Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Passionsspiele“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 12 (1888), Seite 763764
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Passionsspiele. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 12, Seite 763–764. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Passionsspiele (Version vom 17.10.2024)

[763] Passionsspiele, eine unter den dramatischen Aufführungen des Mittelalters besonders häufig vertretene Art der „geistlichen Spiele“, welche ursprünglich wohl überall am Karfreitag aufgeführt wurden und sich aus der Karfreitagsfeier selbst und aus den mimischen Darstellungen, die bei derselben in vielen Kirchen stattfanden, entwickelt hatten. Sämtliche P. haben das Leiden und den Tod des Erlösers zur Haupthandlung, und schon hieraus und aus dem engen Anschluß an die Erzählung der Evangelien ging ein im ganzen wesentlich epischer Charakter der Spiele hervor. Derselbe wurde dadurch verstärkt, daß der eigentlichen Darstellung der Passion meist die Vorführung andrer Episoden der heiligen Geschichte voranging (man begann gelegentlich mit der Schöpfung) und sich die Osterspiele, welche die Szenen der Auferstehung zur Darstellung brachten, naturgemäß an die Kreuzigung und Grablegung Christi anreihten (weshalb die Passions- und Osterspiele meistenteils zusammen und oft an mehreren aufeinander folgenden Tagen aufgeführt wurden). Wie weit die Aufführung eigentlicher P. zurückreicht, ist nicht genau festzustellen; die Aufzeichnung auch nur der Szenarien und der in die Spiele verwobenen Gesänge erfolgte erst, als dieselben längst eingebürgert waren. In Frankreich führten sie den Namen Mysterien (s. d.), der auch, nach Deutschland übergehend, wesentlich nur den Spielen zugeteilt wurde, welche die Leidens- und Auferstehungsgeschichte des Heilands zum Gegenstand hatten, während die dramatische Vorführung von Legendenstoffen mit dem Namen Mirakel belegt wurde. In deutschen Handschriften des 13. Jahrh. sind zwei P. bruchstückweise erhalten, von denen das erste, mit wesentlich lateinischem Text („Ludus paschalis sive de passione Domini“, hrsg. von Hoffmann in „Fundgruben“, Bd. 2, S. 245 ff., und von Schmeller in den „Carmina burana“), einzelne deutsche Strophen enthält, während das andre, von einem höfisch gebildeten Dichter herstammend, ganz in deutscher Sprache und in den Kunstformen des 13. Jahrh. gehalten ist (vgl. Bartsch, Das älteste deutsche Passionsspiel; in „Germania“, Bd. 8, S. 273 ff.). Zu den spätern Niederschriften, die aber meist auf ältern Ursprung zurückweisen, gehören: das „Frankfurter Passionsspiel“ (von dem ein Szenarium in einer alten Pergamentrolle der Bartholomäistiftsschule zu Frankfurt a. M. erhalten blieb), das „Alsfelder Passionsspiel“ (hrsg. von Grein, Kass. 1874), das „Heidelberger Passionsspiel“ (hrsg. von Milchsack, Tübing. 1880), das „Donaueschinger Passionsspiel“ (gedruckt in Mones „Schauspielen des Mittelalters“, Karlsr. 1846), das „Freiburger Passionsspiel“ (hrsg. von Martin, Freiburg 1872), die niederdeutsche „Marienklage“ (hrsg. von O. Schönemann, Hannov. 1855) und das „Redentiner Osterspiel“ (hrsg. von Ettmüller, Quedlinb. 1851) u. a. Sie alle legen Zeugnis für die typische Gleichartigkeit und Ähnlichkeit der P. ab. Sie sind sämtlich melodramatisch behandelt; die Reden wechseln mit gesungenen Stellen (in denen sich die lateinischen Kirchenhymnen am längsten innerhalb des Rahmens der P. erhielten) und nehmen in den Gang der Handlung possenhafte und komische Episoden auf, zu denen das Leben der Maria Magdalena vor ihrer Bekehrung, die Höllenfahrt Christi, der Einkauf der Salben und Spezereien durch die drei Marien vor dem Besuch des Heiligen Grabes die szenischen Anlässe bilden. Nach der Reformation warfen sich die protestantischen Dramendichter überwiegend auf biblische Stoffe des Alten Testaments, die sich in moralisierendem Sinn behandeln ließen, und bildeten die P. zu Moralitäten (s. d.) aus. In den katholisch bleibenden Teilen Deutschlands, namentlich in den Bayrischen, Tiroler und Salzburger Alpen, bestanden dieselben jedoch fort, teils in der vollen mittelalterlichen Naivität, teils in einer tendenziösen Umarbeitung und Zurichtung, welche besonders die Jesuiten und die von ihnen gebildeten Geistlichen vornahmen. Diejenigen der ältern Spiele, welche sich bis ins 18. Jahrh. hinein behauptet hatten, fielen der überall eindringenden Aufklärung allmählich zum Opfer. Unter Karl Theodor und König Max Joseph I. wurden selbst in Bayern die Passionsaufführungen untersagt und eine Ausnahme nur mit dem

Oberammergauer Passionsspiel

gemacht, welches in neuester Zeit die Blicke der ganzen gebildeten Welt auf sich gezogen hat. Die Gemeinde von Oberammergau hatte bei einer 1633 ihr Dorf heimsuchenden Seuche das Gelübde gethan, nach dem Erlöschen der Krankheit das Leiden und Sterben des Erlösers dramatisch aufzuführen. Mit den anderwärts noch fortdauernden mittelalterlichen Passionsspielen stand die neue in Oberammergau entstehende (und periodisch, zuletzt von zehn zu zehn Jahren wiederholte) Aufführung insofern in Bezug, als die Bauern und Bildschnitzer, die das Gelübde geleistet hatten, auf alle Fälle ihr Spiel den vorhandenen ähnlichen Aufführungen anzunähern wünschten. Das ursprüngliche Gedicht, dessen sich die Oberammergauer bedienten, und von dem eine alte Handschrift von 1662 erhalten blieb (hrsg. von Hartmann, Leipz. 1880), erweist sich in der That als Verschmelzung eines alten geistlichen Schauspiels aus dem [764] 15. Jahrh. und eines Passionsspiels des Augsburger Meistersängers Seb. Wild. Im Lauf der Zeit wurde der alte Text stark verzopft und verschnörkelt und endlich durch Ettaler Klosterherren vollends den rhetorischen, opernhaften und schwülstig-allegorischen Jesuitenspielen der damaligen Zeit angenähert, während die Darstellung sich an die reinern Vorbilder der deutschen Maler und Holzschneider des 15. u. 16. Jahrh. anlehnte. Das Ammergauer Spiel entwickelte sich unter reger Teilnahme der gesamten Bevölkerung des Ortes namentlich nach der malerisch-plastischen Seite der Aufführungen hin in ungewöhnlicher Weise und bestand, wie schon erwähnt wurde, selbst den Sturm, welcher in der Zeit des Rheinbundes und unter dem gewaltsam neuernden Regiment des Ministers Montgelas seine Existenz bedrohte. König Max I. gestattete die Fortsetzung nach einer vorgängigen Umarbeitung des Gedichts, welche durch Othmar Weiß (ehemals Benediktiner zu Ettal, gest. 1843 als Pfarrer in Jesenwang) erfolgte, während der Lehrer von Oberammergau, Rochus Dedler, die noch heute zu dem Spiel gehörte Musik komponierte. In die Modernisierung des Textes, der 1850 eine nochmalige Überarbeitung erfuhr durch den geistlichen Rat Daisenberger (gest. 1883, Verfasser einer Schrift über Oberammergau) drangen schwache Nachwirkungen der Humanitätsanschauungen des 18. Jahrh. ein, und die Musik trug einen durchaus eklektischen, weichlichen und opernhaften Charakter. Gleichwohl blieb dem Oberammergauer Passionsspiel durch die den Evangelien unmittelbar entlehnten Szenen, durch die geschlossene Einheit der Darstellung, die wirksame Vorführung von Aufzügen und Volksszenen (namentlich beim Einzug Jesu, bei der Kreuztragung und der Kreuzigung) und die schlichte Kraft seiner malerischen Vorbilder ein bedeutender Eindruck gewahrt; das Spiel wuchs mit seinem Ruf, wenn auch die Gemeinde mit gutem Rechte daran festhielt, niemals andre als ihr angehörige Kräfte an demselben sich beteiligen zu lassen. Die Leitung des gesamten Spiels ist einem Ausschuß anvertraut; die Besetzung der Rollen erfolgt durch diesen, einzelne Rollen vererben sich wie Ehrenämter in gewissen Familien. So bildete sich im Lauf der Zeit ein Stil, eine künstlerische Tradition heraus, welche zu der vollendeten Darstellung der Hauptgestalten, insbesondere der Gestalt Christi, führte, welche die Aufführungen in den letzten Jahrzehnten auszeichnete. Das Theater selbst, eine mächtige Bühne, welche nach herkömmlichem Plan zu den Aufführungen eigens errichtet wird, steht auf einer Wiese vor dem Dorf, und die Matten und Hügel, welche dasselbe umgeben, bilden gleichsam einen letzten großartigen Hintergrund des Ganzen. Der Zuschauerraum steigt amphitheatralisch auf und ist groß genug, um mehrere tausend Menschen zu fassen; die übrige Einrichtung des Theaters bietet der Darstellung nicht minder wesentliche und eigentümliche Vorteile. Das große Podium trägt eine überdachte Innenbühne, welche durch einen Vorhang geschlossen ist, je nach Bedarf durch wechselnde Dekorationen die veränderte Szene anzeigt und zur Vorführung aller der Auftritte dient, die nicht auf den Straßen von Jerusalem vorgehen können. Rechts und links von dieser Mittelbühne, deren Vorhang gleichsam ein Stück der Stadt Jerusalem vorstellt, stehen die mit Balkonen versehenen Häuser des Hohenpriesters und des Pontius Pilatus, und durch offene Thorbogen sieht man in die Straßen Jerusalems hinein, welche wie die Vorderbühne unter freiem Himmel liegen und die überdachte Innenbühne einschließen. Die ganze Anordnung vereinigt so die Vorteile eines stehenden, der Phantasie des Zuschauers sich einprägenden Schauplatzes mit der Mannigfaltigkeit des Szenenwechsels und zeigt sich im Verlauf der Handlung oft in ausgezeichneter Weise benutzt. Die Aufführungen von 1830, 1840 und 1850 trugen den Ruf des Oberammergauer Spiels in die weitesten Kreise; Eduard Devrient lenkte mit seiner Schrift „Das Passionsspiel zu Oberammergau“ (Leipz. 1850) die Aufmerksamkeit auch der Dramaturgen auf das mächtige Ensemble und die erstaunlichen Wirkungen dieser Volks- und Festbühne des Alpendorfs. Seitdem übten die Aufführungen, bei denen je an 550 Darsteller von allen Altersklassen mitwirken, eine beständig steigende Anziehungskraft, und die letzten (1880) wurden von Zehntausenden von Schaulustigen aus dem gesamten Deutschland, aus England und Amerika besucht. Die einzelnen Aufführungen finden regelmäßig an Sonntagen statt, jede währt (mit Unterbrechung von einer Stunde) volle neun Stunden; eine kirchliche Feier geht in der Regel voraus. Die Einnahmen der Ammergauer Spiele (1880: 300,000 Mk.) kommen nach Abzug der Kosten und einer mäßigen Entschädigung an die Darsteller lediglich der Gemeinde, ihrer Kirche und Schule, ihren Stiftungen etc. zu gute.

Über die P. im allgemeinen vgl. Mone, Schauspiele des Mittelalters (Karlsr. 1846, 2 Bde.); A. Pichler, Über das Drama des Mittelalters in Tirol (Innsbr. 1850); K. Hase, Das geistliche Schauspiel (Leipz. 1858); Reidt, Das geistliche Schauspiel des Mittelalters (Frankf. 1868); Wilken, Geschichte der geistlichen Spiele in Deutschland (Götting. 1872); Milchsack, Die Oster- und Passionsspiele (Wolfenb. 1880); Wackernell, Die ältesten P. in Tirol (Wien 1886); über das Oberammergauer Passionsspiel insbesondere noch: Clarus, Das Passionsspiel zu Oberammergau (Münch. 1860); H. Holland, Die Entwickelung des deutschen Theaters im Mittelalter und das Ammergauer Passionsspiel (das. 1861); Dubbers, Das Oberammergauer Passionsspiel (Frankf. 1872); Wyl, Maitage in Oberammergau (3. Aufl., Zürich 1880); Roßmann, Gastfahrten (Leipz. 1880).