Textdaten
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Autor: Julius von Altenau
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Titel: Mein Freund Türk
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aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 304–306
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[304]
Mein Freund Türk.
Skizze von Julius von Altenau.

Jawohl, Türk schrieb er sich, T-ü-r-k obwohl er mit Pascha Midhat’s undankbarem Vaterlande Nichts zu thun hatte. Denn er war ein Engländer, wenn nicht von Geburt, so doch dem Stammbaum nach, ein richtiger „John Bull“. Er selbst war freilich niemals dahin zu bringen, sich über diesen Punkt auszusprechen, allein ich erfuhr es durch dritte Personen. In Middlesex sollten seine Altvordern ansässig gewesen sein. Er trug auch ganz den englischen Typus.

Aufrichtig gesagt: hübsch konnte man ihn nicht nennen. Von Gestalt war er zwar ausnehmend stattlich, gedrungen und muskulös gebaut. Seine Brust, breit und hochgewölbt, deutete auf kerngesunde innere Organe. Was aber seine äußere Erscheinung sehr beeinträchtigte, das war zunächst die strohgelbe Farbe seines Haares, welches außerdem stellenweise ein Bischen struppig war. Struppig und strohgelb läßt niemals besonders schön.

Noch mehr als sein Haar war die wirklich ungewöhnliche Form seiner Nase für meinen Freund bezeichnend. Es war gerade, als ob Jemand dieselbe mittelst eines Säbels in zwei separate Hälften gespalten hätte, von denen die eine mit der andern platterdings nichts mehr zu thun haben wollte. Unterhalb dieses merkwürdigen Riechapparates verunstaltete ihn eine entschiedene Hasenscharte, aus der gelegentlich zwei kräftige Zähne hervorblitzten.

Von Charakter war Freund Türk im Ganzen edel und gut. Ich entsinne mich nicht, daß während unserer dreijährigen Bekanntschaft und eines hierdurch bedingten tagtäglichen Beisammenseins jemals das leiseste Zerwürfniß zwischen uns obgewaltet hätte. Wir verstanden und achteten uns gegenseitig. Man mußte ihm in der That gut sein. Schon seine kleinen, unter buschigen Brauen blinzelnden grauen Augen hatten etwas Wohlwollendes und behäbig Gutmüthiges, gepaart mit dem Ausdruck von Selbstbewußtsein und Würde. Zuvorkommende, aufopfernde Gefälligkeit war einer der Haupt- und Grundzüge seines Wesens. Wenn ich auf der Heimkehr aus einem mit Türk gemeinschaftlich besuchten Local plötzlich bemerkte, daß ich in der Zerstreutheit ein Schnupftuch, eine Reitgerte, ein Cigarren-Etui dort zurückgelassen hatte, so genügte eine Andeutung – und wenige Minuten später überreichte mir mein Freund das Vermißte, vielleicht keuchend vom eiligen Laufe, jedenfalls aber in verbindlicher Form. Allerdings konnte er auch Momente haben, wo er schrecklich war und sich selbst nicht kannte. Aber dann war er entweder von Unberufenen in seinen unveräußerlichen Interessen gekränkt worden, oder … er hatte Champagner getrunken.

Jawohl, Champagner war seine Schwäche. Hier war die Stelle, wo er sterblich war. Alle Marken dieses schäumenden Fabrikats waren ihm recht, aber wenn er sie haben konnte, gab er einer Flasche Carte noire den Vorzug. Wie oft hab’ ich ihm wegen dieser Leidenschaft die bittersten Vorwürfe gemacht! Vergebens. Ich glaube, um einer Flasche Carte noire willen wäre er einer unedlen Handlung, wäre er eines Verbrechens fähig gewesen.

Wir waren dazumal Beide noch jung; wir wohnten zusammen; wir aßen und tranken zusammen; wir schliefen zusammen. Wir waren mit einem Wort unzertrennlich. Früh Morgens, wenn ich noch im Bett lag, weckte er mich. Sobald wir gemeinschaftlich unser frugales Frühstück eingenommen und das Vormittags-Colleg in Folge Katzenjammers glücklich verschwänzt hatten, begleitete er mich zum Frühschoppen. Seine Schnauze …

„…Seine Schnauze?…“

„Gewiß, meine Gnädigste; seine Schnauze also …“

„Aber mein Gott, Doctor, von wem sprechen Sie eigentlich?“

„Von wem ich spreche, Madame? Ich begreife Sie nicht. Natürlich spreche ich von Türk, meiner englischen Dogge. Aeußerlich angesehen war er nur ein Hund, und zwar ein Hund, der in meinen Diensten stand; in Wirklichkeit war er mein Freund. Sie lachen mich aus, aber ich werde Ihnen eine Scene aus der Zeit meines Zusammenseins mit ihm vorzeichnen, und Sie werden aufhören, jenen Ausdruck lächerlich zu finden. Schließen Sie die Augen, gnädige Frau! Nehmen Sie wie Traumbilder auf, was ich Ihnen erzähle! Das Feuer prasselt, und die Funken knistern im Kamin, und draußen pfeift der Aprilsturm. Was können Sie Besseres thun in diesem Augenblick als träumen?“

* * *

Zu einer richtigen Heerstraße gehören Etappen, wie die Oasen zur Wüste, und solcher Oasen gab es in meiner Studienzeit auch auf der großen Studentenheerstraße, welche von Heidelberg über Gießen und Marburg gen Göttingen oder auch umgekehrt führte. Nicht der geringsten eine war der ‚Löwe‘ zu Kassel. Ja, und der Papa Lehnert im ‚Löwen‘ kannte sie alle, seine deutschen Corpsburschen, die Grünen und die Schwarzen, die Blauen wie die Rothen. Aber er kannte sie nicht blos: er liebte sie auch. Er beherbergte die Müden; er speiste die Hungerigen; er tränkte die Durstigen. Die letzte Kategorie war die zahlreichste. Als Aequivalent genügte ihm eine kurze, aber vollständige Adresse. Nie im [305] Leben, weder vorher, noch nachher, ist mir eine Autographensammlung begegnet, die sich an Reichhaltigkeit mit dem ‚Löwen-Album‘ entfernt hätte messen können. –

Die Thurmuhr zu St. Martini in Kassel verkündet dröhnend die letzte Stunde und aus einer der auf den Marktplatz einmündenden Straßen hervor sprengt in kurzem Galopp ein jugendlicher Reiter. Dem braunen Walach hart auf der Ferse trabt mit lechzender Zunge eine mächtige Dogge. Vor dem Portal des ‚Löwen‘ macht die kleine Cavalcade Halt. Der junge Mann – schon hat das Hôtelpersonal in ihm einen Göttinger und zwar einen von den beliebten Blauen erkannt – schwingt sich vom Pferde, wirft dem diensteifrig herzustürzenden Hausknecht die Zügel zu und betritt, die Dogge hinter sich, mit klingenden Sporen den zu ebener Erde gelegenen Speisesaal. Reitgerte, Handschuhe und Cereviskappe fliegen auf den nächsten Tisch; der Göttinger macht sich’s auf dem dahinter stehenden Sopha bequem, und der Engländer placirt sich keuchend an der linken Seite seines Gebieters.

‚Jean, ein wenig kaltes Frühstück und ein Glas Bier!‘

‚Zu Befehl! Wünschen der Herr Münchener oder Culmbacher?‘

‚Lagerbier, Jean. Die Zeiten sind schlecht und man muß sich einschränken.‘

‚Bedauere unendlich, aber hier im Speisesaal wird nur Wein oder Baierisch Bier im Pokal verabreicht.‘

‚Gut, Jean, dann bringen Sie mir zur kalten Küche ein Glas Culmbacher!‘

Ein wenig naserümpfend entfernt sich der Herr Oberkellner und servirt nach fünf Minuten das Gewünschte. Schnobernd richtet sich die Dogge empor, legt eine ihre wuchtigen Pranken auf das Knie ihres Herrn und blickt ihm forschend in’s Auge.

‚Nun, Türk, mein Junge, wie ist’s? Hast Du Hunger?‘

Das mächtige Thier rührt kein Glied.

‚Oder vielleicht Durst?‘

Der Rüde fletscht wie besessen das unheimliche Gebiß, beleckt mit der Zunge eifrig sämmtliche Ränder seiner Schnauze und setzt den kurzen Schweif in wirbelnde Bewegung.

‚Aha, also Durst. – Jean!‘

‚Zu Befehl!‘

‚Bringen Sie für meinen Hund eine Flasche Cliquot und ein flaches Gefäß!‘

In der Meinung, man beliebe zu scherzen, producirt Jean pflichtschuldigst ein beifällig albernes Lächeln.

‚Sind Sie schwerhörig, Jean?‘

‚Keineswegs, aber ...‘

‚Ich wünsche für meinen Hund eine Flasche Cliquot und ein flaches Gefäß.‘

Der Herr Oberkellner macht ein ziemlich verdutztes Gesicht und trollt sich kopfschüttelnd. Kurz darauf erscheint er mit einer weitbauchigen Flasche mit silberigem Kopf und einer irdenen Schüssel von erklecklichem Umfange.

Inzwischen hat der Bruder Studio sich in die ausliegenden Zeitungen vertieft; das Local bevölkert sich mit einigen Stammgästen, Verehrern von ‚etwas Caviar nebst einem Special Madeira‘ zum Frühstücke. Sie verfolgen die an unserm Tische sich abspielenden kleinen Ereignisse mit dem lebhaftesten Interesse. Als der Pfropfen knallend zur Decke fliegt, Türk das übliche kurze Geheul zum Besten giebt und innerhalb der nächsten zwei Minuten die Schüssel ihres kostbaren Inhaltes gründlich entledigt hat, schlagen die ‚Herren Philister‘ die Hände über dem Kopfe zusammen. Die Dogge aber liegt schon längst wieder in der majestätischen Stellung einer ägyptischen Sphinx zu Füßen ihres Herrn und Meisters und mustert die Anwesenden mit gleichgültig überlegenen Blicken. –

Die Sonne schießt senkrechte Strahlen, und die dumpfe Schwüle des Julitages wird allgemach wirklich fast unerträglich. Ihre Wirkung ist eine entschieden einschläfernde, zumal nach dem anstrengenden Ritte von heute früh. Wenn man ein Mittagsschläfchen riskiren könnte! Nur so ein ganz kurzes von höchstens einem Viertelstündchen! Vorsichtig sondirt Bruder Studio das Terrain. Der größte Theil der Frühstücksgäste hat sich glücklicher Weise schon wieder empfohlen; nur dort drüben in der Fensternische pflegen zwei ältere Herren bei einem Schoppen Moselblümchen gedämpfte Zwiesprach. Ei was – wozu sich für die paar Minuten erst auf ein Fremdenzimmer zurückziehen? Gedacht, gethan! Geräuschlos lehnt sich der Göttinger in die schwellenden Polster der Sophaecke zurück – unmerklich entsinkt das Zeitungsblatt seiner Hand – er entschlummert.

Die Dogge, welche die Bewegungen ihres Herrn aufmerksam verfolgt hat, weiß, daß ihr Dienst beginnt. Würdevoll postirt sie sich zu Häupten ihres Gebieters. Wider menschliches Erwarten wird aus dem projectirten ‚Nicken‘ unseres Bruder Studio ein solider Schlaf des Gerechten. Furchtlos und treu hält der Engländer die Fahnenwacht. –

Mittlerweile brummen die Kirchthürme zwei Uhr Mittags, und die schrille Hôtelglocke wird krampfhaft geläutet: das Zeichen für den Beginn der Table d’hôte. Die Fremdenzimmer des ‚Löwen‘ entsenden ihr Tagescontingent an Damen und Herren in den untadelhaftesten Toiletten in den Speisesaal. Aus der Stadt finden sich die ‚Abonnenten‘ ein, als da sind der Herr Obertribunalsrath X., der Herr Major Y., der Herr Hofopernsänger Z. und ähnliche Herrschaften von Distinction. Mißbilligende Blicke streifen den harmlosen Schläfer in der Ecke. Zuletzt betritt Papa Lehnert die ‚prangende Halle‘, um mit dem Anstande eines castilianischen Granden dem aufreibenden Amte des Präsidenten seiner Mittagstafel vorzustehen. Gemessen, aber wohlwollend gleitet sein Feldherrnblick über den weiten Saal. ‚Sieh’ da, einer von unsern braven Göttingern!‘ Aber schon im nächsten Momente verfinstern sich seine Züge, und seine Stirn legt sich in drohende Falten. ‚Ich glaube gar, der junge Herr schläft? – Bei Gott, er schläft. Hier, in meinem Speisesaale – während der Table d’hôte. Nein, da hört doch Verschiedenes auf. Jean!‘

‚Herr Lehnert?‘

‚Wecken Sie sofort den Herrn dort auf dem Sopha!‘

Gehorsam tänzelt der Herr Oberkellner, die Serviette unter dem Arme, auf den Schläfer zu. Als er sich ihm bis aus fünf Schritte genähert hat, richtet sich die Dogge drohend empor. Wie das Grollen des fernen Donners rollt es durch die geschlossenen Zähne:

‚Rrrrrrr ...‘

Erschrocken taumelt der Herr Oberkellner zurück, unschlüssig bald seinen Principal, bald den Hund anglotzend.

‚Schämen Sie sich, Jean! Sie sind ein Feigling. Ich muß also wohl selbst ...‘

‚Rrrrrrr ...‘

Auch der ‚Hessische Löwe‘ hält es für gerathen sich vor Alt-Englands offenbarer Uebermacht vorsichtig nach rückwärts zu concentriren. Aber auf seiner Stirn wird eine feine, röthlich schimmernde Ader sichtbar. ‚Scandalös!‘ zischt er halblaut durch die Zähne. ‚Vor meinen sämmtlichen Gästen! ... Scheren Sie sich hinaus, Jean! Im Hofe oder im Stalle wird Christian zu finden sein, er soll hereinkommen, auf der Stelle.‘

Der Hausknecht erscheint.

‚Christian, dort drüben aus dem Sopha ist ein Herr eingeschlafen, ein Student. Wecke ihn sofort!‘

Christian wischt sich die rothen Fäuste an einer fast ebenso rothen Hausknechtsschürze ab und steuert ziemlich beherzt auf den ominösen Tisch los.

‚Rrrrrrr,‘ sagt die Dogge, der offenbar das Ding mit der Zeit langweilig wird. Ihre funkelnden Augen spielen ins Grünliche; sie schreitet dem unberufenen Attentäter, der den Schlaf ihres Gebieters morden will, schlachtenmuthig ein paar Schritte entgegen. Das riesige Thier scheint in der That einige Vorkenntnisse von Kriegskunst zu besitzen. Es weiß, daß man unter Umständen die Vertheidigung eines Platzes durch Offensivstöße führt, und ist offenbar entschlossen, nunmehr seinerseits zum Angriff überzugehen.

‚Nein,‘ meint der verständige Knecht des Hauses, indem er, den Hund scharf im Auge behaltend, vorsichtig zurücktritt, ‚nein, hier ist Nichts zu machen. Ich kenne das. Es ist ein richtiger Engländer. Nein, hier ist absolutemang Nichts zu machen.‘

Inzwischen bilden sämmtliche Tischgäste, Herren wie Damen, in respectvoller Entfernung vom Kriegsschauplatze eine in zwei Parteien gespaltene Corona. Die Einen ärgern sich wüthend; die Andern schütteln sich vor Lachen. An der Spitze der Letzteren steht der Obertribunalsrath, ein jovialer alter Herr. Papa Lehnert knirscht vor Grimm mit den Zähnen und läuft in gelinder Verzweiflung auf und nieder.

‚Herr Lehnert,‘ docirt der wackere Christian fortfahrend, ‚ich sage Ihnen, ich kenne das. Als ich bei den Husaren stand, in Fulda, da hatte unser Rittmeister auch so eine Bestie. Nur daß diese hier noch ein hübsch Theil größer und stärker ist. Die Sorte geht auf den Mann, mir nichts, dir nichts. – Ja woll, Sie haben ganz recht, ich bin hier der Hausknecht, und Sie sind der Herre. Wenn Sie mir ’was befehlen, so muß ich gehorchen, denn so steht’s in unserm Contract. Aber davon, daß ich mir auf Ihren Befehl die Gurgel muß abreißen lassen, – hören Sie, – davon schreibt Paulus Nichts an die Corinther. Na, Nichts für ungut, ich gehe wieder in den Stall und will den Pferden aufschütten. Allerseits wohl zu speisen, meine Herrschaften!‘ – –

Die Sonne steht schon ziemlich tief; an die Stelle der tropischen Mittagsgluth ist eine verhältnißmäßige Kühle getreten. Es ist fünf Uhr Nachmittags. Bruder Studio erwacht aus seinem vierstündigen Schlaf sichtlich erquickt – er orientirt sich. Die Table d’hôte ist natürlich lange vorüber, aber an der weißgedeckten Tafel sitzt hinter einer weitbauchigen Terrine von grünem Glas ein halbes Dutzend älterer und jüngerer Herren in lebhafter Unterhaltung, Jünger Mercur’s, Geschäftsreisende in Wein und Rohtabak. Was sie trinken, ist Ananasbowle; was sie sich erzählen, sind Anekdoten von mehr oder weniger gemeinplätzlicher Färbung. Es wird wirklich die höchste Zeit, aufzubrechen. Langsam erhebt sich der Göttinger und verläßt, von der Dogge begleitet, die gastliche Halle. Im Hofe hält Christian den Braunen gesattelt und gezäumt in Bereitschaft, nimmt grinsend ein reichlich bemessenes Trinkgeld (die einzige baare Auslage, die der ‚Löwe‘ erfordert) in Empfang, und zwei Minuten später sind Roß, Hund und Reiter in der gegenüberliegenden Straße verschwunden.

Wie von drückendem Alp befreit, athmet das gesammte Hôtelpersonal auf. ‚Gottlob, daß sie fort sind! ’s war wirklich geradezu lebensgefährlich. Hol’ ihn der Geier, den infamen Köter. ....‘

Eine reichliche Viertelstunde mag verstrichen sein, als plötzlich in der Hausflur des ‚Löwen‘ ein schreckhafter Lärm hörbar wird. Man läuft; man schreit:

‚Jean, George, Gertrud, Christian! Geschwind, geschwind! Da kommt sie schon wieder, die verwünschte Dogge, da ... dort drüben.... Die Hausthür zu, um Himmelswillen!‘

Mit vereinten Kräften wird die massive Thür in’s Schloß geworfen und zu vermehrter Sicherheit mit dem nächsten besten Hausgeräth verbarricadirt. Halb neugierig, halb erschrocken stürzen die Herren Weinreisenden an die Fenster, um dieselben mit dem Instinct drohender Gefahr schon in der nächsten Secunde hermetisch zu verschließen.

Denn sie ist es wirklich.

Quer über den weiten Platz galoppirt in mächtigen Sätzen die Dogge und steuert geradewegs auf das Portal des ‚Löwen‘ los. Zwei wuchtige Pranken fallen dröhnend gegen die Hausthür. Sie giebt nicht nach; sie ist offenbar verschlossen. Fatal, sehr fatal! Ein kurzer Augenblick der Ueberlegung. Aber schon im nächsten Moment stürzt das Thier, rasch entschlossen, auf den freien Platz zurück, markirt durch Augenmaß eine Distance von etwa fünfzehn Schritt, nimmt einen gewaltigen Anlauf und saust, wenn nicht mit der Grazie, so doch mit der Bravour einer [306] Circusheldin, die durch papierbeklebte Reifen springt, durch das verschlossene Fenster in den wohlbekannten Saal. Klirrend fallen links und rechts die zerbrochenen Glasscheiben zur Erde. Bestürzt stieben die Herren von der Ananasbowle aus einander.

Von Kopf und Schnauze des Engländers rieselt in Bächen das rothe Blut, aber er achtet dessen nicht, stürzt auf das bewußte Sopha zu und wühlt und kratzt emsig mit den Vordertatzen in den Polstern. Hier liegt nichts. Eine Idee scheint ihm zu kommen: vielleicht unter dem Kanapee? Mit Mühe zwängt er den dicken Schädel in den schmalen Spalt ... richtig, da liegt sie. Triumph, Triumph des Scharfsinns! Schnappend packt er die wohlbekannte Reitpeitsche seines Herrn mit den Zähnen; ein Blick stolzer Befriedigung ob des glücklich Vollbrachten streift die sich scheu in den Hintergrund drückenden Herrschaften; abermals ein tüchtiger Anlauf – und Türk stürmt, die Ohren einkneifend, durch das nächste verschlossene Fenster in’s Freie. Klirrend fallen links und rechts die zerbrochenen Glasscheiben zur Erde. Nur allmählich gewinnen die Herren von der Ananasbowle ihre Fassung wieder. –

Auf der nächsten Rechnung, die der ‚Löwe‘ dem Herrn Studiosus hochachtungsvollst überreichte, figurirte ein extraordinärer, dem Empfänger nicht sofort erklärlicher Posten von sechs Thalern fünfzehn Silbergroschen.

‚Ausgelegt für den Glaser,‘ lächelte Jean verständnißinnig.


*     *     *


Vergangenen Herbst, auf der Rückkehr aus dem Seebade, führte mein Weg mich über Kassel, das ich seit sechszehn Jahren nicht gesehen hatte. Natürlich suchte ich vor Allem den ‚Hessischen Löwen‘ auf. Zwar, das Gebäude selbst stand noch, aber es diente anderweiten Zwecken. Irgend eine Behörde, wenn ich nicht irre, war darin untergebracht. Verstimmt ließ ich mich in einer unweit gelegenen Weinstube nieder. Ich erkundigte mich nach dem Papa Lehnert.

‚Todt, lange todt!‘ hieß es.

Der ‚Hessische Löwe‘ zu Kassel gehört heute zu den verwehten Stätten deutscher Studentenlust. Wehmüthig ein „Sic transit“ recitirend, verließ ich noch selbigen Tags die ehemalige kurfürstliche Haupt- und Residenzstadt.“

„Und Türk?“

„O Madame, auch Türk ist längst todt und begraben. Er starb etwa ein Jahr nach der eben erzählten kleinen Begebenheit. Sein Ende war ein tragisches.“

„Sie erschrecken mich. Doch nicht Selbstmord?“

„Fürchten Sie Nichts, meine Gnädigste! Türk hat sich nicht so weit vergessen, Tatze an sich zu legen. Dazu besaß er zu viel Sittlichkeit des Charakters. Nichtsdestoweniger war sein Ende ein unnatürliches. Er fiel im Zweikampf.“

„Im Zweikampf?“

„Ja, Madame. Studentische Duelle, oder richtiger ausgedrückt, Mensuren waren damals bei uns an der Tagesordnung. Die Herren Corpshunde verfehlten nie, die edlen Waffenspiele durch ihre Gegenwart zu verherrlichen. Es war ein herbstlich-klarer Octobermorgen, und wieder einmal kreuzten sich die akademischen Klingen in heißem Kampf. Wir Blauen fochten mit Erbitterung auf Schläger und krumme Säbel gegen die verhaßten Schwarzen. Türk saß auf seinem gewöhnlichen Platz auf dem Fenstersims, bald auf die belebte Straße behäbig hinausblinzelnd, bald die Kampfspiele im Saale mit Kennermiene beobachtend. Schon waren drei ‚Suiten‘ mehr oder weniger blutig ausgefochten, und die Reihe kam an mich.

Silentium für einen Gang Schläger bis zur Abfuhr!‘

‚Bindet die Klingen!‘

‚Sind gebunden!‘

‚Los!‘

Hageldicht fallen die Hiebe. Schon ‚sitzen‘ hüben wie drüben ein paar ‚Blutige‘, als plötzlich die helle Stimme des gegnerischen Secundanten kurz und präcis durch den Saal schallt:

‚Halt!‘

‚Warum halt?‘

‚Klinge gesprungen!‘

In der That fehlt der Klinge meines Gegners die Spitze in der Länge von zwei bis drei Zoll. Man forscht nach dem abgesprungenen Stück. Es ist nirgends zu entdecken. Während eine frische Klinge eingezogen wird, wende ich von ungefähr den Blick nach dem Fenster. Ich bemerke, wie Türk von dem Sims langsam zur Erde niedergleitet. Wir eilen auf ihn zu, aber schon legt sich das mächtige Thier auf die Seite. Auf seiner breiten weißen Brust wird ein einziger rother Tropfen sichtbar. Einmal noch schaut der Engländer mir voll in’s Auge, wie um von mir Abschied zu nehmen; dann streckt er die Glieder – er ist todt. Die abgesprungene Klinge war ihm in’s Herz gedrungen. –

Ganz Göttingen beklagte Türk und sein jähes Ende. Ich selbst war nahezu untröstlich. Sein Begräbniß war einfach, aber würdig. Zwei gekreuzte Schlägen legten wir auf seinen Sarg.“