Mein alter Cantor
[151] Mein alter Cantor. (Abbildung S. 141.) Der Anblick des alten Gesanglehrers, den unsere Illustration uns vorstellt, ruft mir eine liebe Erinnerung und damit das Bild eines Mannes in’s Gedächtniß zurück, die beide wohl verdienen der Vergessenheit entrissen zu werden. Er war Lehrer in einem großen Kirchdorfe, und gerade in der Stellung, wie unsere Abbildung sie zeigt, in der Singstunde, beobachtete ich ihn manchmal. Auch er half mit seiner Geige den Singenden gern pizzicando (die Saiten mit den Fingern schnippend) nach; wenn aber bei falschen Tönen dies und die Stimme nicht durchdrang, dann strich er mit dem Bogen, wie auch unser Gesanglehrer thun wird, wenn er dem d-Ton seiner Schüler, der ihm mißrathen erscheint, kräftiger nachhelfen will.
Ich lernte meinen alten Freund in seinem Dorfe zu Anfang der fünfziger Jahre kennen, wo er schon „der alte Herr Cantor“ hieß. Bekanntlich ist dies die höchste Ehrenstaffel, die ein Dorfschullehrer erreichen kann. Auf der untersten Staffel hieß er ehedem „Präceptor“: er versah als solcher die Lehrerstelle in einem kleinen oder armen Dorfe und genoß den Wandeltisch, das heißt er aß zu Mittag bei den Bauern Tag um Tag oder Woche um Woche die Reihe herum. Vom „Präceptor“ avancirte er zum „Lehrer“, früher „Schulmeister“, wenn er eine auf dem Lande immer mit dem Organisten- und Cantordienst verbundene Schulstelle erhielt, die auch eine Frau mit ernährte; dann heirathete er auch sogleich. Wenn er nun diese Aemter lange genug mit Auszeichnung versehen, meistens aber erst, wenn er sein fünfzigjähriges Lehrerjubiläum und damit ein Alter erreicht hatte, daß er kaum noch singen konnte, erhielt er den Titel „Cantor“. Letzteres ist wohl noch jetzt üblich.
Auch eine Art Classeneintheilung bestand in der Dorfschule, und zwar in der Weise, daß die einzelnen Classen nach dem jedesmaligen Hauptlesegegenstande bezeichnet wurden. Ich kenne sie genau, da ich selbst meine ersten Schülerjahre in einer noch dörflich eingerichteten Stadtschule zubrachte. Alle Kinder, Knaben und Mädchen in einem Raume, kamen erst in’s ABC-Buch, um das Lesen zu lernen, natürlich nach der Buchstabirmethode. Bankweise erscholl das a, b – ab, e, b – eb, i, b – ib, o, b – ob, u, b – ub, b, a – ba, b, e – be etc. Es war ein hartes Stück Arbeit; ich konnte im achten Jahre noch nicht lesen. – Aus dem ABC-Buch kam man in den Katechismus, aus diesem in die Psalmen, dann in’s neue, zuletzt in’s alte Testament, und dann – aus der Schule.
Mein alter Cantor hatte bereits die Lautirmethode eingeführt, und zwar nicht ohne schweren Kampf mit seinen Bauern, die daheim bei dem Ueben ihrer Kinder im Lesen die Hände über die Köpfe zusammenschlugen ob dem neumodischen Unsinn. Als sie aber doch gewahr wurden, in wie kurzer Zeit ihre Kinder besser lesen konnten, als sie, versöhnten sie sich mit dieser Neuerung ihres Herrn Cantors.
Einstmals traf ich denselben in einer an ihm ganz ungewohnten trüben Stimmung. Seine Schule machte ihm Sorgen, mehr um der Eltern als um der Kinder willen.
„In unserm Dorf,“ sagte er, „ist’s gut leben, aber für mich würde es der Himmel auf der Welt sein, wenn ich Eines erreichen könnte. Unsere Gemeinde ist wohlhabend, und unsere Bauern haben ihre Freude an der Lustbarkeit, wie sie sich ausdrücken. Dabei sind sie nicht etwa leichtsinnig; sie sind fleißig und tüchtige Haushalter, und weil sie ihr Zeug zusammenhalten, haben sie’s auch übrig, wenn sie einmal hinausschlagen wollen. Auch gutmüthig sind sie. Sehen Sie dorthin, da haben Sie gleich ein Beispiel!“ (Ein baumstarker Bauer tänzelte trällernd mit einem etwa einjährigen Kinde, das er zärtlich in den Armen hielt, die Straße hin.) „So sind sie Alle. So lange die Kinder klein und unbehülflich und noch wie ein Spielzeug für sie sind, möchten sie sie vor Liebe fressen. Aber kaum haben sie Mädel oder Buben – das ist einerlei – in die Schule geführt, so ist das wie mit einem Schnitt vorbei. Gerade als ob sie jetzt dem Schulmeister allein angehörten, wenden sie sich von ihnen ab, behandeln sie gleichgültig. Es ist kaum glaublich, so ein Wechsel. Die Mütter sind freilich anders, aber sie sind geplagt von früh bis Nacht, im Stall, in der Küche, auf dem Felde; sie können’s nicht ermachen. Und so kommen die Kinder oft ungewaschen und ungekämmt und so schmutzig in die Schule, wie sie sich auf der Gasse herumgebalgt haben. Soll ich die Kinder strafen für das, was sie nicht allein verschulden? Darum sage ich Ihnen, Herr Doctor, was ich meine: ich verlange mehr Achtung der Eltern vor den Kindern. Sie müssen allezeit eine Gottesgabe in ihnen sehen – sonst wird’s nicht besser in meiner Schule. Das ist’s, und nun denken Sie darüber nach, ob Sie mir helfen können!“
Mein Nachdenken allein hätte dem Mann schwerlich geholfen, aber das Glück war uns diesmal hold und that es. Kommt da, kurze Zeit nach jener Unterredung, der Buchhändler Conrad Glaser von Schleusingen, allen Liedertäflern Deutschlands als Verleger zahlreicher Männergesangsstücke bekannt, über den Berg herüber zu mir nach Hildburghausen, wo ich damals lebte, und macht mir den Antrag, für den Componisten Julius Otto in Dresden etwas Aehnliches, wie dessen „Gesellenfahrten“ und „Burschenfahrten“ – Declamation mit Gesang – für Kinderchöre zu liefern. Da stand im Geiste der alte Cantor vor mir – ich sagte zu und schrieb als erstes unserer „Kinderfeste“ das „Schulfest“. Text, Composition und Herstellung wurden in verhältnißmäßig sehr kurzer Zeit fertig – und das erste Exemplar von Text und Partitur adressirte ich, nur mit der Frage im Briefe: „Ist das vielleicht eine Hülfe?“, an meinen alten Cantor. – Ebenso lakonisch lautete seine umgehende Antwort: „Ja! Aber nun kommen Sie bald! Ich brauche mehr.“
Nach vierzehn Tagen kam ich. Ich hatte ihm die Zeit meiner Ankunft geschrieben, und er war mir ein großes Stück Weges entgegen gegangen, „um mir sein Herz auszuschütten“. Ich übergehe das freudvolle Uebermaß seines Lobes und Dankes: Beides verstand sich ja von selbst in diesem absonderlichen Falle. „Aber,“ fuhr er fort, „ich brauche noch mehr. Ich muß der Wirkung dieser ersten Aufführung sicher sein. Um die Weiber sorg’ ich mich nicht; die haben alle nahe an’s Wasser gebaut und werden bald genug mit dem Schürzenzipfel an die Augen fahren.“ (Der Schürzenzipfel vertritt bei den Frauen auf dem Lande oft die Stelle des Taschentuches.) „Aber unter den Mannsbildern habe ich harte Klötze, die schwer zu erweichen sind. Und da habe ich einen Plan: Sie dichten mir zwölf kurze Versle, die lasse ich vor der Aufführung von zwölf als Engel verkleideten Kindern declamiren, und dazu nehme ich gerade die Kinder der gröbsten Klötze. Reden Sie mir nichts drein! Sagen Sie ‚Ja!‘“
Ich schüttelte zwar den Kopf, aber ich sagte „Ja!“ Am Nachmittag (ich kam immer nur an Sonntagen in das Dorf) setzten wir uns zusammen unter die schöne Eiche im Pfarrgarten, um die „Versle“ herzustellen, und jetzt ging mir bald ein helleres Licht über seinen Plan auf. Er legte die Liste der zwölf Kinder vor sich hin und führte nun bei jedem Kinde ein Ereigniß in der Familie an, das in den Vers desselben eingewebt werden mußte. Dem Einen war ein Knabe, dem Andern ein Mädchen geboren; Der hatte einen Sohn verlobt, Jener eine Tochter glücklich verheirathet; Einem war der Vater, einem Andern ein Kind gestorben; Einer hatte eine Erbschaft gemacht und dadurch Gottes Segen erfahren, und so weiter. Wie ich ihm nun die Verschen, Blatt um Blatt mit Bleistift geschrieben, hinschob, leuchteten seine alten Augen immer prächtiger, und als das Dutzend voll war, umarmte er mich und eilte mit seinem Schatze fort, kehrte aber zurück, um mich himmelhoch zu bitten, ja gegen Jedermann von der Sache zu schweigen, auch im Pfarrhause, wo er selbst das Geheimniß verrathen werde; denn die Pfarrfamilie müsse ihm doch beim Einüben der Declamationen helfen.
Die Einübung eines solchen Feststückes, wenn es auch nur zehn Gesänge und dreizehn Declamationen umfaßt, nimmt bei Dorfschulkindern viel Zeit und noch mehr Eifer und Geduld in Anspruch, und wenn der kühne Unternehmer auch im Pfarrhause die trefflichste Unterstützung für die Declamationen gefunden hatte, so mußten doch vor Allem die Chöre und Soli beweisen, daß er den Cantortitel nicht blos als Ehre, sondern mit Recht trug. Der Tag der Aufführung konnte endlich, und zwar für die Zeit, wo die Ernte eingebracht war, fest bestimmt werden, und so fand ich mich denn pünktlich dazu ein.
Das ganze Dorf war in freudiger Erregung; nur mein alter Cantor war bedenklich: die groben Klötze hatten im Wirthshaus über die neue Neumodischkeit mit einer solchen Kindersingerei gespottet, und Niemand hatte einen Widerspruch dagegen gewagt. Indeß strömten die Erwachsenen von allen Seiten dem Wirthshaus zu, auch „Freundschaft“ von den Nachbardörfern dabei, und bald war der Saal des Wirthshauses gefüllt, und die Kinder harrten im Schulhause, um in festlichem Zuge an ihren Platz geführt zu werden.
Da fuhr plötzlich ein Schrecken durch die Versammlung und über die Gasse bis in die Schule. Der große Flügel aus dem Pfarrhause konnte auf der schmalen Treppe nicht in den Saal gebracht werden, und ohne dieses einzige Instrument im Dorf war die Aufführung unmöglich. Der alte Cantor stand wie vernichtet da, wahrend die schadenfrohen Klötze laut auflachten und sich die groben Fäuste rieben. Aber die energische Frau Wirthin hatte drei Kinder zum Singen und eins zum Declamiren dabei: das Fest mußte gefeiert werden. Rasch jagte sie ein paar Maurer und Zimmerleute aus der Gesellschaft heim, ihr Handwerkszeug zu holen, und bald sahen wir diese auf der Gartenseite des Saals die Wand des Hauses durchbrechen, bis das Loch groß genug war, um den Pfarrflügel auf Leitern glücklich in den Saal hinauf zu bringen. Ein Bretterverschlag deckte die Oeffnung; es war Alles gut; die Kinder standen an ihrem Platz, in vier Gruppen, die kleinen Mädchen und die kleinen Knaben rechts, die großen Mädchen und die großen Knaben links, der Flügel in der Mitte – und nun ein Schlag des Cantors auf die Tasten – und lautlose Stille.
Während der Cantor die Melodie von „Das ist der Tag des Herrn“ spielte, öffnete sich zur Linken eine Thür, und herein zogen langsam und feierlich die zwölf Kinder in weißen langen Gewändern (das heimliche Werk der verschwiegenen stolzen Mütter) und mit grünen Kränzen auf den Häuptern. Ein Ah! des höchsten Erstaunens durchhallte den Raum. Und wie nun Vers um Vers, jeder vom andern durch einen sanft angeschlagenen Accord getrennt, hell und frisch von den Kinderlippen floß, waren freilich alle Schürzenzipfel erhoben, aber auch „die Klötze“ saßen verändert da. Es war ein merkwürdiger Anblick. In den derben Gesichtern regte sich kein anderer Zug, als der des Trotzes, der die Rührung niederdrücken will, aber die unruhigen Hände, mit denen sie allerlei unnöthige Bewegungen machten, verriethen die innere Erregung.
Die Aufführung ging nun ihren Gang in ihrem Wechsel von Gesang und Declamation vorwärts, und zwar in jeder Hinsicht musterhaft. In der Declamation war keine Spur von dem gewohnten Herleiern der Gesangbuchsverse: das Pfarrhaus hatte hierin ebenso gut geschult, wie der Cantor im Gesang. Die allgemeine Rührung erreichte den höchsten Grad, als die Kinder nach einem Wechselgesang, der das Kinderglück im Elternhause preist, nach der ergreifenden Melodie „Christe, du Lamm Gottes“ ein Gebet für die armen Waisen sangen. Da weinten nicht blos alle Weiber, auch Männer fuhren sich mit der äußeren Handfläche über die Augen. Und als nun endlich der Schlußchoral gesungen war und der Cantor sich vom Flügel erhob, – da gab es eine Scene ohne Gleichen. Die Eltern eilten auf ihre Kinder zu und die Kinder flogen den Eltern entgegen, als gält’ es ein Wiedersehen nach langer Trennung. Und in der That war es ein solches bei vielen Vätern, die jetzt erst wieder die Gottesgabe in ihren größeren Kindern erkannten. Sie hoben sie auf die Arme, wie einst die keinen, setzten sie auf ihre Kniee und erneuten all die Liebkosungen, [152] die ihnen so fremd geworden waren. Und die Mütter, die waren vor Stolz auf ihre Lieblinge ganz aus dem Häuschen. Eine, deren kleiner Junge im Chor mitgesungen, behauptete steif und fest: „Ich hab’ jedes Tönle von meinem Hanjörgle gehört!“ Und alle stimmten ihr gern bei; es war ja ein Herz und eine Freude im Saal.
Die Eltern belohnten nun die Kinder mit aller möglichen und landüblichen „Lustbarkeit“: Bratwürste und Bier, Spiel und Tanz, alles war ihnen geboten. Auch der Cantor und ich ernteten nachträglich noch Lob und Dank in Fülle. Etwas Unerhörtes nannte es der Cantor, daß die Bauern, die für Bücher freiwillig selten einen Pfennig ausgaben, jetzt auch Textbücher des „Schulfestes“ kauften. Er sagte mir noch beim Scheiden:
„Gesiegt haben wir heute, ob’s aber ein wahrer Triumph ist, wird sich erst morgen zeigen.“
Diesmal kam ich schon nach acht Tagen wieder in’s Dorf. Ich mußte wissen, wie es mit dem „wahren Triumph“ stehe. Schon im Pfarrhaus erfuhr ich, daß der Cantor im Glück völlig schwimme, aber er wollte mir das selber sagen. So ging ich denn hinüber in’s Schulhaus und stieg in seine Wohnung hinauf. Freudestrahlend empfing mich der Alte, führte mich jedoch gleich die Treppe wieder herunter und in die Schulstube.
„Nur hier,“ begann er gleich, in dem Raume, wo ich jetzt so glücklich bin, kann ich Ihnen sagen, Herr Doctor: der Triumph ist ein wahrer und vollständiger geworden. Gleich am anderen Morgen kamen alle Kinder, vom kleinsten bis zum größten, sauber und reinlich, Gesichter und Hände wie aus dem Ei geschält, kein Kleidungsstück zerrissen oder beschmutzt, und die Kinder fühlten das neue Glück und sind seitdem die Artigkeit und Aufmerksamkeit selbst. Ich bin der glücklichste Schulmeister auf der ganzen Welt, weil wir’s so weit gebracht haben, daß die Eltern in ihren Kindern wieder eine Gottesgabe achten, kurz, daß sie Achtung vor ihren Kindern haben.“
Hier endet dieses Erlebniß von meinem alten Cantor. Das geschah vor etwa dreißig Jahren. Seit wohl zwanzig Jahren ist er todt, aber sein Andenken lebt noch in dem Dorfe, ebenso wie das des guten Pfarrherrn und seiner edlen Gattin, die nun auch im Grabe ruhen. Die Kinder, die damals sangen, sind längst selbst Väter und Mütter, ja vielleicht schon Großeltern geworden. Ob sie wohl jenes Fest ihrer Kindheit vergessen konnten? Fr. Hofmann.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ An der Tafel stehen die Noten des Loreley-Liedes mit Text von Heinrich Heine.