Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Psychophysīk“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 13 (1889), Seite 445
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Psychophysīk. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 13, Seite 445. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Psychophys%C4%ABk (Version vom 03.04.2024)

[445] Psychophysīk (griech.) unterscheidet sich von Psychologie (s. d.), welche ausschließlich psychische, und Physiologie (s. d.), welche ebenso ausschließlich physische Vorgänge zum Gegenstand hat, dadurch, daß sie sowohl psychische als physische Vorgänge oder vielmehr die Beziehungen zwischen beiden zum Gegenstand hat und daher zwischen obigen beiden Wissenschaften eine Mittelstellung einnimmt. Dieselbe untersucht einerseits die körperlichen Bedingungen der Seelenthätigkeiten (z. B. der Empfindung von Nervenreiz; Webersches oder Fechnersches Gesetz: „Empfindungen verhalten sich wie die Logarithmen ihrer Reize“), anderseits die Abhängigkeitsverhältnisse des Körpers von der Seele (z. B. der Muskelbewegung vom Willensimpuls). Weder eine Erkenntnis des innern Wesens des Psychischen noch die Identität desselben mit dem des Physischen ist dadurch gegeben. Vgl. Fechner, Elemente der P. (Leipz. 1859, 2 Bde.); Derselbe, In Sachen der P. (das. 1877); Derselbe, Revision der Hauptpunkte der P. (das. 1882); Langer, Die Grundlagen der P. (Jena 1876); Hering, Über Fechners psychophysisches Gesetz (Wien 1876); G. E. Müller, Zur Grundlegung der P. (Berl. 1878); F. A. Müller, Das Axiom der P. (Marb. 1882).


Jahres-Supplement 1890–1891
Band 18 (1891), Seite 751752
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[751] Psychophysik, die Lehre von den Wechselbeziehungen des Psychischen und Physischen im Menschen, der als ein psychophysisches (seelisch-körperliches) Wesen aufgefaßt werden muß. Psychophysischer Prozeß heißt die Nervenerregung im Zentralorgan, deren Stärke und Beschaffenheit sich der innern Wahrnehmung als intensiv und qualitativ bestimmte Empfindung (s. Empfindungen) darstellt, und deren Stärke wie Beschaffenheit von der Natur von Reizen (s. d.) abhängt. Eine exakte Untersuchung dieser Verhältnisse ist auf die beiden Außenglieder, Reiz und Empfindung, angewiesen, da der mittlere Vorgang der nervösen Thätigkeit sich der Beobachtung entzieht; die P. erforscht daher die Gesetze, nach denen die Empfindung sich mit ihrer mittelbaren Ursache, dem Sinnesreiz, ändert. In noch engerm Sinn, und zwar mit Rücksicht auf die historische Entstehung und bisherige Bearbeitung unsrer Disziplin, läßt sich P. definieren als Wissenschaft von den Beziehungen zwischen der Stärke der Reize und der Intensität der Empfindungen. Dabei werden aber zwei unbewiesene Voraussetzungen gemacht: 1) daß zwischen der Empfindung und dem ihr direkt vorangehenden nervösen Vorgang eine strenge Korrespondenz besteht, und 2) daß den Intensitätsunterschieden der Reize reine Intensitätsunterschiede der Empfindungen entsprechen.

E. H. Weber nahm zuerst das Problem in Angriff. Wir haben die Fähigkeit, die Verschiedenheit von Reizintensitäten zu beurteilen (Unterschiedsempfindlichkeit), sobald die Verschiedenheit eine gewisse Größe (Unterschiedsschwelle) übersteigt. Die Unterschiedsempfindlichkeit ist aber für die Vergleichung von zwei schwachen wie von zwei starken Reizen nicht die gleiche, die Unterschiedsschwelle bleibt bei schwachen wie starken Reizen nicht dieselbe, denn während man z. B. 9 g und 13 g auf der Hand als verschieden empfindet, merkt man es nicht, wenn zu 9 kgg hinzugefügt werden. Die Unterschiedsschwelle ist von der Stärke des ersten Reizes abhängig; zu einem Reize r muß, damit die von ihm erregte Empfindung a in eine noch eben merklich davon verschiedene b übergehe, ein um so größerer Zuwachs x hinzugefügt werden, je größer r selbst schon ist. Webers Gesetz lautet demnach dahin, daß zur eben merklichen Verstärkung einer Empfindung ein relativer (nämlich durch die wechselnde Größe des ersten Reizes jedesmal bestimmter) Zuwachs erforderlich ist. Dieses Prinzip findet in vielen alltäglichen Erfahrungen seine Bestätigung, unter anderm auch darin, daß ein Reicher 1000 Mk. zu seinem Vermögen hinzuerwerben muß, um dieselbe Befriedigung zu empfinden, die ein Armer bei dem Gewinn von 1 Mk. empfindet. Diese Abhängigkeit der fortune morale von der fortune physique ist bereits 1738 von David Bernoulli erkannt worden; das Bernoullische Gesetz lautet (in Grotenfelts Fassung): der subjektive Befriedigungswert eines objektiven Quantums der Güter ist der Summe der von dem betreffenden Subjekt besessenen Güter umgekehrt proportional. Trotz vieler solcher Analogien ist das Webersche Gesetz von Hering und Langer ganz bestritten, von Delboeuf und G. E. Müller teilweise angegriffen worden. In der That findet sich das angegebene Verhältnis nur auf dem Gebiete der Schallempfindungen durchgehends bestätigt und innerhalb andrer Sinnesgebiete nur bei mittlerer Reizstärke; auch ist es noch nicht ganz gelungen, die zahlreichen Abweichungen davon auf die störende Mitwirkung andrer Faktoren (Ermüdung, Übung u. dgl.) zurückzuführen. Um Empfindungen zu erzielen, deren Unterschiede gleich merklich sind, als gleich groß empfunden werden, müssen die Reize nach Webers Gesetz etwa in dem Verhältnis stehen, weil ist, d. h. sie müssen eine sogen. geometrische Reihe bilden. [752] Es fragt sich nun, ob die entsprechenden Empfindungen sich in einer ähnlichen Reihe anordnen lassen. Fechner bejaht diese Frage, indem er eine ganz neue Voraussetzung in das Webersche Gesetz einführt, nämlich die, daß er die eben merklichen Zuwüchse, welche nach Weber die Empfindung bei allen verschiedenen absoluten Reizgrößen erfährt, als gleich groß annimmt, daß er also z. B. den Zuwachs, welchen die Druckempfindung erfährt, wenn wir die auf einer Hautstelle ruhende Last von 9 g auf 13 g erhöhen, für absolut gleich groß mit demjenigen Empfindungszuwachs erklärt, welcher bei der Zulage von 4 kg auf 9 kg Belastung entsteht. Unter dieser Voraussetzung nun, daß gleich merkliche Empfindungszuwüchse immer gleiche absolute Größen seien, gibt Fechner dem Gesetz die folgenden Fassungen: Die Stärke des Reizes muß in einem geometrischen Verhältnis ansteigen, wenn die Stärke der Empfindungen in einem arithmetischen (durch Addition der gleichen Zahl zunehmenden) Verhältnis ansteigen soll, oder: Die Empfindung wächst proportional dem Logarithmus des Reizes (Fechners Gesetz). Hiergegen wird 1) (von Stadler, F. A. Müller, Elsas u. a.) eingewendet, daß es unberechtigt sei, die Empfindung als psychisches Phänomen ihrer Intensität nach zahlenmäßig ausdrücken zu wollen, weil es keine Einheit gebe, an der sie gemessen werden könne. Münsterberg sucht diesen Einwurf durch eine sehr geistreiche Hypothese zu beseitigen; nach ihm nämlich kommt alle Messung der Empfindungsintensitäten so zu stande, daß Muskelempfindungen zu den Reizwahrnehmungen hinzutreten und durch die associierten Muskelempfindungen sich feste Reihen mit abmeßbaren Instanzen bilden. Entsprechend formuliert Münsterberg Webers Gesetz so: Je zwei Reize rufen dieselbe Änderung der reflektorisch erregten Muskelspannung und dadurch dieselbe als Maß der Empfindung benutzte Spannungsempfindung hervor, wenn das Verhältnis der Reize unverändert bleibt. 2) Gegen die von Fechner neu eingeführte Voraussetzung wird geltend gemacht (unter andern von Funke), es sei viel wahrscheinlicher, daß ein Empfindungszuwachs, um merklich zu werden, im allgemeinen um so größer sein muß, je intensiver die vorangehende Empfindung bereits ist, oder mit andern Worten, daß Empfindungsintensitäten, welche sich gleich merklich unterscheiden, in gleichem Verhältnis zu einander stehen. Diese Verhältnishypothese führt zu einer psychologischen Auffassung des Fechnerschen Gesetzes. Durch sie wird das Auftreten des angegebenen gesetzlichen Verhältnisses in die Beziehung zwischen der Empfindung und der auffassenden Thätigkeit verlegt; in unserm Bewußtsein existiere kein absolutes, sondern nur ein relatives Maß für die Intensität der in ihm vorhandenen Zustände; die Empfindungsunterschiede seien relativ gleich groß, ebenso wie die Reizunterschiede; die Auffassung des Unterschiedes von zwei Empfindungen geschehe im Urteil mittels der Apperzeption und zwar stets von der Grundlage des ersten Empfindungszustandes aus (Wundt, Grotenfelt). Die psychologische Interpretation des Fechnerschen Gesetzes sieht in ihm ein Grundgesetz der Beziehung körperlicher und seelischer Vorgänge. Von den vier Gliedern des ganzen Vorganges a) Reiz, b) Nervenerregung, c) Empfindung, d) Urteil (über das Verhältnis der Empfindungsintensitäten) setzt sie und , behauptet dagegen von der Beziehung zwischen b und c, daß die Empfindung in dem angegebenen Maße langsamer wachse als die Nervenerregung (Fechner). Die physiologische Deutung sucht die Erklärung für das langsamere Anwachsen der Empfindungen nicht in diesen selbst, sondern in Eigenschaften der Nervensubstanz (G. E. Müller).

Die Methoden der P. sind, abgesehen von den ganz einfachen, welche die Grenzwerte der empfindbaren Reize bestimmen, folgende vier: 1) Methode der richtigen und falschen Fälle (Fechner). Zwei Farbenschattierungen, deren Unterschied scharf an der Grenze der Merklichkeit liegt, werden in zahlreichen Versuchen verglichen, und nach jedem Versuch wird notiert, ob eine der beiden Farben und welche derselben als hellere erscheint. Man erhält so drei Reihen von Fällen, von denen jede einen Bruchteil der Zahl der Gesamtfälle bildet, und berechnet aus den experimentell erhaltenen Werten der drei Verhältnisse den objektiven, für die betreffenden Farbenschattierungen bestehenden Unterschiedsschwellenwert. 2) Methode der mittlern Fehler (Fechner). Man versucht, für ein gegebenes Gewicht ein genau ebenso schweres andres mit Hilfe vergleichungsweisen Auflegens herauszufinden. Beim Nachwägen des zweiten Gewichts ergibt sich die Größe des begangenen Fehlers, bei Wiederholung des Versuchs eine andre Fehlergröße, und das Mittel aller dieser Fehler liefert ein Maß für die Unterschiedsempfindlichkeit unter den gegebenen Bedingungen. 3) Methode der kleinsten Unterschiede (Weber, G. E. Müller). Ausgehend von zwei gleichen Tönen wird a) der eine derselben successiv so lange erhöht, bis gerade ein eben merklicher Unterschied eintritt. Oder umgekehrt wird b) von einer deutlichen Verschiedenheit zweier Töne ausgegangen und einer der beiden Töne successiv so lange dem andern angenähert, bis der Unterschied eben aufhört, merklich zu sein. Verbindet man dieses Verfahren der eben unmerklichen Unterschiede (b) mit jenem der eben merklichen (a), so bedient man sich der Methode 3). 4) Methode der übermerklichen Unterschiede (Delboeuf, Wundt). Stuft man je drei Reize so ab, daß der mittlere als genau die Mitte zwischen dem ersten und dritten haltend von uns abgeschätzt wird, so läßt sich durch wiederholte Anwendung dieses Verfahrens eine Reizskala herstellen, deren Intervalle gleich großen Intervallen unsrer Empfindungsschätzung entsprechen. Mißt man nun die physikalische Intensität der sämtlichen zur Anwendung gekommenen Reize, so ergibt sich hieraus unmittelbar die Beziehung zwischen der wirklichen und der von uns mittels der Intensität der Empfindung geschätzten Reizstärke. Vgl. Weber in Wagners „Handwörterbuch der Physiologie“ (Leipz. 1846); Fechner, Elemente der P. (2. Aufl., das. 1889, 2 Bde.); Delboeuf, Éléments de psychophysique (Par. 1883); Derselbe, Examen critique de la loi psychophysique (das. 1883); Elsas, Über die P. (Marb. 1886); Grotenfelt, Das Webersche Gesetz (Helsingf. 1888); Münsterberg, Neue Grundlegung der P. (Freiburg 1890).