Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Seele“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 14 (1889), Seite 808809
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Seele. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 808–809. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Seele (Version vom 13.11.2022)

[808] Seele (griech. Psyche, lat. Anima), im gewöhnlichen Sprachgebrauch das innere Thätigkeitsprinzip eines lebendigen Wesens, wird in diesem Sinn sowohl von dem leblosen Körper als von dem vernünftigen Geist (pneuma) unterschieden. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch und zwar sowohl derjenigen, welche die Existenz der S. leugnen, als jener, welche sie zulassen, bedeutet das Wort den einheitlichen, realen, aber immateriellen Träger der psychischen (oder Bewußtseins-) Phänomene (Vorstellen, Fühlen, Begehren und Wollen), der sich zu diesen verhält wie die Materie (s. d.) zu den physischen (oder Natur-) Phänomenen (physikalischen, chemischen und biologischen Prozessen). Gegenstände, an welchen Bewußtseinserscheinungen wahrzunehmen sind (wie der Mensch, das Tier, nach einigen, z. B. Fechner, auch die Pflanze), werden beseelt genannt. Diese Bezeichnung wird auch auf an sich leblose Dinge (Berge, Flüsse, Quellen, Gesteine, ja auf das ganze Weltgebäude) übertragen, wenn denselben, wie in den dichterischen, phantastischen und schwärmerischen Weltanschauungen der Mythologie, des Animismus und Fetischismus sowie des Spiritismus geschieht, fälschlich Bewußtseinsakte (Intelligenz, Gemüt, Wille) angedichtet werden (Berg- und Quälgeister, Astralgeister, Weltseele etc.). Durch das Merkmal der Immaterialität wird die S. von jedem (angeblichen) materiellen Träger von Bewußtseinsvorgängen, dergleichen der Materialismus (nach dem Grundsatz, daß man der S. so viel Boden entreißen müsse wie möglich) an deren Stelle zu substituieren sich bemüht (z. B. dem Gehirn oder dem gesamten Nervensystem), unterschieden. Als einheitlich-realer Träger psychischer Prozesse erscheint die S. dem gleichfalls einheitlichen, aber nur idealen Träger von solchen (der Ichvorstellung, dem Selbstbewußtsein), welchen der Idealismus an deren Stelle setzen möchte, entgegengesetzt. Dieselbe kann als immaterielles (nichtsinnliches) Wesen weder ihrer Existenz noch ihrer Natur nach ein Gegenstand der (sinnlichen) Erfahrung sein; wohl aber kann auf beide aus (innern) Erfahrungsthatsachen geschlossen werden. Der „Kampf um die S.“ nahm schon im Altertum seinen Anfang und wird bis zum heutigen Tag mit wenig abweichenden Gründen fortgeführt. Die griechischen Psychologen leugneten zwar nicht die Existenz, aber fast durchgehends die Immaterialität der S., welche von dem einen für einen luftartigen, von dem andern für einen feuerähnlichen, von den Atomistikern für einen aus kugelförmigen Atomen zusammengesetzten (feinern) Körper und selbst von den ihrem Begriff am nächsten kommenden Denkern (Platon und Aristoteles) für zusammengesetzt aus mehreren (nach dem einen allerdings untrennbaren, nach dem andern aber selbst trennbaren) Teilen erklärt wurde. Die zuerst von der indischen Sankhyaphilosophie des Kapila ausdrücklich gelehrte Immaterialität der S. bildete seit Descartes den Gegenstand des Streits zwischen den Spiritualisten, welche die S. für eine schlechterdings geistige (einfache), mit dem Körper nur während der irdischen Existenz vereinigte Substanz, und den Materialisten, welche dieselbe für eine körperliche (aus Teilen bestehende) und daher mit dem Zerfall des Leibes selbst zerfallende (wenn auch noch so verfeinerte) Stoffmasse gehalten wissen wollten. Zu beiden kam, nachdem Kant den Schluß von der Einheit des Bewußtseins auf die Einheit der S. für einen (zwar unvermeidlichen) Fehlschluß und dadurch Dasein und Wesen der S. für unerkennbar erklärt hatte, eine dritte Partei, die der Idealisten, hinzu, die an der Stelle der S. das Ich (das Selbstbewußtsein) für den Träger der Bewußtseinserscheinungen ausgaben. Die Gründe, welche seitdem gegen und für die Annahme der S. vorgebracht zu werden pflegen, sind in kurzem folgende. Gegen dieselbe spricht: 1) daß allerlei angeblich durch Bewußtseinsakte (Vorstellung und Willen) hervorgebrachte Bewegungen (welche sonach auf eine S. schließen lassen) bei näherer Betrachtung sich als bloß mechanische Vorgänge (sogen. Reflexbewegungen) erwiesen haben (Einwurf des Mechanismus); 2) daß sich sämtliche angeblich psychische Phänomene als physische aus einem materiellen Substrat (das Denken als „Funktion“ des Gehirns [wie das Verdauen als Funktion des Magens]; die Einheit des Bewußtseins als „Resultierende“ aus den in verschiedenen Teilen des [ausgedehnten] Substrats vor sich gehenden Prozessen) erklären lassen, wodurch die Annahme der S. überflüssig wird (Einwurf des Materialismus); 3) daß es zur Erklärung sämtlicher psychischer Phänomene zwar eines idealen Trägers (des Ichs), aber keines realen (der S.) bedürfe (Einwurf des Idealismus). Für dieselbe sprechen a) als negative Gründe: 1) daß, solange nicht alle für psychisch gehaltenen Phänomene als physische (nicht alle angeblich [809] willkürlichen Bewegungen als bloße Reflexbewegungen) erwiesen sind, der Unterschied zwischen beseelten und seelenlosen Dingen fortbesteht (gegen den Mechanismus); 2) die Einheit des Bewußtseins ist eine Thatsache, die sich aus einem materiellen Substrat desselben als „Resultierende“ nicht erklären läßt, da ihr zu dieser Vergleichung unter obiger Annahme der hauptsächlichste Vergleichungspunkt, ein gemeinschaftlicher Angriffspunkt der „Komponenten“, fehlen würde (nach Lotze; gegen den Materialismus); 3) der ideale angebliche Träger sämtlicher Bewußtseinsphänomene, das Ich, ist selbst nichts weiter als ein Bewußtseinsphänomen (Ichvorstellung, Selbstbewußtsein), das zu seiner Existenz eines realen Trägers des Bewußtseins (einer S.) und der Wechselwirkung der innern Zustände desselben (der elementaren psychischen Vorgänge: Empfindungen etc.) bedarf (gegen den Idealismus). b) Als positive Gründe: 1) die Sinnesempfindungen (des Gesichts, Gehörs etc.) als intensive und die in den Sinnesnerven (des Auges, des Ohrs) vor sich gehenden Bewegungen als extensive Vorgänge sind untereinander (ihrem Inhalt nach) völlig unvergleichbar; 2) dieselben korrespondieren einander zwar, so daß dem psychischen Vorgang (Empfindung) ein gewisser physischer (Bewegung, Nervenreiz) entspricht; aber sie sind weder identisch (Empfindung = Bewegung) noch verschiedene „Seiten“ eines Dritten und lassen sich daher auch nicht auf ein und dasselbe Substrat zurückführen; 3) die Einheit des Bewußtseins ist eine Thatsache, welche nur unter Annahme eines atomistisch beschaffenen Seelenwesens (Seelenatom, Monade, einfaches Reale) begreiflich wird. Die Verwertung des auf diesem Wege gewonnenen Begriffs der S., um die erfahrungsmäßig gegebenen Bewußtseinsphänomene zu erklären und allgemein gültigen Gesetzen zu unterwerfen, ist Sache der Psychologie (s. d.). Vgl. E. Kuhn, Die Vorstellungen von S. und Geist in der Geschichte der Kulturvölker (Berl. 1872); Flügel, Die Seelenfrage (Köthen 1878); Witte, Das Wesen der S. (Halle 1888).

Seele, die Bohrung des Rohrs der Feuerwaffen (s. Geschütz und Handfeuerwaffen). Die Bezeichnung stammt von den Chinesen, welche die in dem Satz eines Schwärmers hergestellte Höhlung S. nannten, weil die dadurch entstandene Rakete Bewegung, gleichsam Leben, erhalten hatte. – Bei Streichinstrumenten das Stäbchen, welches den Boden mit der Decke verbindet.