Marpingen – wie Wunder entstehen und vergehen

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Autor: Fridolin Hoffmann
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Titel: Marpingen – wie Wunder entstehen und vergehen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 16, 17, S. 266–268, 284–286
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Marpingen – wie Wunder entstehen und vergehen.[1]

Ein Culturbild aus der Gegenwart von Fridolin Hoffmann.

I. Der Dunstkreis der Erscheinung.

„Der blühendste, aufgeklärteste, heiterste, regsamste Theil Deutschlands: Rheinland und Westfalen, schickt vierzig ultramontane Abgeordnete in die Landesvertretung. Wahrlich, eine verlorene Schlacht an der Loire wäre ein geringeres Unglück für die Nation, als diese Niederlage.“ So schrieb „ein Rheinländer“ in einem „Wunsch zur Kaiserkrönung“ betitelten Artikel der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ vom 5. December 1870, nachdem vierzehn Tage vorher die Landtagswahlen in Preußen stattgefunden hatten. Mehr als einmal ist der angeführte Passus in den Parlamenten zu Berlin gerade von der Seite selbstgefällig wiederholt worden, gegen die er vom Verfasser gemeint war; indem man der Welt immer wieder zu Gemüthe führte, daß dieser räumlich beschränkte Theil Preußens, dessen Abgeordnete zwei Dritttheile der Centrumspartei im Landtage bilden, „eingestandenermaßen“ der geistig geweckteste von ganz Deutschland sei, sollte der Welt ein günstiger Schluß über die genannte Partei geradezu auf die Lippen gelegt werden.

Die von dem „Rheinländer“ der Bevölkerung seiner Heimath zuerkannten Eigenschaften sind gewiß nicht unverdient, wenngleich, wie die erwähnten Wahlen, so auch das leichtgläubige Verhalten eines großen Theiles dieser Bevölkerung den weltbekannten Vorgängen zu Marpingen gegenüber ein anderes Urtheil herauszufordern scheint. Vielleicht gelingt es, den Widerspruch einigermaßen zu vermitteln, wenn man die guten gemüthlichen und geistigen Grundeigenschaften der in Rede stehenden Volksstämme von dem zufälligen Einfluß trennt, den ihr kirchliches Bekenntniß unter der Dauer des Culturkampfs auf sie ausübt. Auch die Marpinger Vorgänge erscheinen nach Ursprung und Verlauf in entschiedenem Zusammenhang mit dem Culturkampf. Ein in der baierischen Rheinpfalz, also in der Nähe des Wunderreviers erscheinendes „conservativ“-protestantisches und daher den Tendenzen der Centrumspartei in platonischer Liebe ergebenes Blatt drückte das mit den Worten aus: der Culturkampf dränge das Volk zum Glauben an die Wunder und zum Festhalten an denselben. Der in dem eben beendeten Marpinger Processe als Schutzzeuge geladene ehemalige Redacteur der Berliner „Germania“, Dr. Paul Majunke, erklärte das Interesse, welches er der Sache gewidmet habe, am 7. März 1879 vor dem Gerichtshofe zu Saarbrücken unter Anderem mit der sich ihm aufdrängenden Erwägung: „daß in dem großen Geisterkampfe, welcher augenblicklich in Preußen tobte, derartige Manifestationen einer übernatürlichen Welt durchaus erklärlich seien“. Von einem Pastor Schwaab zu Urexweiler wurde, gleichfalls beim Zeugenverhör, folgende Aussage constatirt: „Die Regierung hat uns so gequält; nun wollen wir ihr auch einmal ein Schnippchen schlagen." In welchen Ideenkreisen die Geistlichkeit des betreffenden Theils der Trierer Diöcese sich in den letzten Jahren bewegte, zeigt auch eine bei dem Pastor Schneider in Alsweiler bei Marpingen von der Behörde vorgefundene Broschüre, welche laut dem Titel Anleitung darüber giebt, „wie man Revolution macht“. Wenn eine Revolution, heißt es darin, Aussicht auf Erfolg haben solle, müsse sie von langer Hand vorbereitet werden. Es müsse in die breitesten Volksschichten die Unzufriedenheit mit den bestehenden staatlichen Zuständen hineingetragen und die Erbitterung gegen die Behörden dauernd genährt werden etc..

Ein viel stärkeres Verbindungsglied zwischen den Marpinger Wunderdingen und der kirchenpolitischen Situation in Deutschland hat die Centrumspartei selbst dadurch geschaffen, daß sie, weil die Staatsbehörde gegen das Weiterwuchern des Schwindels einschreiten zu müssen glaubte, sich zum Anwalte der Marpinger aufwarf, und zwar vor dem versammelten preußischen Landtage. Und der Wortführer von damals – die Verhandlung fand am 16. Januar 1878 statt – der Advocat Julius Bachem, Stadtverordneter zu Köln, ließ es sich auch nicht nehmen, den Beschuldigten jetzt, bei den mündlichen Verhandlungen vor dem Zuchtpolizeigerichte zu Saarbrücken vom 3. bis zum 15. März, als Vertheidiger zur Seite zu stehen. Der junge Mann hat sich vor fünf Jahren als Rechtsbeistand des inzwischen abgesetzten Erzbischofs Melchers die Sporen verdient und seitdem in allen namhafteren Culturkampfs-Processen am Rhein die Rolle des St. Michael mannhaft weiter gespielt. Mag das ganze vernünftige Deutschland mit Staunen, Scham und Ekel die Dinge vernommen haben, welche in der ersten Märzhälfte zu Saarbrücken an’s Licht kamen – die Hoffnung wäre eine eitele, daß die geistlichen und politischen Anwälte der Marpinger Vorgänge ihr Selbstgefühl durch die Bloßlegung der scandalösen Fundamente jenes Wunderschwindels auch nur um einen nennenswerthen Grad sich herabmindern ließen. Wer über die clericale Jugendbildung und Schulung des Volksgeistes die schützenden Flügel ausbreitet, muß wohl oder übel auch die Früchte davon mit in den Kauf nehmen. So wahr der clericale Geist nie aufhören wird den Wunderglauben zu fördern, so sicher werden Aeußerungen desselben in der Art der Marpinger stets dessen unausweichliche Folgen bleiben. Nicht in den gegen Einzelne erhobenen Beschuldigungen liegt die culturhistorische Bedeutung des Marpinger Processes, sondern in dem, was dabei bekannt geworden ist über die Natur des römischen Kirchenthums und über die Früchte der clericalen Jugendbildung.

Als die „Gartenlaube“ – Seite 740 des Jahrgangs 1872 – ausführlich erzählte, wie Herr Laurent, Bischof von Chersonesus in partibus infidelium, als apostolischer Vicar zu Luxemburg angesichts seiner Seminaristen im Jahre 1843 einen Teufel austrieb und dabei constatirte, daß der „Böse“ verschiedener Sprachen mächtig sei, da lachte man laut auf in allen fünf Welttheilen. Die Möglichkeit solcher Vorfälle überrascht immer auf’s Neue. Die Abneigung unserer Zeit, an übernatürliche Eingriffe in den Verlauf der irdischen Dinge zu glauben, beruht in den großen Massen nicht auf tieferer wissenschaftlicher Erkenntniß, sondern auf der durch wiederholte Erfahrung bestärkten Wahrnehmung der täglich vor unseren Augen sich darlegenden klaren Naturordnung. Dieser der Orthodoxie so widerwärtige „Zeitgeist“ ist im Wachsen, und das ist begreiflich, denn mit gutem Recht sagt Tyndall, wo er in seinen „Fragmenten“ vom „brennenden Dornbusch“ redet und von dem Stillstand der Sonne und des Mondes im Buche Josua: „Hätten wir es nur mit leichtgläubigen Erzählungen der Alten zu thun, wären diese Erzählungen nicht zugleich verknüpft mit Worten unvergänglicher Weisheit und mit Beispielen von moralischer Größe, welche unerreicht dastehen in der Geschichte des Menschengeschlechts – längst schon hätten sowohl die Wunder wie die Beweise für deren Vorkommen aufgehört, zu den Ueberlieferungen der verständigen Menschheit zu gehören.“ Vielleicht stützt sie auch, daß die Wundergläubigen nach ihrem Dafürhalten Herren der Natur sind: mit ihrem Gebet vermögen sie dem Himmel – wie sie selbst oft sich ausdrücken – „Gewalt anzuthun“. Eine directe Wirkung auf die Naturvorgänge besitze, sagen sie, ihr Wille allerdings nicht, aber in ihren Bittgebeten meinen sie gleichsam den Ausheber von dem Schlagwerk der Uhr in Händen zu haben, um sie, die göttliche Macht für ihre momentanen Bedürfnisse in Bewegung setzend, schlagen zu lassen nach ihrem Belieben. Das war allerdings eine vielfach tröstende Weltanschauung, aber sie hatte ihre Kehrseite in der abergläubischen Furcht vor den Mächten der Hölle, wie sie sich in so trauriger Weise betätigte in dem Verfahren gegen Teufelsbündler, Hexen und Zauberer. Man weiß, was die zügellose Phantasie selbst der Rechtsgelehrten an der Hand der Theologen in dieser Beziehung geleistet hat. Ebensowohl wie man vom Himmel gut Wetter erbetete, konnte man auch durch Teufelsgunst verheerende Gewitter über die Felder verhaßter Nachbarn hinführen. Im Jahre 1600 wurden zu München sechs Uebelthäter auf einmal [267] hingerichtet, welche unter Anderem „ain und zweintzig Hagel und Schauer gemacht“ hatten; im Jahre 1666 am 9. Januar ebendort der achtundsiebenzigjährige Simon Altsee von Rodenbach durch unsagbare Martern zum Tode gebracht, weil er elf namentlich aufgezählte Orte verhagelt zu haben schuldig befunden worden war.

Das kirchliche Ritualbuch, dessen sich der vorhin erwähnte, noch heute in Aachen lebende Bischof Laurent bediente, steht andauernd in voller Geltung. Die damit charakterisirte Weltanschauung ist also die geistige Atmosphäre, in welcher sich fortwährend der Volksunterricht in den katholischen Gegenden bewegt, soweit die Geistlichen ihn noch in Händen haben. Die Macht, welche die Wechselwirkung zwischen dem Menschen und der leblosen Natur beherrscht, ist der durch Gebet lenkbare, hier belohnende, dort strafende „Finger Gottes“; von Zeit zu Zeit greift dann der „Böse“ dazwischen, um sich auch sein Theil zu sichern. Um gegen den Letztern sich zu wehren, hat man jedoch das Weihwasser und sonstige Segnungen. So kam auch zu Marpingen der Ortspfarrer Neureuter und ein benachbarter Amtsbruder, als ihnen im Jahre 1877 der Verdacht aufstieg, ob nicht, möchten auch die ersten Erscheinungen himmlischer Natur gewesen sein, später doch „diabolische“ Einflüsse mit untergelaufen wären, auf die tiefsinnige Idee, dies durch Weihwasser zu erproben. Hinter dem Rücken der in’s Pfarrhaus beschiedenen drei Wunderkinder goß der Pfarrer Hammer aus der von Neureuter ihm dargereichten Flasche in die hohle Hand und besprengte damit die drei lebendigen Räthsel. Leider kamen die zwei Gottesgelehrten trotz des Weihwassers über ihre Frage nicht mit sich in’s Reine.

Glücklicher war Dr. Paul Majunke. Dieser erklärte im Zeugenverhör am 7. März: „Bei mir war die Frage, ob die Vorgänge von Marpingen natürlicher oder übernatürlicher Art seien, schon bald, nachdem ich dort hingekommen war, entschieden; nur darüber war ich noch im Zweifel, ob sie einen göttlichen oder einen diabolischen Ursprung hätten. Ganz gewiß aber scheint mir ein diabolisches Element im Spiel gewesen zu sein, als die kleine Margarethe Kunz die gehabte Erscheinung vor dem Criminalcommissar widerrief."

Die eben genannte jetzt elfjährige Margarethe Kunz, der Keim, aus welchem der ganze Schwindel erwuchs, ist, wie aus dem Proceßmaterial zu erkennen, in ihrem ländlichen Kreise das im Kleinen, was Dr. Paul Majunke in der Weltpolitik und im Großen. Die Lust am Fabuliren und das Bewußtsein, es zu können, haben sie zu dem gemacht, was sie geworden ist; die winkenden Vortheile, die drohenden Nachtheile hielten sie dann in ihrer Rolle fest, oder ließen sie zeitweilig aus derselben herausfallen, je nachdem.

Auch der zeitgeschichtliche Hintergrund ist bei der Beurtheilung der Marpinger Vorgänge nicht außer Acht zu lassen, denn auch bei geistigen Epidemien – und das Anwachsen des in Rede stehenden Schwindels war eine solche – kommt Ansteckungsstoff zu einer vorhandenen krankhaften Disposition. Der Keim der ganzen modernen Marien-Erscheinung-Krankheit ist jedenfalls in den Ereignissen von Lourdes zu suchen; der deutsch-französische Krieg brachte einen weiteren Trieb; die Muttergottes-Erscheinung zu Pontmain am 17. Januar 1871, zwischen sechs und neun Uhr Abends, fünf Tage nach Verlust der benachbarten Stadt Le Mans an die deutschen Truppen. Wie die zu Le Mans erscheinende „Semaine du Fidèle“ in ihrer Nummer vom 18. Februar umständlich erzählte, sahen bei Poutmain vier kleine Mädchen aus einer Klosterschule über dem Dach einer Scheune die heilige Jungfrau in sternbesäetem Gewande und goldener Krone. Eine aufleuchtende Inschrift forderte zum Beten auf und verhieß „Erhörung in kurzer Zeit“. Von da an war die Muttergottes fortwährend auf der Wanderschaft.

Am 7. Juli 1872 begann sie ihre Vorstellungen im Elsaß und zwar im Gehölze von Krüth, einem Weberdorfe im Weilerthale, Kreis Schlettstadt. Auch hier waren kleine Mädchen die begnadigten Seher. Bald kam die Erscheinung allein, bald mit dem Jesuskinde, mit dem heiligen Joseph, mit Engeln, einmal sogar mit Pius dem Neunten. Am 10. Januar 1873 schleuderte die Muttergottes ein Schwert gegen den Rhein; ein anderes Mal sah man sie auch vor einer verschlossenen Kirchenthür stehen, einen preußischen Wachposten daneben, wie als ob dieser sie hindere, einzutreten. Der Schwindel bei Krüth, der an manchen Tagen bis zu 15,000 Menschen zusammenführte, dauerte bis in den Sommer, wo ihm durch die Einquartierung einer Compagnie Sachsen in dem genannten Dorfe ein Ende gemacht wurde. Aber nun zeigte sich die Muttergottes an anderen Orten – man zählte deren schließlich über dreißig –, auf den Arsenalgräben von Metz, auf den Schlachtfeldern von Weißenburg, bei St. Quirin im Kreise Saarburg, zu Rimlingen im Kreise Saargemünd. An einzelnen dieser Orte blieb sie Monate lang.

Bevor wir uns specieller dem Marpinger Spuk, der am 3. Juli 1876 begann, zuwenden, sei, der Vollständigkeit halber, im Vorbeigehen noch der Erscheinungen von 1877 und 1878 zu Dittrichswalde im Ermlande, welchen die „Gartenlaube“ bereits früher (1878, Nr. 2[WS 1]) einen längeren Artikel widmete, sowie des kurzen Besuches gedacht, den die Muttergottes im April 1877 der Regensburger Diöcese machte. In dem Bezirke Deggendorf an der Donau – der Name erinnert an den großen Judenmord von 1337 wegen angeblicher Verunehrung des Abendmahlbrodes – liegt das von Karl dem Großen gegründete Benedictinerstift Metten. An einem in der Nähe befindlichen Ort, Mettenbuch, erschien die Muttergottes einigen Kindern mehrmals bei einem Gesträuche und heilte Kranke. Das Wallfahren zu diesem Heiligthume und die an solchen Orten emporwuchernden Geschäfte mit sogenannten Devotionalien, Extra-Gebeten, gedruckten Heilungs- und Wunderberichten etc. war am Schlusse des Jahres 1878 zur schönsten Blüthe gediehen, als der Regensburger Bischof Ignaz Senestrey dem Unfuge mit einem Mal ein Ende machte; er erklärte, die eingehendsten Prüfungen angestellt und Alles, was man Wunderbares von Mettenbuch erzählt habe, als haltlos und grundlos erfunden zu haben. Dessen hatte man sich von diesem sonst so jesuitenfreundlichen Manne auf keiner Seite versehen, aber die Ehre, die ihm für diese Entschiedenheit gebührt, hätte man sich in Straßburg, Trier und im Ermlande auch verdienen können. Jetzt, nachdem der am besten „beglaubigte“ Marpinger Trug durch die Enthüllungen des Prozesses ein Ende mit Schrecken genommen hat, ist es für eine solche Errungenschaft zu spät.

Der preußischen Staatsbehörde war, nachdem der Ortsgeistliche zu Marpingen, Pastor Neureuter, den Unfug ostensibel nur „gewähren“ ließ, thatsächlich aber förderte, und das Domcapitel zu Trier ausdrücklich jede Mitwirkung zur Hemmung des Schwindels und Bloßlegung seines Untergrundes abgelehnt hatte, keine andere Handhabe zu diesem Zwecke geblieben, als die Erhebung der Anklage wegen Betruges gegen den genannten Ortsgeistlichen, einige umwohnende Pfarrer, die Eltern der drei minderjährigen Wunderkinder, zwei Literaten, die durch ihre in mehr als 60,000 Exemplaren verbreiteten Broschüren für die Verbreitung und gläubige Annahme der vorgeblichen Erscheinungen gewirkt hatten, und einige andere völlig unbedeutende Persönlichkeiten. Zur Anwendung kam also der § 263 des Reichs-Strafgesetzbuches: „Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten (hier die Kirche zu Marpingen) einen rechtswidrigen Vermögensvortheil zu verschaffen, das Vermögen eines Anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Thatsachen einen Irrthum erregt oder unterhält, wird wegen Betruges mit Gefängniß bestraft, neben welchem auf Geldstrafe bis zu 1000 Thaler sowie auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden kann. Sind mildernde Umstände vorhanden, so kann ausschließlich auf die Geldstrafe erkannt werden.“

Es lag der Staatsbehörde um so mehr nahe, auf Grund dieses Paragraphen die Anklage zu erheben, als die Gerichte bereits an verschiedenen Orten der Rheinprovinz Solche verurtheilt hatten, welche, gereizt durch die Marpinger Erfolge auch in pecuniärer Beziehung, Concurrenz-Wunderorte zu etabliren versuchten.

Die Erscheinungen zu Marpingen hatten, wie schon bemerkt, Anfangs Juli 1876 begonnen. Schon im März des folgenden Jahres zeigte sich die Muttergottes auch auf der Gappenacher Mühle bei Polch im Regierungsbezirke Coblenz in einer Flasche Marpinger Wassers. Der schon früher den Gerichten einmal verfallene stark verschuldete Müller hatte, wie einstmals der Doctor Faust, „viel Zulauf, das läßt sich denken“. Im Keller fand man, als die Polizei der Sache Einhalt that, noch 450 Mark und 640 Kerzen als Votivgaben; außerdem hatte der Müller schon [268] Einiges von seinen Schulden aus dem Erlös abgetragen. Das war gewiß brav, aber dennoch wurden er und seine Frau zu je 200 Mark Geldbuße und je 15 Monaten Gefängniß verurtheilt; ein Helfershelfer, der in falschen Attesten verschiedene Leute die Erscheinungen hatte bezeugen lassen, kam mit 5 Monaten davon. Gleiche Betrügereien kamen am 9. Januar 1878 vor dem Zuchtpolizeigericht in Saarbrücken und am 25. Februar dieses Jahres vor der correctionellen Appellkammer in Bonn zur Aburtheilung. Der eine Unfug hatte zu Berschweiler, einem Dörfchen in der Nähe von Marpingen, der andere zu Merzbach bei Bonn gespielt. Das Gericht verhängte über die Hauptanstifter des ersteren Betrugs 6 bis 10 Monate Gefängniß, über den des zweiten eine solche von 6 Monaten und über eine Helferin eine von 14 Tagen.

Zu Marpingen war unseres Erachtens anfänglich der Gelderlös nicht das treibende Motiv, weder für die jugendlichen Erfinder, noch für die geistlichen und literarischen Förderer des Schwindels, später jedoch erschien er den einen wie den anderen als willkommene Zugabe. Auf diese Art erfüllten aber die Betreffenden ja nur die christliche Ordnung und erfuhren dann mit Recht an sich die in der heiligen Schrift gemachte Verheißung: „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit; das Uebrige wird euch dann in den Schooß geworfen werden.“ Nicht gerade in den Schooß wurde es den Wunderkindern zu Marpingen geworfen, aber doch dicht zur Hand: in „Kaulen“, die sie, vor der angeblichen Erscheinung knieend, zwischen sich und letzterer in den Boden gemacht hatten. Fiel, so erzählte ein Zeuge, ein besonders großes Stück, etwa ein Thaler, so hob das geriebenere der drei Gnadenjungferchen das augenfällige Geldstück von der Erde auf und zeigte es mit verstohlenem Schmunzeln seinen Genossinnen. Wir nehmen gerne an, daß Pastor Neureuter von diesen Opfergaben nichts in seine Privattasche gesteckt hat, aber sein Kirchenrechner hat nach eigener Angabe – und zwar ohne jegliche controllirte Buchführung – so wie es ihm die Pfarrersköchin und andere Weiber in Cigarrenkistchen oder der Schürze brachten, vereinnahmt und ohne Ueberschuß für Renovationen an der Kirche verausgabt: im Jahre 1875 (also dem Jahre vor der Erscheinung) 29 Mark; im Jahre 1876 aber schon 200 Mark; im Jahre 1877, wo der Schwindel in’s Kraut schoß, 3984 Mark; im Jahre 1878 sank der Erlös wieder auf 2500 Mark; am 3. September hatte sich die Muttergottes, ganz ihrem am 11. August 1876 den Wunderkindern mitgetheilten Programm gemäß, nach einer vierzehnmonatlichen Besuchsperiode wieder verabschiedet. Da der frommen Pilger während des Jahres 1877 an Wochentagen 600 bis 700, an Sonntagen 6000 bis 8000 – am 2. September sogar 13,000 – am Wunderorte gezählt wurden, so ist die Aussage eines der Belastungszeugen, die Opfergaben hätten in diesem Verhältniß täglich 100 bis 500 Mark betragen, nicht unglaublich.

Ein anderer Zeuge erzählte von einem am Orte der Erscheinung aufgestellten „Kartoffelkorb mit Geld: Thalern, Fünfgroschenstücken und kleiner Münze“. Ein Kaufmann in der benachbarten Stadt Ottweiler, der seit 1873 Geschäfte mit Marpingen machte, erklärte, diese seien seit 1876 viel besser gegangen; er habe, während er früher mit großem Gelde bezahlt worden, seit der genannten Zeit auffällig viele Rollen mit kleiner Münze von dort erhalten, und diese seien vom Pfarrer Neureuter verpackt und signirt gewesen, ein Beweis , daß diese kleine Münze von Letzterem bei seinen Pfarrkindern gegen Großgeld ausgewechselt worden war.

Wie viel die beiden Broschürenschreiber, ein Caplan Dicke zu Minden in Westfalen und ein Redacteur Dr. Thoemes zu Ehrenfeld bei Köln, an Honorar eingeheimst haben, waren sie ja nicht verpflichtet, vor Gericht zu documentiren; ein ansehnlicher Extragewinn, auf den der Zweitgenannte den Mund bereits gespitzt hatte, ist ihm schnöde entgangen. Er hatte sich nach den Angaben der Eingeweihten von dem ihm befreundeten Maler Jodel zu Stuttgart ein Bild der Erscheinung zeichnen lassen und suchte nun das Vervielfältigungsrecht dieser Darstellung bei verschiedenen Verlegern zu Trier, Kevelaer etc. um 4000 Mark zu verwerthen. Ein anderer Speculant war ihm bereits zuvorgekommen. Der greise E. Deger zu Düsseldorf hatte, wie man sagt, auf Andrängen einer hochstehenden Dame, der Rücksicht auf seine redlich erworbenen Ehren so weit vergessen, daß er ein ähnliches Bild entwarf, und die photographischen Nachbildungen hiervon hatten den Markt bereits überschwemmt. Die Thoemes-Jodel’sche Erfindung wurde schließlich doch im Buchhändler-Börsenblatt seitens der Faber’schen Buchhandlung in Mainz ausgeboten – im Victoria-Format zu sechszig Pfennig. Dr. Thoemes stellte vor Gericht seine Interesselosigkeit in das hellste Licht mit der Erklärung, daß er, als Niemand ihm für sein Bild habe etwas geben wollen, es zuletzt umsonst zur Verfügung gestellt habe; sowie mit der weiteren Erklärung, daß er die 4000 Mark dem Bau einer Capelle an der Gnadenstelle gewidmet haben würde, wenn er sie bekommen hätte.

Der Kern der Marpinger Erscheinung und das traurige Ende, welches diese Angelegenheit in den jüngsten Tagen vor den Schranken des Strafgerichts erfuhr, werden in dem zweiten Artikel ihre das Ganze abschließende Darlegung finden.

[284]
II. Der Kern der Erscheinung.


Die Zuchtpolizeikammer in Saarbrücken hatte bei dem sogenannten Marpinger Proceß selbstverständlich ihr Hauptaugenmerk nur darauf zu richten, ob diejenigen, welche für die angeblichen Wundererscheinungen Propaganda gemacht, in gutem Glauben gehandelt, oder mit Vorsatz unerlaubte Zwecke dabei verfolgt hatten. Die Untersuchung über die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit solcher wunderbaren Vorgänge im Allgemeinen oder speciell über ihr Geschehensein in Marpingen lag außerhalb der Aufgabe des Strafrichters. Von den an die Marpinger Wunder Glaubenden mag es aber mit rechtem Verdruß empfunden worden sein, daß ein junger Jurist, der Landgerichtsassessor Dr. Strauß, welchem auf eigenen Wunsch ein Theil des Inquisitoriums bei den drei begnadigten Kindern vom Untersuchungsrichter commissarisch übertragen worden war, eingestandenermaßen mit dem vollen Glauben an die Möglichkeit solcher himmlischer Kundgebungen nicht nur, sondern mit halbem Glauben an die Wirklichkeit im speciellen Falle an das Verhör herangetreten ist und dennoch die mitgebrachte günstige Meinung für die Aussagen der Mädchen bald verloren hat. Vor Gericht sprach er seine Ueberzeugung dahin aus: Der Kern der ganzen Sache sei eitel Trug und Lüge. Dr. Strauß ist, um dies hier einzuschalten, in der Marpingen-Saarbrücker Gegend geboren, theilweise von dortigen Geistlichen vorgebildet worden, und hat mit den meisten derselben bis zur Stunde einen freundschaftlichen Verkehr unterhalten. Einen unverdächtigeren Zeugen kann also auch der wunderseligste Katholik nicht verlangen.

Der Marpinger Schwindel begann bekanntlich am 3. Juli 1876, demselben Tage, an dem zu Lourdes die dortige Marien-Statue unter Anwesenheit von sechsunddreißig Bischöfen und zahlreichen Pilgern feierlich gekrönt wurde; von dieser bevorstehenden Feier war begreiflicher Weise schon vorher unter den rheinisch-westfälischen Katholiken, die ja auch ihr Contingent zu den Theilnehmern an derselben stellten, viel die Rede. Am 13. Juli schon rückte, um dem Besuche des Gnadenortes und damit der Ausbreitung des Schwindels zu wehren, Militär in Marpingen ein, und da dieses von der Bevölkerung nicht allzu freundlich empfangen wurde, also wohl schlimmere Widersetzlichkeiten noch zu befürchten standen, legte sich auch die Justizbehörde in’s Mittel. Am 9. November wurden die Kinder, die vorher schon durch einen am 1. October von Berlin gekommenen Criminalcommissar, Herrn von Meerscheidt-Hüllessem, verhört worden waren und vor diesem ihre wunderbarlichen Aussagen Stück für Stück widerrufen hatten, auf Beschluß des Vormundschaftsgerichts in die Prinz-Wilhelm-Mariannen-Bewahranstalt zu Saarbrücken untergebracht. Von hier kamen sie, wie wir schon gleich bemerken wollen, in ein klösterliches Erziehungshaus zu Echternach, dem durch seine närrische Springprocession am Pfingstdienstag weltberüchtigten Wallfahrtsort im Luxemburgischen, wo sie sich zur Stunde noch befinden. Am 29. November reiste Dr. Strauß mit der Margarethe Kunz, um die Wunderstätte in ihrer Gegenwart zu besichtigen, nach Marpingen, und brachte sie am zweiten Tage in die genannte, unter einem protestantischen Hausvater stehende Anstalt nach Saarbrücken zurück. Die mehrfach Genannte ist das jüngste der sämmtlich im Jahre 1868 geborenen Wunderkinder, aber auch das geweckteste und nach Allem, was jetzt vorliegt, die Anstifterin des ganzen Handels. Auf seinem Excurse mit Margarethe begann Dr. Strauß, nachdem er sich mit der Kleinen vertraut gemacht hatte, sein Inquisitorium, und sein Bericht darüber möge hier als besonders charakteristisch in ausführlicher Form Platz finden.

„Ich bin die unbefleckt Empfangene“ – sollte, wie man sich erinnert, die Erscheinung auf die Frage der Kinder geantwortet haben. „Die Kunz,“ so berichtet nun Dr. Strauß, „verneinte, zu wissen, was ‚Unbefleckte Empfängniß’ sei; dieses Wort habe sie einmal von einem Mädchen gehört oder in einem Gebetbuche gelesen. Nach einigem Umfragen aus anderen Schulfächern kam ich auf die Erscheinung. Nun erzählte sie:

‚Am 3. Juli sah ich im Härtel-Walde beim Heidelbeerpflücken einen weißen Schein, einer menschlichen Gestalt ähnlich. Sie war sitzend; die linke Hand hing herunter; die rechte lag auf der Brust. Es war wie ein Muttergottesbild. Erschreckt lief ich nach Hause und erzählte es meinen Eltern, die mir nicht glauben wollten. Als ich einmal vor die Thür trat, kam ein Mädchen zu mir und fragte mich, ob wir etwas gesehen hätten; andern Tags sollten wir wieder in den Wald gehen und sagen: wir hätten etwas gesehen und die Erscheinung habe gesagt, es solle eine Capelle gebaut und gebetet werden; wir brauchten das nicht umsonst zu thun. Auf die Frage, was wir bekämen, sagte das Mädchen: „Ja, Ihr kriegt was.“ Dieses Mädchen wohnt im Eulenwald in Marpingen; es trug eine Jacke. So wahr ist das, was ich Ihnen gesagt,’ fügte sie hinzu, ‚daß, wenn der liebe Herrgott selber vor mir stände, ich dasselbe sagen würde.’

Dann erzählte sie weiter:

,Ich ging zum zweiten Mal in den Wald, stellte Fragen, erhielt aber keine Antwort, erzählte aber doch ganz so, wie das Mädchen mir gesagt hatte. Am dritten Tage bin ich wieder hingegangen, am vierten noch einmal, bis die Soldaten kamen; da hab’ ich nichts mehr gesehen.'

Hiernach bat mich das Mädchen, von diesen Bekenntnissen seiner Mutter und dem Pastor Neureuter keine Mittheilung zu machen, denn ‚die würden sonst böse’. Als ich bei der Ankunft in Marpingen am 30. November der Mutter der Margarethe sagte, sie sei von ihrem Kinde getäuscht worden, gerieth diese in convulsivisches Zucken, schlug sich an die Stirn und rief:

,Wenn das wäre, so ist sie mein Kind nicht mehr, aber es kann nicht sein.’

Nachdem ich die Frau beruhigt hatte, forderte ich das herbeigerufene Mädchen auf, nun auch seiner Mutter zu erzählen, was es mir erzählt habe. Da barg es sich an dem Kleide der Mutter und wollte kein Wort sprechen. Ich verlangte dann Antwort über jeden einzelnen Punkt des am Tage vorher gemachten Geständnisses. Auf jede meiner Fragen nickte das Mädchen ganz deutlich, wurde aber dabei fortwährend von der Mutter mit heftigen Schmerzensausrufen unterbrochen.

,Ich will nichts mehr von Dir wissen,’ stöhnte Frau Kunz; ‚wenn Du mich und alle Welt so belogen hast, bist Du mir fremd. – Ist’s denn wirklich wahr, was Du dem Doctor gesagt hast?’

Und die Antwort war: ‚Nein, es ist nicht wahr.’

Ich stand wie versteint angesichts dieser Zweizüngigkeit, sagte aber nichts mehr, als zu dem Kinde: nun sei es offenbar, daß man ihm nichts glauben könne. Ich ging hierauf mit Mutter und Kind in den Wald, um die Oertlichkeit zu besehen. Ohne die mindeste Scham und Scheu, und ohne daß sie meinerseits eine Einwendung erfuhr, erzählte Margarethe ihre alten vor mir widerrufenen Geschichten.

,So,’ sagte ich ihr, ‚jetzt muß ich mit Dir nach dem Eulenwald gehen, wo das Mädchen war.’

Da antwortete die Achtjährige mit einem gewissen impertinenten Aplomb:

‚Da brauchen Sie auch noch hinzugehen! Das war ja Alles erlogen.’

So kehrte ich mit ihr nach Saarbrücken zurück.“

Wir schließen hieran die Mitteilung einer späteren Unterredung, die Dr. Strauß am 6. December im Mariannen-Institut mit der Margarethe hatte, weil sie eine nothwendige Ergänzung zu dem Vorstehenden bildet; denn nun gestand sie wieder, daß alle Antworten, welche sie auf ihre Fragen an die Muttergottes erhalten habe, erlogen seien.

[285] „‚Wahr ist,’ erklärte sie, daß ich am 3. Juli etwas gesehen habe; es war ein weißer Schein, und dieser hatte die Gestalt einer sitzenden Frau; ich lief erschreckt mit den Kindern, die bei mir waren, nach Haus und erzählte es. Am zweiten Tag kam ich gegen fünf Uhr in den Wald, sah aber nichts; gegen sieben und acht Uhr sah ich einen weißen Schein, etwas größer als Tags vorher.’

Ich fragte, wie groß der Schein gewesen sein; sie sagte:

‚So groß wie der Stuhl, worauf Sie sitzen.’

‚War es eine menschliche Gestalt?’

‚Nein.’

‚Sprach etwas aus dem Schein?’

,Nein; ich stellte aber Fragen an ihn und hörte auch etwas.’

‚Aber wie konntest Du erwarten, daß der Schein, der keine menschliche Gestalt hatte, Dir Antwort geben würde?’

,Ich glaubte, wenn ich fragte, würde die Gestalt sich zeigen, wie vorher; ich glaubte, es müsse so sein, und habe auch gefragt, damit die Leute es hören sollten.’

Auf die Frage: ‚Wäschen (Frauchen), wer seid Ihr?’ habe sie die Antwort gehört. ‚Unbefleckt.’ Auf die Frage: ,Was ist Euer Begehr?’ habe der Schein geantwortet: ‚Beten und fromm;’ auf die Frage: ‚Sollen wir eine Capelle bauen?’ sei bejahende Antwort erfolgt; sie habe weiter gefragt, aus welcher Quelle getrunken werden solle (außer der an der Gnadenstätte im Walde befindet sich noch ein ‚Marienborn’ im Orte selbst, bei der Kirche), da habe sie das Wort ,Owe’ (oben) vernommen, woraus sie geschlossen, daß das die obere Quelle sein solle. Am dritten Tage habe sie nur einen Schein gesehen. An diesem Tage sei ein Kranker gekommen und habe unter ihrer, der Kunz, Führung seine Hand auf den Fuß der Erscheinung gelegt. Auf meine wiederholten Fragen hat die Kunz eingestanden, der Fuß sei auch ihr nicht sichtbar gewesen; sie habe nur so gethan. Sie räumte auch ein, Rosenkränze von den Leuten angenommen, eine Weile in der Tasche behalten und sie nachher unter dem Vorgeben, daß sie mit denselben die Erscheinung angerührt, den Eigenthümern wieder eingehändigt zu haben.“

Dr. Strauß, dessen Angaben wir hiermit schließen, fungirte bei der Untersuchung als vereideter Zeuge; er ist nicht der Einzige gewesen, der die freche Verlogenheit der Kinder gründlich kennen gelernt hat; mit ihm theilen diese Erfahrung der Saarbrücker Landgerichts-Präsident Schorn, die als Untersuchungsrichter fungirenden Assessoren Remelé und Kleber, die Vorsteherin des Mariannen-Instituts und eine ältere Zimmergenossin der Margarethe in dieser Anstalt. Auch hier wurde „unter dem Bewußtsein der Allgegenwart Gottes“ und „unter Thränen“ widerrufen, dann die Widerrufe zurückgenommen und auch wieder erneut.

Als die drei Kinder einmal, Anfangs October 1876, vor dem Criminalcommissar von Meerscheidt-Hüllessem verhört wurden und Margarethe Kunz ihre Erfindungen eben Stück für Stück verleugnet hatte, postirte diese Anstifterin der Uebrigen sich vor die letzteren hin und rief ihnen zu: „Saget nur die vollständige Wahrheit!“ Sämmtlich verneinten sie jetzt, überhaupt etwas gesehen oder Fragen an die Erscheinung gestellt zu haben. Am 26. desselben Monats hörte Jemand, wie die Kinder sich über ihre Geschichten unterhielten. „Ich sage es aber nicht mehr, denn die Leute glauben es doch nicht,“ erklärte das eine, worauf das andere „Einige glauben es doch noch“ erwiderte.

Als die erwähnte ältere Zimmergenossin der Margarethe Kunz im Mariannen-Institut, welche das freundschaftliche Zutrauen des Mädchens gewonnen hatte, diesem das Grundlose einer von ihm behaupteten neuen Erscheinung in der genannten Anstalt gleich am folgenden Morgen auf’s Schlagendste nachwies, suchte Margarethe zuerst den Glauben an ihr Vorgeben zu erbetteln, dann, als dies nicht gelingen wollte, sagte sie: „Dir kann man nichts weiß machen. Du bist nicht so dumm, wie die dummen Herren.“ Mit „die Herren“ bezeichnet das Volk die Geistlichen. Auf die spätere Frage derselben Zimmergenossin an die Kunz, was sie denn eigentlich gesehen habe, ließ diese sich vorerst das Gelöbniß der Geheimhaltung geben und erklärte dann rund heraus. „Es war lauter Unsinn und Trug. Dich habe ich zu gern, als daß ich Dich belügen könnte.“

Die Untersuchung hat keinen Zweifel gelassen über das Senfkorn, aus welchem mit all seinem Gezweige der Lügenbaum emporwuchs, unter den die Völker zu wohnen kamen – nicht nur die Bauern und Bürger zu Tausenden, sondern auch Leute, die auf der Menschheit Höhen stehen: Erzherzog Ludwig Victor, der jüngste Bruder des Kaisers Franz Joseph von Oesterreich, die Fürstin Helene Karoline von Thurn und Taxis, Tochter des Herzogs Maximilian Joseph in Baiern, ältere Schwester der österreichischen Kaiserin, Edmund Prinz von Radziwill, Vicar zu Ostrowo etc. etc.. Auf dieses Senfkorn deutet eine vor der Vorsteherin des Mariannen-Instituts gemachte vertrauliche Aussage der Margarethe Kunz hin: sie hat in einem Buche gelesen, daß andere Leute solche Erscheinungen gehabt haben, und da kam ihr der Gedanke. „Warte, das sagst Du aber auch so einmal!“

Mögen die Reden und Widerreden der Margarethe Kunz strotzen von Lügen – dieses Eine hat sie sicher nicht erfunden. Wie wir unter den Studienköpfen in dem Atelier eines Malers oder Bildhauers sofort diejenigen herauskennen, zu welchen die lebendige Natur, ein individuelles Original, die Züge geliehen hat, so drängt sich bei der angeführten Aeußerung uns sofort die Gewißheit auf, daß wir in ihr den Embryo des ganzen Wundergebildes vor uns haben. Das Uranfängliche war eine freiwillige Lüge; die weitere Ausschmückung entwickelte sich dann theils in der Phantasie des Kindes bei dem vorwitzigen Nachforschen nach den Einzelheiten des Gesehenen, theils wurde es den „Begnadigten“ geradezu auf die Zunge gelegt. Zeugeneidlich ist erhärtet, daß die an die vorgebliche Erscheinung gerichteten Fragen: ob eine Capelle gebaut werden solle, ob diese von Holz oder von Stein sein müsse, ob Kranke geheilt würden etc., der Wortführerin Margarethe Kunz von bigotten Weibsbildern – z. B. der Lehrerin Andrée – in den Mund gegeben wurden. Auch in der Schule war von den Muttergottes-Erscheinungen an den früher genannten Orten als von ebenso vielen Manifestationen der nahen göttlichen Hülfe für die „bedrängte Kirche“ mehr als einmal die Rede gewesen.

Und trotz all diesem himmelschreienden Blödsinn, trotz erhaltener Kenntniß von den Widerrufen der Kinder verharrten Pastor Neureuter und seine benachbarten Amtsbrüder im Glauben an das ihren Heerden widerfahrene himmlische Heil, und zwar auf Grund der – „Glaubwürdigkeit der Kinder“! Erst als nach dem 2. Juli 1877 noch vierzehn andere Kinder aus Marpingen ebenfalls übernatürliche Gesichte haben wollten, da wurde es dem guten Neureuter, zu dessen Rechtfertigung selbst sein Vertheidiger Dr. J. Bachem nichts Besseres zu sagen wußte, als: man könne Niemanden darob bestrafen, daß er nicht kritisch veranlagt und seinem Posten nicht gewachsen sei, doch zu viel; Ende 1877 sagt er in einem Schriftstücke. „Mit den Concurrenzkindern ist es nichts, aber das Andere beruht auf Wahrheit; das kommt von Gott.“

Diese Concurrenzkinder, von denen drei zehn- bis elfjährige bei der öffentlichen Verhandlung am 13. März vernommen wurden, trieben die Sache in der That zu bunt selbst für die crasseste Gläubigkeit. Die ursprünglich Begnadigten warteten wenigstens ihre Besuche aus Himmel und Hölle ab, und zwar auf Erden – auch der Teufel ließ es sich nicht nehmen, ihnen zu erscheinen, wie sie ihn denn einmal auf Geheiß der gleichzeitig anwesenden Muttergottes mit einem geschwungenen Stiefel zur Thür hinausprügelten, darauf mit wurmstichigen Aepfeln warfen und zuguterletzt dem unglücklichen Beelzebub, als er über den draußen ihn durchnässenden Regen klagte, die Hohnrede zuwarfen: er möge „in die Hölle zurückfahren, da sei es trocken und warm“. Die Concurrenzkinder dagegen hatten ihre Gesichte nicht nur andauernd bis zum Vorabend und sogar bis zum Tage ihres gerichtlichen Verhörs, sondern sie stiegen auch in eigener Person hinauf in den Himmel und hinab an der Hölle vorbei. „Im Himmel,“ sagte die Concurrentin Anna Thomé, wie früher vor dem Untersuchungsrichter, so später auf Befragen des Präsidenten, „da ist es schön. Da war der liebe Gott mit langem grauem Bart und der heilige Geist und Engel und Seelen. Die Seelen waren weiß. Der heilige Geist hatte die Gestalt einer Taube; er flog oben an der goldigblauen Himmelsdecke herum. In die Hölle habe ich nur hineingesehen, als ich aus dem Himmel kam; darinnen war’s schwarz und ein großes Feuer. Eine Seele habe ich daraus erlöst, indem ich sie fragte, womit ihr zu helfen sei, und die verlangten fünf Vaterunser dann gebetet habe.“

Wen es nach Allem, was wir gesagt haben, noch gelüstet, [286] mit den Augen der Wunderkinder tiefere Einblicke in die ihnen offen stehenden Regionen zu thun, den verweisen wir auf die Broschüren der theilweise schon genannten Marpinger Apologeten N. Thoemes, F. Düke, W. Cramer, Prinz E. Radziwill und Dr. Rebbert. Mit Ausnahme des Erstgenannten sind sie sämmtlich Geistliche. Aus der Schrift des Letzterwähnten, eines ehemaligen Privatsecretärs des Bischofs Martin und nunmehrigen Professors an der theologischen Facultät zu Paderborn erfahren wir auch, daß selbst die diabolischen Einflüsse in die Marpinger Offenbarungen nur ad majorem Dei gloriam dienten. „Daß der Teufel,“ schreibt Dr. Rebbert, „auch in Marpingen für sich zu profitiren suchen würde, war von vornherein so sicher anzunehmen, daß ein mir bekannter sehr tüchtiger Theologe eben auf Teufelserscheinungen wartete, als auf eine neue Bestätigung für die Wahrheit der Muttergotteserscheinungen. Auch in Dittrichswalde haben wir ja Beides zusammen. Solches verwundert den Unterrichteten nicht. Im Gegentheil würde es uns wundern und befremden, wenn der Feind Gottes und der heiligen Jungfrau hier ruhen würde. Er sucht bei solchen Gelegenheiten Verwirrung zu stiften und für sich Beute zu machen.“ Der Caplan und Redacteur W. Cramer seinerseits schlägt alle etwa aus dem läppischen Betragen des erschienenen Beelzebub in seinen Lesern aufsteigenden Bedenken nieder mit dem einen kräftigen Satze: „Der Teufel macht ja oft dumme Geschichten“.

Als die drei ursprünglich begnadigten Mädchen – außer der oftgenannten M. Kunz die Leist und die Hubertus – einmal im Härtelwalde die ihnen zu diesem Zwecke von einer Lehrerin in den Mund gegebene Frage an die Erscheinung richteten: warum nur gerade sie des Schauens gewürdigt seien, da referirte die Kunz als Antwort der Muttergottes: „Weil sie unschuldige Kinder sind.“ Es war deshalb gewissermaßen eine Inconsequenz der Madonna, daß sie auch einigen invaliden verheiratheten Bergleuten, wie diese behaupten, sichtbar geworden ist. Aber auch das lag gewiß so im Plane der göttlichen Heilsökonomie, denn diese Bergleute spielten theilweise auch die wunderbar Geheilten und legten als solche den Grundstein für die Reputation Marpingens als Curort.

Selbstverständlich ist von den wunderbaren Heilungen, welche zu Marpingen vor sich gegangen sein sollten, bei näherer Prüfung der vom Gerichte gehörten ärztlichen Sachverständigen so gut wie nichts übrig geblieben. Schon vor der großen Verhandlung zu Saarbrücken waren Einzelne, die plötzliche Heilung in Marpingen gefunden zu haben vorgaben, gerichtlich wegen Betrugs bestraft worden, indem das Lügenhafte ihres Vorgebens, wie die gewinnsüchtige Absicht ihnen nachgewiesen werden konnte. In anderen Fällen fanden die als Sachverständige gehörten Aerzte eine vielleicht eingetretene Besserung aus natürlichen Ursachen ganz erklärlich. Von Andern, wie z. B. von den Verwandten der Gräfin Spee, bekannte man freimüthig, daß nicht einmal momentane Besserung eingetreten sei, dem inbrünstigsten Glauben und Beten zum Trotze; noch Andere waren nach der vermeintlichen Heilung oder doch Linderung ihrer Leiden denselben wieder völlig verfallen oder gar daran gestorben. Im Uebrigen aber deckte bezüglich dieser Heilungswunder der Monstre-Proceß einen wahren Rattenkönig von Lug und Trug auf. In den ersten Monaten des Schwindels füllten die Erklärungen der angeblich Geheilten täglich die frommen Blätter; diese sämmtlichen Erklärungen – bis auf eine einzige – waren von Geistlichen fabricirt und von den betreffenden „Erklärern“ nur unterzeichnet worden, ohne daß diese oft auch nur recht wußten, was darin stand!

Es hatte bei dem Marpinger Schwindel auch nicht an einem Beispiel des Strafgerichts über die Ungläubigen gefehlt. Als solches hatte ein Unfall, der die Pferde des Kaufmanns Fischer zu Ottweiler ereilte, herhalten müssen. Kaufmann Fischer, so erzählte man seinerzeit der gläubigen Welt, habe seinem Knechte befohlen, Holz im Walde zu holen. Der Knecht erwiderte, die Fuhre sei zu schwer für die vorgespannten zwei Pferde. „Dann kann ihnen die Marei von Marpingen ziehen helfen!“ habe Fischer spottend erwidert. Der Knecht erfüllte des Herrn Geheiß, und ein Pferd stürzte und verendete nach dem andern. Nun habe Fischer seinen Leuten Strafe angedroht, wenn sie von der Sache als von einem „Strafgericht“ reden würden. Bei der Section der zwei Pferde sei bei keinem derselben eine Spur von Krankheit zu finden gewesen.

Pastor Neureuter vergaß, als er die Geschichte in sein Notizbuch eintrug, nicht, dabei zu bemerken, daß Fischer Protestant sei. Das ist zwar nicht wahr, aber es machte sich doch gut. Und was war nun der Kern der Sache, wie er sich bei der öffentlichen Verhandlung documentirte? Die Pferde sind in der That gefallen, eins nach dem andern. Die Geschichte passirte am 9. Juli; am 12. Juli erst erfuhr Fischer von den Marpinger Wundern, er konnte sie also nicht schon drei Tage vorher zum Gegenstande einer spöttischen Aeußerung gemacht haben. Den Tod der Thiere hatte der Knecht verschuldet, indem er sich willkürlich an einem Orte unterwegs aufhielt und dann das Gespann übermäßig antrieb, um einige voraufgefahrene Cameraden wieder einzuholen. Der Veterinärarzt fand die Magen der Pferde geplatzt und Rückstände von grobem Kleienfutter in denselben; die heftige Anstrengung nach dieser Fütterung, dabei unzeitiges Tränken hatten bei beiden Thieren dieselben Folgen: es entwickelten sich ungewöhnlich viel Gase in ihren Verdauungswerkzeugen und zerrissen dieselben.

Die Vorbereitung des Processes hat dritthalb Jahr in Anspruch genommen, Bände von Actenstücken und Verhörprotokollen thürmten sich auf; noch in den Tagen vom 3. zum 15. März wurden 170 Zeugen verhört, aber die Welt ist nun auch im Klaren aber den Kern der Erscheinung.

Die „Civiltà cattolica“, das am besten beglaubigte der kirchlichen Preßorgane, schrieb noch am 3. November 1877: „Gott kann ja nie zulassen, daß Millionen guter Katholiken ein ganzes Jahr lang durch falsche Wunder getäuscht werden sollten.“ Angesichts der Saarbrücker Enthüllungen wird die „Civiltà cattolica“, mag sie sich äußerlich gebehrden wie sie will, innerlich doch wünschen, sie hätte „unsern Herrgott aus dem Spiel gelassen“.

Auch die „Kreuzzeitung“ meinte (im Sommer 1876) freilich, „die Marpinger Affaire könne leicht den Minister Falk stürzen“, aber die Hoffnungen der „Civiltà“ gingen doch noch viel weiter. „Mächtiger als die Armeen des Kaiser Wilhelm," so las man in ihrer Nummer vom 19. August 1876, „wird die heilige Jungfrau den Ort, welchen sie sich zur Offenbarung ihrer übernatürlichen Kraft ausgewählt hat, zu vertheidigen wissen. Das katholische Deutschland jubelt, da es sieht, daß die von ihm so hochverehrte Jungfrau ihm die Gnade erweist, es zu besuchen. Die allerheiligste Jungfrau hat eine große Aufgabe unter den Deutschen zu erfüllen, nämlich die Ketzerei und den Unglauben der Protestanten zu überwinden. ‚Besiegerin der Irrlehre und der Glaubenslosigkeit’, das ist der richtige Name für unsere liebe Frau von Marpingen.“ Sie hat ihm wenig genug Ehre gemacht!

Die Urtheilsverkündung war am 15. März auf drei Wochen vertagt worden und erfolgte demgemäß am 5. April. Das Erkenntniß, dessen Verlesung wegen der ausführlichen Erwägungsgründe zwei Stunden in Anspruch nahm, lautet für sämmtliche Beschuldigte freisprechend; es charakterisirt die vorgeblichen Erscheinungen als „schändliche Täuschung“ und führt dann aus: an dieser Täuschung hätten die Eltern der Kinder und andere Beschuldigte Theil genommen und sie unterstützt, jedoch habe die zur Verurtheilung erforderliche böse Absicht, betrügerischen Gewinn aus dieser Täuschung zu ziehen, nicht nachgewiesen werden können. Das gerichtliche Urtheil ist in dieser Angelegenheit von keinem Gewicht mehr, nachdem die Untersuchung den moralischen Verdammungsspruch gegen die erwachsenen Theilnehmer derselben hundertfach hervorgerufen. Es war abermals ein Sieg des Lichts über die Finsterniß. Wie viel solcher Siege werden wir in Deutschland noch erringen müssen, ehe auch im Volke die Köpfe hell genug sind, um den Versuchen der Dunkelmänner widerstehen zu können? Leider ist es, wie bei den Höhen und Tiefen der Natur, so auch im Geistesleben der Menschen: die Höhen beleuchtet die Sonne bald – aber „die Nacht weicht langsam aus den Thälern“.



  1. Angesichts des soeben gesprochenen Urtheils über die Veranstalter der Muttergottes-Erscheinung in Marpingen und deren Mitschuldige dürfte ein nochmaliges Zurückkommen auf diese Kundgebung des modernen Religionsschwindels, dem wir bereits in unserer Nr. 40 von 1877 einen eingehenden Artikel widmeten, an der Zeit sein. Wir bringen die nunmehr abgeschlossene Angelegenheit mit obigem Culturbild aus berufener Feder auch für unsere Leser zum Abschluß.
    Die Redaction.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: 1879, Nr. 2