewilligt wurde. Dieser Beschluß findet sich nicht im Rathsprotokoll, sondern auf einem besonderen Blatte, das den Belegen zur Kämmereirechnung für 1737/38 unter Ausgabekapitel 38 Nr. 17 einverleibt ist; er lautet:
- „Nachdem der Zimmermeister George Bähr zeithero verschiedene Modelle und Riße vor uns verfertiget, und nicht allein Leuthe dazu gebrauchen, sondern auch besondern Aufwand thun müßen: Als sind demselben aus unsrer Cämmerey Funfzig Thaler zu bezahlen, und Kraft dieses behörig in Ausgabe zu verschreiben. Zumahln er solcher bey seiner langwierigen lagerhaften Krankheit vornehmlich bedürffig ist.
- Dreßden am 8. Martii 1738.
Unter dieser Rathsverordnung befindet sich auf demselben Blatte folgender, von Bähr drei Tage vor seinem Tode mit zitternder Hand unterzeichnete Quittungsvermerk:
- „Vorherstehende Funffzig Thaler habe aus E. Edl. Raths Cämmerey richtig erhalten, und wird darueber mit Danck quittiret. Dreßden den 13. Martzii 1738.
Weiter verzeichnet das erwähnte Rathsprotokoll auf Bl. 201 unterm 11. März 1738 folgenden Beschluß:
- „Verordnung in die Cämmerey wegen Erlaßung derer Zinsen dem Zimmermeister George Bähren von seim schuldig gewesenen Capitale a 400 Thlr. in die Cämmerey vom 25. Oct. 1736 bis izo in Betracht seiner Kranckheit und bishero ex officio gethanen Diensten.“
Die hier beschlossene Verordnung vom 11. März ist als erstes Blatt in dem Belegbande zur Kämmereirechnung auf 1737/38 eingeheftet und lautet dahin, daß, nachdem Bährn auf sein Ansuchen die fraglichen rückständigen Zinsen „in Ansehung verschiedener vor uns zeithero gefertigten Riße und Modelle, auch dabey adhibirten Leuthe und selbst gethanen Aufwands bey fortwehrender seiner Kranckheit erlassen“ worden, die Obligation gegen Abtragung des Kapitals ihm auszuhändigen sei.
Aus diesen Schriftstücken geht vor allem unwiderleglich hervor, daß Bähr wegen Alter und Krankheit acht Tage vor seinem Tode in aller Form seinen Abschied als Rathszimmermeister nahm. Er hatte nach diesem Ausscheiden aus dem Amte keine Veranlassung mehr, den Bau der Frauenkirche „einer nochmaligen Prüfung zu unterwerfen“ und die Gerüste zu besteigen, selbst wenn die noch als fortdauernd bezeugte „lagerhafte Krankheit“ ihm dies gestattet hätte. Dies dürfte schon genügen, um die Erzählung von einem Sturze Bährs als unglaubhaft erscheinen zu lassen. Volle Gewißheit freilich über die Ursache seines Todes könnten nur die Kirchenbücher geben und diese sind leider beim Brande der Kreuzkirche im Jahre 1760 zu Grunde gegangen – so glaubte man bisher und hatte auch Recht, soweit es sich um die eigentlichen Kirchenbücher handelt. Aber es gab beim Rathe eine Sammlung von Listen über die Getauften, Getrauten und Begrabenen, die ihm die Kirchner der hiesigen Parochien allwöchentlich einzureichen hatten. Diese Kirchennachrichten [283] – Wochenauszüge aus den Kirchenbüchern – sind im Rathsarchive in einer Bändereihe vom Jahre 1762 ab aufgestellt; seit Jahrzehnten wußte niemand etwas davon, daß jemals ältere vorhanden gewesen seien. Erst kürzlich ließ mich ein glücklicher Zufall Schriftstücke auffinden, aus denen hervorging, daß eine ältere Reihe dieser Kirchennachrichten von 1703 bis 1760 als Ersatz für die verbrannten Kirchenbücher auf Antrag des Kirchners im Jahre 1862 an die Kreuzkirche abgegeben worden war. Im Wechsel der Zeiten und der Personen war dort das Vorhandensein dieser werthvollen Bände in Vergessenheit gerathen und jetzt erst sind sie auf meine Veranlassung wieder hervorgezogen worden. Da findet sich denn unter den am 20. März 1738 Begrabenen verzeichnet:
„H. George Bähr, E. Hoch Edl. Raths Baumeister, ein Ehem. 72 Jahr, an Steckfl. und Verzehrung, See G. in eigen Hause. – St. Joh.“
Also langsame Auszehrung und Stickfluß, nicht ein jäher Sturz vom Baugerüste hat den Meister getödtet! Und der Mann mit geborstenem Schädel und zerbrochenen Rippen, den man mit Bährs Denkmal in den Katakomben der Frauenkirche feierlich beigesetzt hat? Irgend ein armer Verunglückter, der zufällig neben Bähr seine Ruhestätte gefunden hatte und dem man sie nun auch unter seinem Bauwerke weiter gönnen möge! Nur wäre es jetzt wohl an der Zeit, das interessante Grabdenkmal aus dem Dunkel der Katakomben wieder herauszuheben und dem Meister zu Ehren für Jedermann sichtbar in oder an der Kirche aufzustellen.
Schließlich möge noch die Frage berührt werden, wie die Fabel von dem Sturze Bährs hat entstehen können. Auch sie läßt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit beantworten. Am 29. August 1730 früh 7 Uhr stürzte sich ein Baron Melchior Ernst von Kröcher, in Altendresden wohnhaft, 40 Ellen hoch vom Gerüst der Frauenkirche herab und blieb zerschmettert liegen. Der Selbstmord dieses verarmten Adeligen – man fand bei ihm nur noch 2 Dreier – machte natürlich großes Aufsehen und blieb dem Volke lange in Erinnerung. Nach hundert Jahren war aber nicht mehr sein Name, sondern nur noch die Thatsache bekannt, daß sich während des Kirchenbaues Einer vom Gerüst herabgestürzt hatte. Dazu wußte man von den Widerwärtigkeiten, mit denen der Erbauer der Kirche zu kämpfen gehabt hatte – und so lag es um so näher, den Sturz ihm anzudichten, als es überhaupt ein uralter Zug der Volkssage ist, daß sie die Schöpfer großer Bauwerke bei deren Ausführung ein tragisches Ende finden läßt.