Mein erster Hase
Der alte Gottfried Horn, einstiger Hirt und Flurwächter eines meiner Jugendstätte nahgelegenen Haidedorfes, hatte mich, der ich damals ein kaum zwölfjähriges Bürschchen war, sehr liebgewonnen, und ich vergalt ihm Gleiches mit Gleichem. Draußen, unter freiem Himmel, auf waldumschlossener Trift, wo mein wetterharter Kämpe jahraus, jahrein seinen täglichen Dienst verrichtete, namentlich aber zur Herbstzeit regelmäßig den Schatz seiner armen Gemeinde hütete, hatten wir uns gefunden und dabei Freundschaft geschlossen. So kam es denn, daß ich manch liebe Stunde, ja halbe Tage lang mit meinem alten „Hornfriede“, wie ihn die Leute schlichtweg nannten, durch Feld und Haide zog. Am liebsten aber vertrat ich ihn in seinem Hirtenamte. Während ich dann die Peitsche schwang, schlief der Biedere gemüthlich in seiner Hürde, ich aber hatte das Gefühl einer stolzen Wonne, durfte ich doch selbstständig und ganz wie ein ordentlicher Hirte ausgerüstet die mir anvertraute Hammelschaar über weite Stoppeläcker und Wiesen zur würzigen Brache geleiten. An stillen, sonnigen Spätherbsttagen, wenn noch die letzten Sommerfäden die milddurchwärmte Luft durchzogen, war das eine wahre Lust.
Eine nicht mindere Herzensfreude war es, konnte ich ein andermal bei meinem Alten vor der Strohhütte sitzen, welche er sich zu seiner Feldwacht, weit ab von jedem Weg und Steg, am Saume der Haide errichtet hatte. Hier, am harzigduftenden Waldhange, unter dem Schirme hoher Föhren, lauschte ich oft mit wahrer Andacht seinen Erzählungen aus dem eigenen Leben, wie den Belehrungen, die ich durch seine Naturschilderungen von Wald und Wild und allerhand Gethiere empfing. Einstmals aber weihte mich mein origineller Genosse sogar in die volle Praxis des edlen Waidwerks ein. Dies kam also:
Zu bereits später Nachmittagsstunde – es war einer jener zaubervollen, halbverschleierten Octobertage, die mich von jeher mit wahrer Zugvogelsehnsucht nach Hinaus erfüllten – war ich wieder einmal dem elterlichen Hause entwischt, um den hereinbrechenden Abend im Walde, am Feuerchen meines Alten zuzubringen. In purpurner Pracht war soeben die Sonne hinter dem Wipfelmeere der weiten Haide niedergetaucht und schon ward die erste dünne Mondsichel am Abendhimmel dem scharfen Auge sichtbar, als ich mich meinem Ziele nahte. Lautlos durch das Gehölz schreitend, das die ersehnte traute Hütte deckte, überraschte ich beim Heraustreten aus demselben meinen Freund in einer von mir nicht geahnten Lage. Mit einer plumpen, rostüberzogenen Flinte bewaffnet, stand er vor seinem Obdach und spähte unverrückten Auges durch die Lücken des vor ihm liegenden Stangenholzes nach der dahinter sich ausbreitenden Ackerflur, und bald ward ich auch den Gegenstand seines Ausluges gewahr – ein Hase war’s, der zwar noch weit im Felde, also viel über Schußweite hinaus, seinen [687] lauernden Blick fesselte. Leise schlich ich jetzt bis zur Baracke heran, und nun erst, durch das Knacken eines Aestchens unter meinem Fuße auf mein Kommen aufmerksam gemacht, ward mich Freund „Hornfriede“, nicht ohne sichtbaren Schreck, gewahr. Doch schnell gefaßt, winkte er mich stumm zu sich heran, und gern folgte ich diesem Gebote, trieb mich doch schon die angeregte Neugier mit aller Macht dazu, denn noch niemals hatte ich meinen Gönner bei solchem verdächtigen Thun erschaut. Noch mehr aber steigerte sich mein Interesse für den entpuppten Strauchritter und sein frevles Vorhaben, als mir dieser zu meiner kaum in die Grenzen der Ruhe zu bannenden Freude flüsternd erklärte: jener „Stiefelknecht“, mit welchem Ausdruck er den in’s Auge gefaßten Hasen bezeichnete, käme schon noch näher heran, und dann solle – ich ihn schießen! Ich!!
Mit fieberhafter Aufregung betrachtete ich von jetzt ab Mosje Lampe, den auf grünem Rübenacker noch so fröhlich Aeßenden. Wie durch Zauber hingezogen starrte mein Auge auf das mir verheißene Opfer. Inzwischen näherte der nichts ahnende Langlöffel sich mir zu meinem wahrhaft dämonischen Behagen mehr und mehr, wenn auch, meinem heißen Verlangen nach, noch viel zu langsam. Freilich, wäre es allein auf mich angekommen, ich hätte getrost schon die Donnerbüchse nach dem Säumigen abgebrannt. Doch dem stummen, aber so beredten Geheiß meines heutigen Jagdherrn zum weiteren Abwarten mußte ich mich wohl oder übel fügen; hatte ich doch das Gewehr, um mich durch dessen Last nicht vorzeitig zu erschlaffen, noch nicht einmal in meine Hand bekommen. Endlich versetzte sich der Springinsfeld nach ein paar noch recht lustigen Seitenschnellern rasch und ohne weiteren Umweg auf ein saftig grünes Kleeplätzchen, das dicht an ein vor uns liegendes Stück Rodeland anstieß, und war somit nun wirklich auf Schußweite in meinem Bereich. Jetzt erst schob mir mein vorsichtiger Lehrherr leise und mit höchst bezeichnender Geberde die mir bis dahin vorenthaltene Flinte in die Hand und bedeutete mich dabei, gut zu zielen und dann zu schießen.
[688] Noch weiß ich heute nicht, wie ich das schwere Eisen an den Kopf gebracht, und nur das ist mir unverlöschbar im Gedächtniß geblieben, daß, nachdem mein Ohr noch einen leisen Pfiff aus dem Munde meines Gönners vernommen und der Hase daraufhin ein hochaufgerichtetes Männchen gemacht, ich furchtlos auf mein Ziel Feuer gegeben, dabei aber von dem Stoß der wahrscheinlich überladen gewesenen Kartaune beinahe zur Erde geworfen worden wäre. In der kurzen Frist, in welcher ich in regungsloser Befangenheit verharrte, war „Hornfriede“ schon der Wahlstatt zugeeilt und brachte – mir zur unbeschreiblichen Freude – von dort her den von mir also wirklich Niedergestreckten zur Hütte.
„Dunnerwetter, Du Mordsjunge hantirst ja mit so ’ner Spritze gerade wie ein Alter,“ belobte mich der von meinem Erfolg höchst befriedigte Anstifter meiner eben ganz harmlos ausgeführten „Blaupfeiferei“. Ich aber konnte mich nicht satt sehen an der gewonnenen weißbäuchigen Beute.
„Hornfriede“ warf sofort nach geschehener That den noch warmen Lampe aus und zog ihm auch gleich die Jacke herunter, wie er das Abstreifen des Balges nannte, bei welcher Gelegenheit er mir alle Handgriffe dieser Fertigkeit zeigte.
„Nu paß’ mal uff, Du Blitzkröte,“ erklärte er dabei, „daß Du so’n Karnutschge ooch einmal richtig abziehen lernst! Zuerst,“ fuhr er fort, „nimmst Du das Beest also so her und stichst ihm ein Loch hinger der Flechse in das eene Hingerbeen, um daran den ‚Krummen‘ an einen Ast oder sonst einen Haken hübsch aufhängen zu können. – So!“ – Und nun streifte er, nachdem er alles Gesagte auch gleichzeitig vor meinen Augen ausgeführt hatte, höchst geschickt, und wie ich erst später beurtheilen lernte, auch ganz waidgerecht, den Frischgeschossenen ab, verbarg darauf den Balg in seiner Hütte mit größter Vorsicht, wobei er mir zugleich ernstlichst verbot, hierüber, wie überhaupt über die ganze Geschichte, gegen irgend Jemand zu sprechen. Dann vergrub er auch das Gescheide, setzte Wasser an’s Feuer und steckte das nackende Wildpret, mit dem Kopfe, aus welchem noch die großen bloßgelegten, fischgelben „Lichter“ glotzten, zu unterst gekehrt, in ein Kochgeschirr. Nachdem er noch eine Hand voll Salz hinzugeworfen, ließ er den also Zugesetzten, dessen „Hingerbeene“ weit über den Topfrand herausstarrten, ruhig etwa zwei Stunden in der siedenden Brühe brodeln, nach welcher Zeit er das gar nicht übel duftende Gericht in einer großen irdenen Schüssel auftischte.
Himmel, welch’ eine Enttäuschung ward mir aber nun beim Genusse dieses Mahles! Hatte ich doch im elterlichen Hause oft genug, wenn von gutem Essen die Rede war, einen saftigen Hasenbraten rühmen hören, ohne daß mir bis dahin ein so kostspieliges Gericht auf unserem Tische vor Augen gekommen wäre. Und nun ein solches Hunde-Essen! „Hornfriede“ hatte dem „neunhäutigen“ Hasen diese ganze Anzahl der bekannten blauen Lederüberzüge höchst pietätvoll auf dem Leibe belassen! Eine gute Zumuthung an meine Zähne und – meinen Magen! Darum heute noch Fluch diesem Cannibalenschmause, dagegen dankbares Gedenken der mir unvergeßlichen Erlegung meines ersten Hasen!