Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Mysterĭen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 11 (1888), Seite 955957
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Mysterĭen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 11, Seite 955–957. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Myster%C4%ADen (Version vom 20.05.2024)

[955] Mysterĭen (griech., „Geheimnisse“), bei den Griechen und später auch bei den Römern Geheimkulte, eine besondere Art von nur den Eingeweihten zugänglichen Gottesdiensten, denen teils objektiv das [956] Geheimnisvolle in den rituellen Gebräuchen (Mysteria), teils subjektiv eine besondere Gemütsstimmung und daraus folgende religiöse Erbauung charakteristisch war. Reinigungen, Sühnungen und Büßungen, Opfer, Prozessionen, Gesänge, Tänze, kurz alle Gebräuche der übrigen Gottesdienste (Teletai) waren auch Bestandteile der M., hatten hier aber stets einen ekstatischen Charakter und wurden meist bei Nacht unter Fackelschein und betäubender Musik vorgenommen. Schon bei den Eleusinien und den Thesmophorien finden wir diesen Orgiasmus, obgleich derselbe bei den eigentlich hellenischen Religionen ein gehaltener und würdiger, im alten Rom aber durch das Staatsgesetz gänzlich ausgeschlossen war. Später drang von Thrakien und Phrygien, dann von dem tiefern Asien her jener düstere Fanatismus ein, wo die Seele in religiöser Erregung gegen den Leib rast, was gewöhnlich in Unsittlichkeit ausartete. Die Gottheit wird nach dieser Vorstellungsweise als die unendliche geistige, mit der Natur verschlungene und hinter ihr verborgene Macht gesetzt, welcher man sich nur durch gänzliche Versenkung des Geistes, durch Ertötung des Leiblichen annähern könne. Auch Mythen und Bilder gab es in den M., doch waltete in ihnen das Symbolische und Allegorische vor. Die Mythen in den M. sind heilige Legenden hieratischen Inhalts, in denen der theologische Gedanke durch die mythische Form nur leicht verhüllt ist. Meist dreht sich diese Mythologie um die Geburt, die wechselnden Zustände, das Leiden und Sterben der Götter, wobei eine Art von sinnlicher Vergegenwärtigung des Göttlichen im Gebrauch war. Hierher gehören auch die Symbole göttlicher Zeugungskraft und Fruchtbarkeit, wie der Phallos in den Dionysien; ferner die verschiedenen Attribute der Gottheiten, wie der Mischtrank, die mystische Lade, die Fackel, der Blumenkorb in den M. der Demeter, die Zimbel in den phrygischen M., die Schlangen, der Eppich, der Thyrsos, das Hirschkalbfell (Nebris), der Schwingkorb, Kreisel und Spiegel bei den Dionysien, das Sistrum bei den Isismysterien. Die Festfeier (Orgia) selbst war bei den M. ebenfalls größtenteils symbolischer Art. Sie bestand aus mimisch-dramatischen Aufführungen der Göttergeschichte, z. B. des Raubes der Persephone, des Leidens und Sterbens des Dionysos etc. Die Aufnahme in die M. erfolgte mittels feierlicher Weihe, wobei der Mystagog dem Aufzunehmenden den Eid der Verschwiegenheit abnahm, und durch verschiedene Grade. Die, welche die Vorweihe erhalten hatten, hießen Mysten, die völlig Eingeweihten Epopten. In manche M. konnten alle, in andre bloß Frauen aufgenommen werden; noch andre waren auf streng geschlossene Kreise beschränkt. Über die den Eingeweihten mitgeteilte Lehre steht nur so viel fest, daß den Kern der berühmtesten M., der Eleusinischen, der Unsterblichkeitsglaube als der Glaube an ein Leben im Jenseits bildete, wogegen die von dem Physiker Schweigger in zahlreichen Schriften niedergelegte Ansicht, physikalische Lehren und Experimente, namentlich elektrischer Natur, hätten den Grund insbesondere der samothrakischen M. ausgemacht, sicher das Richtige verfehlt hat. Über das negative Resultat andrer Bemühungen, den Grund der M. zu erforschen, liefert Lobecks „Aglaophamus“ (Königsb. 1829) erschöpfenden Aufschluß. Was die Geschichte der M. betrifft, so sind unter den sporadisch vorkommenden Gebräuchen vor allen die Reinigungen und Sühnungen sehr alt und eigentlich das Grundelement der M. Zusammenhängendere Gebräuche mystischen Charakters haben sich besonders früh in den chthonischen Götterdiensten entwickelt, z. B. zu Ephyra in Thesprotien, zu Phigalia in Arkadien, zu Hermione etc. Als bestimmtere Arten mystischen Dienstes treten zuerst innerhalb der Demeterreligion die Thesmophorien und Eleusinien hervor. Jene sind rein cerealisch und beruhen auf der religiösen Auffassung der Erde als fruchtbarer Mutter und des aus der Pflege des Erdbodens hervorgehenden sittlichen Gewinns, während sich in diesen mit dem cerealischen Glauben noch ein Element des Dionysosdienstes verbunden hat. Nächst den Eleusinien galten die samothrakischen M. für die heiligsten, besonders unter den asiatischen und thrakischen sowie allen seefahrenden Griechen. Sehr alt und angesehen waren auch die M. des Zeus auf Kreta, deren Feier gewöhnlich auf hoch gelegenen Punkten unter freiem Himmel und bei Tag stattfand. Aus dem Dionysosdienst gingen die Triëterischen Nächte hervor, ein durch ganz Griechenland verbreitetes, höchst fanatisches Frauenfest. Nachmals gehörten die M. der Kybele zu den verbreitetsten und ausgebildetsten. Eine Weihe der Hekate kannte man in Ägina, Thessalien und auf Samothrake. Auch M. der Aphrodite gab es, die jedoch denen der Kybele insofern gerade entgegengesetzt waren, als in diesen die Verstümmelung der Geschlechtsteile, in jenen der Geschlechtsgenuß bis zur Prostitution heiliges Gesetz war. Sie wurden auf Cypern sowie in vielen griechischen Staaten, später namentlich zu Athen, begangen. Auch die ägyptische Isis mit der zu ihr gehörigen Umgebung war ein allgemeines Naturwesen derart, wie es nur in mystischer Weise ausgedrückt und verehrt werden konnte. Die Orphischen M. entstanden zuerst aus dem thrakischen Dionysosdienst, zogen aber später gleichfalls den verschiedenartigsten Aberglauben in ihren Bereich. Sie machten sich in Athen bereits zur Zeit der Peisistratiden geltend und verbreiteten sich dann besonders im Lauf des Peloponnesischen Kriegs. Orphisch und mystisch wurde zuletzt fast gleichbedeutend und Orpheus als der Stifter sämtlicher M. des Altertums angesehen. Mit der Ausbreitung der christlichen Religion verschwanden im 2. und 3. Jahrh. allmählich die M. Vgl. Sainte-Croix, Recherches historiques et critiques sur les mystères du paganisme (2. Aufl. von de Sacy, Par. 1817, 2 Bde.; deutsch, Gotha 1790); Muth, Über die M. der Alten (Hadamar 1842); Welcker, Griechische Götterlehre (Bd. 2, S. 511 ff.); Foucart, Bulletin de correspondance hellénique (Bd. 7); Heine, Die germanischen, ägyptischen und griechischen M. (Hannov. 1879).

Mysterĭen, im Mittelalter eine Art geistlicher Schauspiele, in welchen Szenen der heiligen Geschichte, besonders der Passion, der Auferstehung und der Wiederkunft des Heilands, dargestellt wurden. Die Aufführung fand im Anfang nur in den Kirchen durch Geistliche und Chorknaben statt, später auch auf Straßen und öffentlichen Plätzen von eigens dazu gebildeten Gesellschaften, insbesondere zu Ostern und Pfingsten. Geschichtlich kann man die Spuren der M. bis ins 11. Jahrh. zurück verfolgen. In der frühsten Zeit bestanden sie fast ausschließlich in pantomimischen Darstellungen; der Dialog kam erst später hinzu, und der Text war anfangs, solange nur Geistliche die Spielenden waren, ganz oder zum größten Teil lateinisch abgefaßt, erst später in deutscher Sprache; übrigens wechselten Gesänge mit der Rede. Zu den ältesten der auf uns gekommenen deutschen Dramen dieser Art gehören Bruchstücke eines Passionsspiels aus dem Anfang des 13. Jahrh. (hrsg. von Bartsch in der „Germania“, Bd. 8), sodann das „Spiel von den klugen und thörichten Jungfrauen“ [957] (1322 zu Eisenach aufgeführt) und das „Spiel von St. Katharina“. Im 15. und 16. Jahrh. fand die Aufführung in Frankreich von einer privilegierten Gesellschaft, der Confrérie de la Passion (s. d.), welche von Ort zu Ort zog, und zwar im Freien auf Spielwagen (pageants) statt. Die Bühnen der Wagen waren in drei Stockwerke, zur Darstellung des Himmels, der Erde und der Hölle, geteilt und mit Teppichen behängt; der unterste Teil des Raums diente als Ankleidezimmer. In England unterschied man Darstellungen der göttlichen Geheimnisse (mysteries), solche der Wunder der Heiligen (miracles) und solche moralischer, lehrhafter Handlungen aus der biblischen Geschichte (moralities). Überbleibsel der M. sind die Passionsspiele (s. d.) in Oberammergau und in Tirol. Sammlungen französischer M. veranstalteten Monmerqué und Michel („Théâtre français du moyen-âge“, Par. 1839) und Jubinal („Mystères inédits du XV. siècle“, das. 1837, 2 Bde.); deutsche M. veröffentlichten Mone („Altdeutsche Schauspiele“, Quedlinburg 1841, und „Schauspiele des Mittelalters“, Karlsr. 1846, 2 Bde.) und Kummer („Erlauer Spiele. Sechs altdeutsche M.“, Wien 1882). Vgl. Wright, Early English mysteries (Lond. 1838); Devrient, Geschichte der deutschen Schauspielkunst, Bd. 1 (Leipz. 1848); Pichler, Über das Drama des Mittelalters in Tirol (Innsbr. 1850); Hase, Das geistliche Schauspiel (Leipz. 1858); Ebert, Die englischen M. (im „Jahrbuch für roman. und engl. Litteratur“, Bd. 1, das. 1859); Derselbe, Die ältesten italienischen M. (ebenda, Bd. 5, 1863); Reidt, Das geistliche Schauspiel des Mittelalters in Deutschland (Frankf. 1868); Wilken, Geschichte der geistlichen Spiele in Deutschland (Götting. 1872); Petit de Juleville, Histoire du théâtre en France. Les mystères (Par. 1880, 2 Bde.).