Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Stengel“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 15 (1889), Seite 286288
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Stengel. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 15, Seite 286–288. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Stengel (Version vom 21.09.2022)

[286] Stengel (Caulis, Kaulom, Stamm, Achse), eins der morphologischen Grundorgane der Pflanzen, in der Fähigkeit dauernder Verjüngung an seiner Spitze mit der Wurzel übereinstimmend, aber durch den Besitz von Blättern wesentlich verschieden. Man beschränkt gewöhnlich das Vorkommen des Stengels im Pflanzenreich auf die deshalb so genannten stammbildenden Pflanzen (Kormophyten), welche, alle Gewächse von den Moosen an aufwärts umfassend, den Thallophyten gegenübergestellt sind, denen man den S. abspricht und einen Thallus beilegt.

Der S. ist an den Seiten immer mit Blättern besetzt; beim sogen. blattlosen S. sind in Wahrheit die Blätter entweder nur auf ganz unscheinbare Rudimente reduziert, oder umfassen ihn als bloße Scheiden nur am Grund, oder der vermeintlich blattlose S. ist nur das zu ungewöhnlicher Länge gestreckte Zwischenstück zwischen je zwei einander folgenden Blättern. Die Stellen des Stengels, an welchen ein Blatt sitzt, die Knoten (nodus), sind nicht selten durch eine knotenartige Verdickung und oft auch durch andre anatomische Beschaffenheit ausgezeichnet, insbesondere bei hohlen Stengeln mit Mark erfüllt. Das zwischen je zwei aufeinander folgenden Knoten liegende Stück heißt Stengelglied (Internodium). Das aus dem Blatt in den S. übertretende Gefäßbündel wird als Blattspur bezeichnet. Die im jugendlichen Zustand an der Stengelspitze dicht zusammengedrängten Blätter rücken erst bei der weitern Ausbildung in der Regel mehr auseinander, indem die Stengelglieder sich strecken. Bei Stengeln, deren Internodien unentwickelt bleiben, stehen alle Laubblätter unmittelbar über der Wurzel und heißen deshalb Wurzel- oder Grundblätter, während man solche Pflanzen ungenau stengellose Pflanzen (plantae acaules) nennt. Auch die Knospen, die Köpfchen, die Blüten sind Beispiele für S. mit verkürzten Internodien. Einen sehr hohen Grad erreicht die Streckung der Stengelglieder z. B. bei den Pflanzen mit windenden Stengeln, bei den fadendünnen Ausläufern und beim Schaft (scapus), welcher ein einziges, ungemein gestrecktes Internodium eines aus der Achsel [287] von Wurzelblättern entspringenden, eine Blüte oder einen Blütenstand tragenden Sprosses darstellt.

Der S. ist in Bezug auf seine Seitenorgane (Blätter, Haare) das Primäre; jene entstehen erst auf diesem. Wenn man die in der Fortbildung begriffene Spitze des Stengels der Länge nach durchschneidet, so sieht man, daß der S. in eine halbkugel- bis schlank kegelförmige Kuppe endigt (Fig. 1), auf deren Oberfläche noch keinerlei seitliche Organe vorhanden sind. Dieser Vegetationspunkt (punctum vegetationis) bewirkt durch seine zellenbildende Thätigkeit die Fortbildung des Stengels in die Länge. Erst ein mehr oder minder großes Stück unterhalb des Scheitels (Fig. 1 ss) desselben zeigen sich auf seiner Oberfläche sanfte Höcker, die wir, nach rückwärts verfolgend, bald in größere Gebilde übergehen sehen und als die ersten Anlagen der Blätter erkennen. Die ganze fortbildungsfähige Spitze eines Stengels samt den daran sitzenden, den Vegetationspunkt bedeckenden jungen Blättern (Fig. 1 pb) nennt man Knospe (s. d.). Der Vegetationspunkt ist aus lauter gleichartigen, sehr kleinen, polyedrischen, dünnwandigen,

Fig. 1. Längsschnitt durch die Stengelspitze eines Keimlings von Phaseolus. ss Scheitel, pb Teile der ersten beiden Blätter, k deren Achselknospen, m inneres Gewebe des Stengels.

reichlich mit Protoplasma erfüllten, sämtlich in Teilung begriffenen Zellen zusammengesetzt, welche das sogen. Urparenchym oder -Meristem darstellen, aus welchem allmählich die Gewebe (Fig. 1 m) durch entsprechende Ausbildung der Zellen hervorgehen. Bei den Gefäßkryptogamen und einigen Phanerogamen gibt es im Scheitel des Vegetationspunkts eine Scheitelzelle, welche durch regelmäßige Teilungen stetig Zellen bildet, und von welcher alle Zellen des Meristems und somit des ganzen Stengels abstammen. Bei andern Phanerogamen bilden sich dagegen im Vegetationspunkt gewisse Gewebe selbständig und unabhängig voneinander fort, so daß keine Scheitelzelle anzunehmen ist.

Bei den meisten Pflanzen verzweigt sich der S., d. h. er erzeugt an seiner Seite neue Vegetationspunkte, die sich fortentwickeln zu einer neuen, der ersten gleichen und am Grund mit ihr zusammenhängenden Achse, welche in Bezug auf jene den Zweig oder Ast (ramus) bildet. Bei der normalen Verzweigung des Stengels bilden sich die Vegetationspunkte der Zweige frühzeitig, schon in der Nähe der Spitze des Stengels und meist in regelmäßiger Stellung. Von dieser Verzweigung, auf welcher hauptsächlich die Architektonik der ganzen Pflanze beruht, muß man diejenigen Zweige unterscheiden, welche aus Adventivknospen (s. Knospe) hervorgehen, da diese fern von der Spitze des Stengels, an ältern Teilen, ohne bestimmte Ordnung und oft durch zufällige äußere Einflüsse veranlaßt entstehen. Bei jeder normalen Verzweigung treten die neuen Vegetationspunkte meist in der Achsel der Blätter auf, und zwar an der Oberfläche des Stengels (Fig. 1 k). Daher ist die Stellung der Zweige von der Blattstellung abhängig und zeigt dieselbe Regelmäßigkeit wie diese. Indessen erzeugen meist nicht alle Blätter in ihrer Achsel eine Knospe, und noch weniger oft bilden sich alle angelegten Knospen zu wirklichen Zweigen aus. Die Verzweigung des Stengels erfordert die Unterscheidung von Hauptachse und Seiten- oder Nebenachsen oder, da man jede einzelne Achse samt allen ihren Blättern Sproß nennt, von Haupt- und Seitensprossen. Insofern aber die Nebenachsen sich abermals verzweigen u. s. f., spricht man von Nebenachsen erster, zweiter etc. Ordnung. Nach dem Ursprung der Achsen und nach dem Grad ihrer Erstarkung unterscheidet man folgende Arten der Verzweigung: 1) Wenn die Hauptachse in gleicher Richtung sich fortbildet und stärker bleibt als alle ihre Nebenachsen, so nennt man

Fig. 2. Verzweigungsarten des Stengels.

ein solches Verzweigungssystem monopodial oder ein Monopodium; es ist die gewöhnlichste Form. 2) Wenn der S. aber an einem Punkt endigt und daselbst in zwei ihm und einander nahezu gleich starke, in der Richtung divergierende Zweige sich teilt, so heißt er gabelig verzweigt oder dichotom (caulis dichotomus), die Verzweigungsform Dichotomie. Dieses Verhältnis kann auf dreierlei Weise zu stande kommen. Entweder beruht es nur auf einer Modifikation der monopodialen Verzweigung und wird dann falsche Dichotomie genannt, wenn nämlich eine Nebenachse sich ebenso stark entwickelt wie die Hauptachse und die letztere in ihrer Richtung etwas zur Seite drängt (Fig. 2 C, wo aaa die Hauptachse, bb die Nebenachsen), oder wenn unter der Spitze der Hauptachse, deren Gipfelknospe entweder sich nicht ausbildet, oder welche durch eine Blüte abgeschlossen ist, zwei gegenüberstehende Seitensprosse sich entwickeln und in demselben Grad wie der Hauptsproß erstarken (Fig. 2 B, Mistel). Oder aber es liegt eine echte Dichotomie vor, ein seltener bei den Selaginellen und Lykopodiaceen vorkommender Fall, der gar nicht auf der Bildung von Nebenachsen, sondern darauf beruht, daß das Wachstum am Scheitel des [288] Stengels in der bisherigen Richtung aufhört und daneben in zwei divergierenden Richtungen sich fortsetzt, indem der Vegetationspunkt selbst in zwei neue sich teilt (Fig. 2 A, Bärlapp). 3) Die Scheinachse (sympodium), wenn der S. in seiner Fortbildung an der Spitze unterbrochen wird, dafür aber die der Spitze nächste Seitenachse das Wachstum in gleicher Richtung fortsetzt und dies nach einem oder einer Reihe von Internodien sich wiederholt (Fig. 2 D, wo a die Hauptachse, bb′ die aufeinander folgenden Nebenachsen), so daß der scheinbar Einer Achse angehörige Sproß aus successiven Nebenachsen verschiedenen Grades zusammengesetzt ist.

Der Grad der Verzweigung und die Ausbildungsform der einzelnen Sprosse, die Sproßfolge, beginnen in ihrer Entwickelung bei phanerogamen Pflanzen an dem Keimling. Das Stengelchen desselben erwächst zur Hauptachse. In seltenen Fällen schließt schon diese mit einer Blüte ab, und der S. kann dabei einfach bleiben, so daß die Pflanze nur aus einer einzigen Achse besteht und als einachsige bezeichnet wird. Zweiachsige Pflanzen sind dagegen diejenigen, bei

Fig. 5. Stengel
von
Opuntia.
Fig. 6. Phyllokladien von
Ruscus aculeatus.
Fig. 3. Kohlrabi.

denen erst an den Nebenachsen erster Ordnung Blütenentwickelung eintritt, also z. B. wenn die Hauptachse aufrecht steht und Laubblätter trägt, aus deren Achseln Blütenstiele entspringen, oder an der Spitze zu einer Traube, Dolde oder Ähre wird, denn auch jede Blüte dieser Infloreszenzen ist ein Sproß für sich; aber auch der Fall gehört hierher, wo die Hauptachse unterirdisch als Rhizom wächst und einfache Nebenachsen über den Boden treibt, die mit einer einzelnen Blüte abschließen, wie z. B. bei Paris quadrifolia. Man kann hiernach leicht selbst finden, was unter drei-, vierachsigen etc. Pflanzen zu verstehen ist. Sehr häufig sind bei mehrachsigen Pflanzen die successiven Achsen nicht bloß dem Grad nach, sondern auch hinsichtlich der Ausbildung der Blätter, die sie tragen, voneinander unterschieden. Durch die Metamorphose der Blätter werden nämlich bei fast allen Phanerogamen bestimmte Blattformationen bedingt, die man als Nieder-, Laub- u. Hochblätter charakterisiert (s. Blatt, S. 1016), und nach deren Auftreten am S. man eine Niederblattregion, Laubblattregion und Hochblattregion zu unterscheiden hat. Bei einachsigen Pflanzen folgen diese drei Regionen an Einer Achse aufeinander, bei mehrachsigen sind sie in der Regel auf die einzelnen Achsen verteilt, so daß man diese selbst als Niederblattstengel etc. unterscheiden kann. Diese Verhältnisse, von denen hauptsächlich mit das äußere Ansehen (Habitus) der Pflanze abhängt, zeigen wiederum große Mannigfaltigkeiten.

Für die S. gewisser Pflanzen sind besondere Namen üblich. Bei den Kräutern redet man schlechthin vom S. oder Krautstengel, bei den grasartigen Monokotyledonen wird er Halm (culmus) genannt. Der hohe, meist einfache, an der Spitze mit einer einzigen großen Gipfelknospe endigende S. der Palmen und Baumfarne heißt Stock (caudex). Der holzige, lang dauernde, in Äste und Zweige sich teilende S. der Dikotyledonen und Nadelhölzer wird Stamm (truncus) genannt (vgl. Baum). Abweichende, für besondere Lebenszwecke eingerichtete Stengelformen sind die Knollen, Ranken und Dornen (s. d.). Bei manchen Pflanzen ist der S. fleischig verdickt und dann knollig, wie bei dem Kohlrabi (Fig. 3), nahezu kugelig, wie bei Melocactus (Fig. 4), aus ovalen, zusammengedrückten Gliedern zusammengesetzt, wie bei den Opuntien (Fig. 5). Ja, es gibt auch S., welche der Gestalt nach mit Blättern übereinstimmen, wie z. B. die Zweige von Ruscus aculeatus (Fig. 6), welche flächenartig ausgebreitet sind und ein beschränktes Längenwachstum besitzen, daher sie eine begrenzte blattähnliche Form haben. Solche Blattzweige (phyllocladia) unterscheiden sich von wahren Blättern leicht dadurch, daß sie aus den Achseln kleiner, schuppenförmiger Blätter entspringen und auf ihrer Fläche selbst kleine Blättchen tragen, aus deren Achsel sie eine Blüte hervorbringen.

Fig. 4. Stengel von Melocactus.

Über den innern Bau des Stengels vgl. die Artikel Gefäßbündel, Holz, Rinde, Kambium.


Jahres-Supplement 1890–1891
Band 18 (1891), Seite 883
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[883] Stengel, 1) Karl, Freiherr von, Rechtslehrer, geb. 27. Juli 1840 zu Peulendorf bei Bamberg, studierte in München, trat 1866 daselbst in den Staatsdienst, wurde 1871 Landgerichtsrat in Mülhausen i. E., 1879 in Straßburg. Mehrere in den Jahren 1875–78 in Hirths „Annalen des Deutschen Reichs“ veröffentlichte Abhandlungen („Die Übertragung der Verwaltungsrechtsprechung an die ordentlichen Gerichte“, „Das öffentliche Recht und die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Elsaß-Lothringen“, „Bodenkredit und Bodenkreditanstalten“) waren der Anlaß, daß er im Sommer 1881 auf den neugegründeten Lehrstuhl für Verwaltungsrecht an der Universität Breslau berufen und zum ordentlichen Professor in der juristischen Fakultät daselbst ernannt wurde. 1890 übernahm er die durch den Tod Joseph v. Helds erledigte Professur für öffentliches Recht an der Universität Würzburg. Unter seinen Schriften sind außer den genannten Abhandlungen hervorzuheben: „Die Organisation der preußischen Verwaltung nach den neuen Reformgesetzen“ (Leipz. 1884); „Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts“ (Stuttg. 1886); „Die deutschen Schutzgebiete, ihre rechtliche Stellung, Verfassung und Verwaltung“ (Münch. 1889, 2 Hefte). In Verbindung mit andern gab er das „Wörterbuch des deutschen Verwaltungsrechts“ (Freib. 1890, 2 Bde.) heraus.

2) Edmund, Philolog, geb. 5. April 1845 zu Halle a. S., studierte daselbst und in Bonn, wo er 1868 promovierte, und habilitierte sich, nachdem er Studienreisen nach Frankreich und England, später auch nach Italien unternommen hatte, 1870 an der Universität zu Basel und wurde 1873 als ordentlicher Professor der abendländischen Sprachen und Litteraturen an die Universität zu Marburg berufen. Außer seiner Dissertation: „Vokalismus des lateinischen Elements in den wichtigsten romanischen Dialekten von Graubünden und Tirol“ (Bonn 1868) und zahlreichen Beiträgen zu Fachzeitschriften veröffentlichte er: „Codicem manuscriptum Digby 86 in Bibl. Bodleiana asservatum descripsit, excerpsit, illustravit“ (Halle 1871); „Mitteilungen aus französischen Handschriften der Turiner Universitätsbibliothek“ (das. 1873); „Li romans de Durmart le Galois“ (Bd. 116 der Bibliothek des Stuttgarter Litterarischen Vereins, Tübing. 1873); „Die provenzalische Blumenlese der Chigiana“ (Marb. 1878); „Das altfranzösische Rolandslied der Oxforder Handschrift in photographischer Wiedergabe und in diplomatischem Abdruck“ (Heilbr. 1878); „Die beiden ältesten provenzalischen Grammatiken“ (Marb. 1878); „Die ältesten Anleitungsschriften zur Erlernung der französischen Sprache“ (in Bd. 1 der von Körting und Koschwitz herausgegebenen „Zeitschrift für neufranzösische Sprache und Litteratur“, Oppeln 1879); „Erinnerungsworte an Friedrich Diez nebst Briefen von ihm“ (Marb. 1883); „Private und amtliche Beziehungen der Brüder Grimm zu Hessen“ (das. 1886, 2 Bde.); „L’istoire de la destruction de Troye la grant par J. Milet“ (autographische Vervielfältigung der Ausgabe von 1484, das. 1883); „Chronologisches Verzeichnis französischer Grammatiken vom Ende des 14. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts“ (Oppeln 1890). Das von ihm herausgegebene Sammelwerk: „Ausgaben und Abhandlungen aus dem Gebiete der romanischen Philologie“ (Marb. 1881 ff., bis jetzt 88 Hefte) enthält an eignen Arbeiten Stengels in Heft 1 und 11 „Ausgabe der ältesten französischen Sprachdenkmäler mit einem Wortverzeichnisse“ und in Heft 84: Ausgabe von „Galïens li restorés“. In weitern Kreisen ist S. bekannt durch die Anregung, welche er zu dem Inslebentreten der Neuphilologentage gegeben hat (1886), sowie durch sein Eintreten für die Realschulen und die Schulreform.