MKL1888:Wolken, leuchtende

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Wolken, leuchtende“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 19 (Supplement, 1892), Seite 987988
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Wolken, leuchtende. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 19, Seite 987–988. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Wolken,_leuchtende (Version vom 15.04.2024)

[987] Wolken, leuchtende. Seit dem Sommer 1885 ist in unsrer Atmosphäre eine früher noch nicht beobachtete Erscheinung sichtbar gewesen, welche seitdem alle Jahre in der Zeit von Ende Mai bis Anfang August regelmäßig wiedergekehrt und von Jesse mit dem Namen „leuchtende (silberne) Nachtwolken“ bezeichnet worden ist. Zum erstenmal wurde sie in Norddeutschland in der Nacht vom 23. zum 24. Juni 1885 gesehen, in Prag war sie bereits 10. Juni beobachtet, trat aber nicht an jedem wolkenfreien Abend oder Morgen auf, sondern zeigte sich nur in Zwischenräumen von 8–14 Tagen und war dann mehrere Nächte hintereinander sichtbar, bis sie gegen Ende Juli plötzlich verschwand. Seitdem wurden die leuchtenden Nachtwolken alle Jahre in der Zeit von Ende Mai bis Ende Juli oder Anfang August ganz in derselben Weise wie im J. 1885 gesehen. Dabei zeigte die ganze Erscheinung von Jahr zu Jahr eine entschiedene Abnahme, welche sich nicht nur darin geltend machte, daß sie seltener auftrat, sondern auch darin, daß das Leuchten der Wolken in den folgenden Jahren später als in den frühern begann, und daß die Erscheinung nicht mehr wie in den ersten Jahren über den größten Teil des Himmels ausgedehnt war.

Nach der Beschreibung von Jesse zeigt die ganze Erscheinung, wenn sie überhaupt auftritt, folgenden Verlauf: Einige Zeit nach Sonnenuntergang bildet sich innerhalb des Dämmerungssegmentes, d. h. desjenigen Teiles des Himmels, welcher nach Untergang oder vor Aufgang der Sonne von ihren Strahlen beleuchtet wird und als verwaschener Halbkreis im Dämmerlicht erscheint, eine cirrusartige Bewölkung, die sich durch eine ungewöhnliche Helligkeit auszeichnet. Am Abend nimmt die Erscheinung ihren Anfang, wenn sich die Sonne etwa 10° unter dem Horizont befindet und der Dämmerungsbogen eine Höhe von 20° über dem Horizont hat, und bleibt gewöhnlich so lange sichtbar, als die Dämmerung anhält. Morgens ist der Verlauf umgekehrt. Anfänglich sind die Wolken mehr oder weniger über den ganzen Himmel verbreitet, sind aber wenig bemerkbar, bis sich die Erscheinung bei abnehmendem Tageslicht und tiefer unter den Horizont sinkender Sonne allmählich nach NW. zurückzieht, während der Glanz der Wolken zunimmt und seine größte Helligkeit erreicht, wenn sich die Ausdehnung der Erscheinung so weit vermindert hat, daß ihre obere Grenze im NW. nur noch eine Höhe von etwa 15° hat. Tritt das Aufleuchten der Wolken, wie es in den spätern Jahren der Fall war, später als eine Stunde nach Sonnenuntergang ein, so wird die Erscheinung überhaupt nur am nordwestlichen Himmel gesehen.

Im allgemeinen haben die leuchtenden Wolken ein ähnliches Aussehen wie gewöhnliche Cirrus- oder Federwolken, unterscheiden sich aber von ihnen in einem wesentlichen Punkt, an dem sie sofort zu erkennen sind. Wenn Cirruswolken innerhalb des Dämmerungssegmentes vorkommen, so sind sie, mit Ausnahme von etwa der ersten 15 Minuten nach Sonnenuntergang, dunkler als der Teil des Dämmerungssegmentes, in welchem keine Cirruswolken vorhanden sind, dagegen sind die leuchtenden Nachtwolken immer heller als der sie umgebende Dämmerungshimmel. Außerdem verschwinden gewöhnliche Cirruswolken nicht, wenn sie sich außerhalb des Dämmerungssegmentes befinden, sondern verändern nur ihr Aussehen, indem sie heller erscheinen als der sie umgebende Nachthimmel, wogegen die leuchtenden Wolken vollständig verschwinden, sobald die Grenze zwischen dem Dämmerungs- und dem Nachthimmel über sie hinweggeht und nur der Teil sichtbar bleibt, welcher innerhalb des Dämmerungssegmentes liegt. Die Farbe der leuchtenden Nachtwolken kann als ein silberartiges Weiß bezeichnet werden, welches in der Nähe des Horizontes in Goldgelb übergeht.

Ein andrer Hauptunterschied zwischen den gewöhnlichen Cirruswolken und den leuchtenden Wolken besteht darin, daß, wenn auch die erstern die größte Höhe besitzen, welche bei den gewöhnlichen Wolken überhaupt vorkommt, diese 13 km nicht übersteigt, die leuchtenden Wolken dagegen sich in einer viel größern Höhe befinden. Unter der Voraussetzung, daß das Leuchten der Wolken durch Reflexion der Sonnenstrahlen hervorgerufen wird, und daß das Verschwinden derselben eintritt, wenn der Erdschatten über die das Licht reflektierenden Teilchen hinweggeht, wurde ihre Höhe aus den Beobachtungen der Jahre 1885 und 1886 zu 50–60 km bestimmt. Aus später angestellten photographischen Aufnahmen ist dieselbe noch größer gefunden worden, und zwar hat sie sich bei Benutzung einer verhältnismäßig kleinen Basis (Berlin-Potsdam) 1887 zu 75 km und aus Beobachtungen, die an weiter auseinander gelegenen Orten angestellt wurden, im Sommer 1889 zu 83 km und im Sommer 1890 zu 82 km ergeben. Die Höhe von verschiedenen Punkten der Wolken differieren bei diesen Bestimmungen nur um 3 km, so daß die Annahme gerechtfertigt erscheint, daß ihre Mächtigkeit nicht mehr als einige Kilometer betragen kann. Eine vertikale Bewegung der leuchtenden Wolken war bei diesen Untersuchungen nicht erkennbar, wohl aber eine horizontale, für deren Geschwindigkeit sich verschiedene Werte ergaben. Aus den im J. 1890 gemachten photographischen Aufnahmen wurde für die Richtung der Bewegung die Hauptkomponente von O. nach Westen und ihre Geschwindigkeit gleich 100 m in der Sekunde gefunden und außerdem eine kleinere und veränderliche Komponente in der Richtung des Meridians von N. nach S. bestimmt.

Zu erwähnen ist noch, daß sich das Aussehen der leuchtenden Nachtwolken bei der mit den Jahren eingetretenen Abnahme der Erscheinung auch noch insofern geändert hat, daß gewisse Strukturverhältnisse der Wolken wahrnehmbar geworden sind, die sich als Grat- und Rippenbildungen kennzeichnen lassen und dadurch erklärt werden können, daß die Ansammlung der Massenteilchen, durch welche die leuchtenden Nachtwolken erzeugt werden, immer dünner und dünner geworden sind. Die Grate oder Längenstreifen gehen parallel mit der Bewegungsrichtung der Wolken, die Rippen oder Querstreifen stehen auf ihr senkrecht und haben einen mittlern Abstand von 8,9 km.

Nachdem die Erscheinung der leuchtenden Nachtwolken zuerst im Sommer 1885 in Deutschland gesehen war, wurden sie später auch in andern Gegenden der nördlichen Halbkugel beobachtet, so im J. 1889 in Nordamerika, Holland, im Kanal, der Schweiz und auch wieder in Deutschland. Von ganz besonderm [988] Interesse ist es, daß die leuchtenden Wolken, wie sie in den Sommermonaten auf der nördlichen Halbkugel auftraten, im Dezember auch auf der südlichen Halbkugel gesehen wurden. Weil diese in den entsprechenden Breiten weniger Land besitzt als die nördliche Halbkugel, so ist es nicht wunderbar, daß die leuchtenden Nachtwolken dort viel seltener beobachtet sind, doch sind sie sowohl in Punta Arenas unter dem 53. Breitenkreise an der Südspitze von Südamerika im Dezember 1888 als auch auf dem Meere während der Sommer 1887 und 1888 in südlichen Breiten gesehen worden.

Die Erscheinung der leuchtenden Nachtwolken steht wahrscheinlich mit dem vom 26. zum 27. Aug. 1883 erfolgten Ausbruch des Krakatoa im Zusammenhang und findet nach der Ansicht von Jesse durch die dabei eingetretenen Vorgänge ihre Erklärung. Nach einer Schätzung von Verbeek hat die Höhe, bis zu welcher die Auswurfsmassen bei diesem vulkanischen Ausbruch emporgeschleudert wurden, 15–20 km betragen, eine Annahme, die mit den Untersuchungen über die Höhe der roten Dunstschicht, durch deren Beleuchtung durch die Sonne die eigentümlichen schönen Dämmerungserscheinungen in den Jahren 1883–87 hervorgerufen wurden, im Einklang steht. Die Auswurfsmassen haben ebensowohl aus festen, staubartigen, wie auch aus gasartigen Teilchen bestanden, von denen die letztern, mit der Luft vermischt, nach allen Richtungen hin auseinander getrieben sein werden. Es ist nun wohl denkbar, daß die in die höhern Schichten der Atmosphäre gelangten Gasteilchen wegen der dort herrschenden niedrigen Temperatur in den tropfbaren Zustand übergehen können und so lange unsichtbar bleiben, als sie über einen großen Teil der Atmosphäre zerstreut sind, daß, wenn sie sich aber infolge ihrer gegenseitigen Anziehung auf einem kleinern Gebiete zu einer Hauptmasse vereinigen, sie die Erscheinung der leuchtenden Nachtwolken infolge der Beleuchtung durch die Sonne hervorbringen können. Daß die leuchtenden Nachtwolken zum erstenmal erst 13/4 Jahre nach dem Ausbruch des Krakatoa gesehen worden sind, kann nicht als Grund gegen die ausgesprochene Ansicht über die Art ihrer Entstehung angeführt werden, da eine längere Zeit dazu erforderlich ist, bis sich derartige Vorgänge in der Atmosphäre vollziehen können. Daß die leuchtenden Nachtwolken auf der nördlichen Halbkugel nur um die Zeit des Sommersolstitiums zu sehen gewesen sind, kann nach Jesse seine Erklärung darin finden, daß der Weltraum nicht leer, sondern von Luftarten erfüllt ist, welche die Planeten umgeben, aber freilich in sehr verdünntem Zustande, und daß diese ein widerstehendes Mittel bilden, in welchem die Bewegung der Erde um die Sonne stattfindet. Bei der Bewegung der Erde auf ihrer Bahn bleibt dieses widerstehende Medium gegen die Erde zurück, und daher wird eine ununterbrochene, aber langsame Erneuerung der Atmosphäre in ihren obersten Schichten erfolgen, und zwar wird auf derjenigen Erdhälfte, die der Bewegung zugekehrt ist, ein Zufluß, auf der entgegengesetzten ein Abfluß stattfinden, welche sich als eine schwache Strömung in den Schichten der Atmosphäre von 20–100 km Höhe geltend machen. Wegen der verschiedenen Stellung der Erdachse gegen die Bewegungsrichtung der Erde auf ihrer Bahn ist die Richtung dieser Strömung in den einzelnen Jahreszeiten verschieden, und zwar wird mit Berücksichtigung der Rotation der Erde vom 21. Dez. bis 21. Juni eine schwache und langsame Strömung von S. nach N. und in dem nächsten Halbjahr in umgekehrter Richtung eintreten. Diese Strömung ist zur Zeit der Solstitien am schwächsten, zur Zeit der Äquinoktien am stärksten. Weil nun die in der Luft schwebenden Teilchen an dieser Strömung teilnehmen, so werden die leuchtenden Nachtwolken auf der nördlichen Halbkugel nur im Juni und Juli und auf der südlichen Halbkugel ein halbes Jahr später sichtbar werden. Aus dieser Erklärung würde auch folgen, daß die Erscheinung der leuchtenden Nachtwolken im Laufe der Jahre abnehmen muß, denn wenn die feinen Körperchen von der Strömung, welche durch die Bewegung der Erde in dem widerstehenden Medium hervorgerufen wird, erfaßt und außerhalb des Bereiches der Erdatmosphäre fortgeführt werden, wird die Masse der leuchtenden Nachtwolken allmählich abnehmen und dadurch die Erscheinung von Jahr zu Jahr immer mehr verschwinden.