Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Ornamént“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 12 (1888), Seite 450452
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Ornamént. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 12, Seite 450–452. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Ornam%C3%A9nt (Version vom 09.01.2023)

[450] Ornamént (lat., hierzu Tafeln „Ornamente I–IV“), Verzierung, die schmückende Zuthat an Arbeiten menschlicher Kunstfertigkeit, besonders an Werken der Baukunst und der Kunstgewerbe. Diese Zuthat hängt von dem Zweck des Gegenstandes, von der Zeit und dem Ort seiner Entstehung sowie von der Beschaffenheit seines Materials und seiner Herstellungsweise ab. Je nachdem die geometrische Grundform des Kunstwerks im Körper eine Fläche oder eine Linie ist, unterscheidet man die Körper-, Flächen- und linearen Ornamente

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ORNAMENTE I (ALTERTUM).
1. Nimrud. / 2. Ninive. / 3. Chorsabad. / 4. Chorsabad. / 5. Chorsabad. / 6. Ornament eines ägyptischen Mumiensarges. / 7. Ägypt. Kelchkapitäl. / 8. Knospenkapitäl. / 9. 10. Ägyptische Stoffmuster. / 11. Ägypt. Köcherornament. / 12. Bemalter Rundstab. / 13. 14. 15. Ägyptische Thongefäße. / 16 u. 17. Thonscherben aus Troja. / 18 u. 19. Altcyprische Thongefäße. / 20. Thonscherbe aus Mykenä. / 21. Mykenä (Thon). / 22. Mykenä (Archit.). / 23. Olympia (Gesims). / 24. Olympia (Stirnziegel). / 25–29. Mäanderornamente von griechischen Vasen. / 30 u. 31. Griech. Blatt- u. Pflanzenornamente. / 32.–34. Palmettenornamente von griech. Vasen. / 35. Decke des Theseustempels (Athen). / 36. Decke des Theseustempels (Athen). / 37. Dorisches Kapitäl (Parthenon). / 38. Griechische Wandmalerei. / 39. Griechische Wandmalerei. / 40. Etruskisches Stuckbemalung. / 41. Etrusk. Wandmalerei. / 42. Etrusk. Wandmalerei. / 43. Etrusk. Stirnziegel (oberer Teil). / 44. Römische Wandmalerei. / 45. Römisches Mosaik. / 46. Römisches Mosaik. / 47. Römische Stuckbemalung. / 48. Pompejan. Wandmalerei. / 49. Römische Wandmalerei. / 50–52. Pompejan. Friesmalereien. / 53. Bemaltes Relief (Pompeji). / 54. Wandmalerei eines Speisezimmers in Pompeji.

1–5. Assyrisch, 6–15. Ägyptisch, 16–17. Trojanisch, 18–19. Cyprisch, 20–39. Griechisch, 40–43. Etruskisch, 44–54. Römisch.

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ORNAMENTE II (MITTELALTER).
1. Altchristliches Mosaik. / 2. Byzant. Mosaik. / 3 u. 4. Byzantinische Mosaiken. / 5. Byzantin. Kapitäl. / 6. Altchristl. Kapitäl. / 7. Arabisches Mosaik. / 8. Arabische Miniatur. / 9. Arabische Miniatur. / 10. Arab. Firstbekrönung. / 11. Maurischer Stuck. / 12. Maurischer Stuck. / 13. Maur. Mosaik. / 14. Persische Miniatur. / 15. Persische Miniatur. / 16 u. 17. Gallische Agraffen. / 18. Altrussische Miniatur. / 19. Altruss. Miniatur. / 20. Romanische Wandmalerei. / 21. Romanische Wandmalerei. / 22. Roman. Wandmalerei. / 23. Romanische Wandmalerei. / 24. Romanische Wandmalerei. / 25. Altfranz. Thonfliese. / 26. Roman. Email. / 27. Altfranzösisches Email. / 28. Altschwed. Wandmalerei. / 29. Gotisches Bogenfeld. / 30 u. 31. Gotische Holzdekorationen. / 32. Gotisches Kapitäl. / 33. Got. Stickerei. / 34 u. 35. Got. Wandmalereien. / 36 u. 37. Irische Initialen. / 38. Byzant. Miniatur. / 39. Byzant. Miniatur. / 40–42. Italienische Miniaturen. / 43. Ital. Miniatur. / 44. Ital. Miniatur. / 45. Gotische Miniatur. / 46. Gotische Initiale. / 47. Flandrische Miniatur.

1, 6. Altchristlich.   2–5, 38–39 Byzantinisch.   7–10. Arabisch.   11–13. Maurisch.   14–15. Persisch.   16–17. Gallisch.   18–19. Altrussisch.   20–24, 26. Romanisch.   25, 27. Altfranzösisch.   28. Altschwedisch.   29–35, 45–46. Gotisch.   36–37. Irisch.   40–44. Italienisch.   47. Flandrisch.

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ORNAMENTE III (RENAISSANCE).
1. Decke im Pal. Ducale in Mantua. / 2. Aus den Loggien des Vatikans in Rom. / 3. Aus den Loggien des Vatikans in Rom. / 4. u. 10. Aus dem Meßbuch Leos X. / 5. Decke in San Maurizio zu Mailand. / 6. u. 13. Aus den Loggien des Vatikans in Rom. / 7. Initiale A (Meßbuch Leos X.). / 8. Initiale M. / 9. Ornament eines Bilderrahmens. / 10. (siehe 4). / 11. Decke des Pal. Doria in Mailand. / 12. Venezianisches Email. / 13. (siehe 6). / 14. Holzmosaik aus Sta. Maria in Organo zu Verona (1499). / 15. Ornament einer ital. Lederschüssel (16. Jahrh.). / 16. Initiale P (Meßbuch). / 17. Intarsia (französisch, 16. Jahrh.). / 18. Ital. Buchornament. / 19. Initiale D. (Meßbuch, mit den 5 Kugeln des Mediceischen Wappens). / 20. Vier Viertel von ital. Majolikafliesen. / 21. Französ. Miniatur. / 22. Aus dem Gebetbuch der Königin Anna von Bretagne. / 23. Steinornament vom Schloß zu Châteaudun (1530). / 24. Französ. Manuskript-Randleiste. / 25. Pilasterornament aus Fontainebleau. / 26. Steinornament vom Schloß zu Blois (1530). / 27. Glasierte Ofenkachel (deutsch, 17. Jahrh.). / 28. Emailliertes Silberplättchen (deutsch, 16. Jahrh.). / 29. Aus einer Handschrift von Schäuffelein (1538). / 30. Entwurf zu einem Kelch in Email und Gold von M. Hauch (Augsburg 1571). / 31. Glasierte Ofenverzierung von Hirschvogel (Nürnberg, 16. Jahrh.). / 32. Glasierter Thonkrug (deutsch, 1590). / 33. Aus einem deutschen Gebetbuch (1520).

(Fig. 4, 7, 8, 10, 16, 18 u. 19 nach Originalen der Hamilton-Sammlung in Berlin.)

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ORNAMENTE IV (17/18. JAHRH. UND ASIEN).
1. Chinesische Emailmalerei. / 2. Chinesische Emailmalerei. / 3. Japanische Emailmalerei. / 4. Japanische Malerei. / 5. Japanisches Email. / 6.–8. Indische Manuskript-Verzierungen. / 9. Indische Lackmalerei. / 10. Persisches Niello. / 11. Persischer Teppich. / 12, 13. Persische Fayencen. / 14. Französ. Marketerie (18. Jahrh.). / 15. Eingelegte Arbeit (Tischplatte). (18. Jahrh.) / 16. Französ. Stickerei. (17. Jahrh.) / 17. Französische Kartusche. (18. Jahrh.) / 18. Dekorationsmalerei. (Versailles, Anf. 18. Jahrh.) / 19. Französ. Marmor-Mosaik. (17. Jahrh.) / 20. Französ. Fayencemalerei. (17. Jahrh.) / 21. Französ. Stickerei. (18. Jahrh.) / 22. Bemaltes Leder. (Frankreich, 18. Jahrh.) / 23. Stickerei. (17. Jahrh.) / 24. Französ. Porzellanmalerei. (18. Jahrh.) / 25. Seidenstoff. (17. Jahrh.) / 26. Möbelstoff. (Zeit Ludwigs XVI.) / 27. Gestickte Bordüre. (Frankreich) / 28. Dekor.-Malerei. (18. Jahrh.)

[451] und hierbei wieder die erhabenen (Hautreliefs), halberhabenen (Basreliefs) und Flachornamente. Die Ornamente sind entweder der Geometrie oder der Pflanzen- und Tierwelt entlehnt und dann entweder rein geometrisch, vegetabilisch oder animalisch, oder aber aus je zweien dieser Gebiete oder aus allen dreien kombiniert. Die vegetabilischen und animalischen Gebilde lassen hierbei eine mehr oder minder freie Verwendung zu, welche sich dem geometrischen Grundgedanken enger oder weniger eng anschließt. Man unterscheidet hiernach stilisierte und naturalistisch behandelte Ornamente. Streng stilisiert sind besonders die Ornamente der Bauwerke und Gerätschaften des klassischen Altertums, naturalistische Ornamente sind besonders der Spätgotik und Spätrenaissance eigentümlich. Je nachdem die Ornamente durch die Form oder durch die Farbe zu wirken haben, sind sie plastische oder farbige; doch werden nicht selten Plastik und Polychromie, wie bei der griechischen und gotischen Architektur, gleichzeitig verwendet, um die Wirkung der Ornamente zu steigern. Einen Überblick über die geschichtliche Entwickelung des Ornaments bei den Hauptkulturvölkern und in den Hauptepochen geben beifolgende vier Farbentafeln „Ornamente“; weitere Beispiele von Ornamenten s. die Tafeln „Baukunst“, insbesondere Tafel II, Fig. 3 u. 12, Tafel VII, Fig. 13, Tafel VIII, Fig. 7 u. 8, und Tafel IX, Fig. 10. Die Geschichte des Ornaments steht mit der allgemeinen Kunstgeschichte im engsten Zusammenhang. Die einfachsten Ornamente finden sich auf Geräten der sogen. Bronzeperiode und an gewebten Stoffen wenig entwickelter Völker. Auch die Ornamente der prähistorischen Zeit und die ältesten orientalischen, mit welchen auch diejenigen auf den Schliemannschen Funden in Troja, Mykenä und Tiryns und auf den cyprischen Altertümern übereinstimmen (s. Tafel I, Fig. 16–22), sind denjenigen der Naturvölker verwandt und vorwiegend geometrisch (Wellen- und Zickzacklinien, Spiralen). Erst allmählich werden Versuche gemacht, Tiere durch steife Linien nachzubilden (Fig. 18), woraus sich schließlich die Tierornamentik an den ältesten griechischen Vasen entwickelte (s. Tafel „Vasen“, Fig. 7). Bei den Assyrern treten neben linearen Ornamenten (Bandverschlingungen) bereits vegetabilische (Rosetten, Blüten, Palmetten) auf (s. Tafel I, Fig. 1–5). Ein Gleiches gilt von der Ornamentik der Ägypter, welche ihren vegetabilischen Ornamenten die Lotosblume (Fig. 7) und andre Wasserpflanzen zu Grunde legten. Dazu kamen stilisierte Tiere, Skarabäen (Fig. 6), die Uräusschlange, der Sperber u. dgl. (Fig. 6–15). Die Ornamente für die Weberei, für welche sich ein besonderes Verzierungssystem ausbildete (s. Weberei nebst Tafel), sind meist geometrisch. Die hellenische Kunst, welche ihre vegetabilischen und linearen Ornamente von der asiatischen übernahm, bildete die Ornamentik zu einem strengen System aus, wodurch der eigentliche Stil begründet wurde, indem jedes O. sich dem Charakter des verzierenden Kunstgegenstandes anpaßte und unterordnete. Die Figuren 23–39 geben Proben von Ornamenten an Architekturteilen, Wänden, Decken und Vasen. Das Charakteristische der griechischen Ornamentik ist die strenge Stilisierung der vegetabilischen Elemente, d. h. die Umbildung der einzelnen Erscheinung zu einem feststehenden Typus. Der Mäander (s. d.) und die Palmette (s. d.) sind die Hauptelemente der linearen und der vegetabilischen Ornamentik. Die Ornamentik der Etrusker (Fig. 40–43) fußt ebenso wie die der Römer (Fig. 44–54) auf der griechischen, nur daß letztere von den Römern zu höchstem Reichtum entwickelt wurde, namentlich unter Einführung figürlicher Elemente, wofür besonders die Wandmalereien in Pompeji (Fig. 48, 50–54) und die römischen Grabkammern (Kolumbarien) glänzende Beispiele bieten. Aus diesen Ornamenten, die im 15. Jahrh. neu aufgefunden wurden, entwickelte sich die Ornamentik der italienischen Renaissance (s. Tafel III; vgl. auch Grotesk). Durch Aufnahme orientalischer Elemente bildete die byzantinische Kunst einen neuen Stil heraus, der sich wesentlich auf lineare und vegetabilische Formen beschränkte, und für welche starke Farbenkontraste kennzeichnend sind (s. Tafel II, Fig. 2–6, 38, 39). Auf spätgriechischen und byzantinischen Elementen beruhte auch die Dekoration der Araber, Mauren und Perser (Fig. 7–13, 14 u. 15), die sich bei der beweglichen Phantasie und der Farbenlust dieser Völker um so glänzender entfaltete, als ihnen die Nachbildung der menschlichen Figur verboten war. Orientalischen Einfluß zeigen auch die Buchmalereien in den irischen und altrussischen Manuskripten (Fig. 36 u. 37, 18 u. 19). Mit der orientalischen Ornamentik verwandt ist diejenige der Inder (s. Tafel IV, Fig. 6–9), der Perser, die zu Ende des Mittelalters von Indien und China abhängig wurde (s. Tafel IV, Fig. 10–13), der Chinesen (Fig. 1 u. 2) und Japaner (Fig. 3–5). Die Kunst der Ostasiaten, welche vorwiegend eine ornamentale ist, hat später einen eignen Weg eingeschlagen (vgl. Japan, S. 160). Sie hat im 18. Jahrh. und in neuester Zeit auch die europäische Dekoration stark beeinflußt. Aus der griechisch-römischen Ornamentik ist die romanische abgeleitet worden, welche die Baukunst und die Dekoration der innern Räume vom 10. bis zum 13. Jahrh. beherrschte. Sie zog neue Elemente aus direktem Naturstudium und gab besonders phantastische Tierfiguren in ihrem System großen Raum (s. Tafel II, Fig. 20–28, und Tafel „Weberei“). In der gotischen Ornamentik tritt wieder mehr das vegetabilische Element in stark phantastischer, später naturalistischer Behandlung, die schließlich zum wüsten Übermaß und zur leeren Spielerei ausartete, in den Vordergrund (s. Tafel II, Fig. 29–35, 40–47). Eine Rückkehr zum Einfachen und Stilgerechten führte im Anschluß an die römische Antike die italienische Renaissance herbei (s. Tafel III, Fig. 11–16, 18–20), deren System besonders nach Frankreich durch italienische Künstler übertragen und von einheimischen festgehalten wurde (Fig. 17, 21 bis 28), während die deutsche Renaissance die antike Ornamentik mehr in freierm, naturalistischem Sinn, auf Grund der gotischen Überlieferung verwertete (Fig. 27–33). Eine weitere Umbildung nach der naturalistischen Seite, aber zugleich eine Steigerung zu höherer Pracht erfuhr die Ornamentik in der Zeit der Spätrenaissance, des Barock- und Rokokostils (s. Tafel IV, Fig. 14–28). Die Ornamentik der Barockzeit artet häufig in schwerfälligen Prunk und Überladung aus, während die der Rokokozeit durch Grazie und spielende Leichtigkeit ausgezeichnet ist. Das Grotten-, Muschel- und Rahmenwerk ist für letztere charakteristisch. Eine Reaktion gegen das Übermaß derselben wurde durch den steifern und schmucklosern Zopfstil eingeleitet, aber erst durch die Nachahmung antiker Muster, zum Teil in mißverstandener (Empirestil), zum Teil in reinerer Form (Schinkel, Klenze), durchgeführt. Die Ornamentik der Zeit von 1820 bis 1870 trägt einen frostigen, zaghaften Charakter. Erst mit dem vollen Anschluß der Baukunst, des Kunstgewerbes und der Dekoration an die Renaissance hat die moderne Ornamentik eine freie Bewegung gewonnen, [452] welche der Farbe den weitesten Spielraum gewährt. Die Ornamente aller Stilperioden werden, je nach dem Zweck, nachgeahmt oder für die modernen Bedürfnisse umgebildet; die Renaissance, der Barock-, der Rokokostil werden besonders bevorzugt. Vgl. auch die Tafeln „Moderne Bronzekunstindustrie“, „Keramik“, „Möbel“, „Schmiedekunst“, „Schmucksachen“ und „Weberei“.

Vgl. Bötticher, Tektonik der Hellenen (2. Aufl., Berl. 1869 ff.); Semper, Der Stil (2. Aufl., Münch. 1878); Owen Jones, The grammar of ornament (Lond. 1865; deutsche Ausgabe, Leipz.); Racinet, Das polychrome O. (deutsche Ausg., 3. Aufl., Stuttg. 1881; zweite Serie 1885–87); Jacobsthal, Grammatik der Ornamente (Berl. 1874); Kanitz, Katechismus der Ornamentik (3. Aufl., Leipz. 1884); Lièvre, Les arts décoratifs à toutes les époques (Par. 1873); Bucher u. Gnauth, Das Kunsthandwerk (Stuttg. 1874–76); Christmann, Kunstgeschichtliches Musterbuch (Frankf. 1876); Hirth, Der Formenschatz (Leipz. 1877 ff.); Blanc, Grammaire des arts décoratifs (Par. 1881); Kolb u. Dolmetsch, Ornamentenschatz (2. Aufl., Stuttg. 1887 ff.); F. S. Meyer, Ornamentale Formenlehre (Leipz. 1883–86, 300 Tafeln; Handausg. u. d. T.: „Handbuch der Ornamentik“, 1888).


Jahres-Supplement 1891–1892
Band 19 (1892), Seite 685691
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[685] Ornament (Pflanzen und Tiere im O., hierzu Tafel „Pflanzenornamente“[1]). Die allerältesten Kunsterzeugnisse der Völker verraten in ihrer Primitivität und Mannigfaltigkeit stets ein Anlehnen an gegebene Formen, ein spekulatives Belauschen und Beobachten der Natur, das auch da noch erkennbar ist, wo die Phantasie des schaffenden Geistes sich von einem sklavischen Nachgehen der Kontur, von einem schematischen Kopieren frei zu machen und etwas von der Natur abweichendes Höheres, Übersinnliches zur Darstellung zu bringen sucht.

Den reinsten unmittelbaren Ausfluß sinnlicher Anschauung und spekulativer Beobachtung repräsentiert unstreitig in allen ihren Zweigen die bildende Kunst der alten Ägypter, namentlich erhält die Architektur und Ornamentik, die teils rein naturalistisch, teils leise verhüllt die Haupttypen der ägyptischen Flora in voller Lebendigkeit widerspiegeln, ihr scharfes individuelles Gepräge. Schon die ältesten Kalksteingräber der Pyramiden von Gizeh und Sakkâra (2. und 3. Dynastie 4100–3700 v. Chr.) sind genaue Nachahmungen prähistorischer Holzbauten; sie stellen eine Lage von nebeneinanderliegenden Palmenstämmen dar, und der Künstler hat die natürliche Vorlage so sklavisch kopiert, daß an diesen steinernen Stämmen nicht einmal die eigentümliche Schuppenbildung der Rinde vergessen worden ist. In den Füllungen des obern Teiles der Fassaden dieser Gräber, ebenso auf den Stelen (Gedächtnissteinen) dieser Periode erscheint als erstes dekoratives Element das gestielte Lotosblatt (Nymphaea lotus und N. coerulea) in verschiedener, stark stilisierter Form, und zwar so, daß zwei mit ihren Stengeln gegeneinander geneigte Lotosblätter miteinander durch Bänder verbunden sind. An den Denkmälern aus der Zeit der 4. und 5. Dynastie (3700–3300 v. Chr.) erscheint unter dem Hohlkarnies der Wandfläche, oft auch Teile der Fassade einschließend, der Rundstab (s. Tafel I, Fig. 12), augenscheinlich nichts andres darstellend, als ein von schmalen bunten Bändern umflochtenes Rohrbündel (Arundo Donax).

Als hervorragendes architektonisches Glied im Holzbaustil des alten Reiches, an Tempelchen, Nischen, Altanen etc. erscheint die Säule, die an ihrem Kapitäl immer ein und dasselbe Pflanzenmotiv variiert: die Lotosknospe und die Lotosblüte. Dieselbe entstammt dem altägyptischen Brauch, an Festtagen die Säulen der Häuser, Tempel, Paläste etc. mit Lotusblumen zu umbinden und zu umwinden. An Stelle des natürlichen Blumenschmuckes trat später für die Holzsäulen ein ornamentaler, farbenreicher Schmuck aus Holz und gefügigem Metallblech. Die Pftanzensäule begegnet uns in einem charakteristischen Gepräge und in ihrer vollen Entfaltung im Steinbau des mittlern und neuen Reiches als Lotos- oder Papyrussäule. Bei der Lotossäule bilden offenbar vier oder auch mehrere lange, runde, nach oben zu sich verjüngende und unterhalb des Kapitäls mit fünf Bändern (Annuli) zu einem Bündel verbundene Lotusstengel das Motiv für den Säulenschaft, während das Kapitäl der geschlossenen, der im Aufbrechen begriffenen oder voll entfalteten Lotosblüte nachgeahmt worden ist (s. Taf. I, Fig. 7).

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Pflanzenornamente.
Fig. 1. Griechisch: a Weinblatt mit Traube, b Mohn, c Sonnenrose, d Tulpe. / Fig. 2. Palmette (Griechisch). / Fig. 3. Akanthusblatt (altchristlich). / Fig. 4. Kapitäl aus der Sophienkirche in Konstantinopel. / Fig. 5. Arabisches Weinblatt mit Traube. / Fig. 6. Wimperge aus dem 14. Jahrh. / Fig. 7. Krabbe (Ende 14. Jahrh.). / Fig. 8. Kreuzblume von der Kathedrale zu Chartres (13. Jahrh.). / Fig. 9. Galerie von der Kathedrale zu Carcassonne (14. Jahrh.). / Fig. 10. Epheufries von Notre-Dame in Paris (13. Jahrh.). / Fig. 11. Kapitäl aus der Sainte-Chapelle in Paris (1240). / Fig. 12. Gotisches Weinlaub (14. Jahrh.). / Fig. 13. Kapitäl aus Sens (1240). / Fig. 14. Thürsturz-Gesims aus der Sainte-Chapelle in Paris (13. Jahrh.).

[686] In noch schärferer Charakteristik ihres Gesamthabitus und der einzelnen Details erscheint die Papyrussäule als porträthafte Nachbildung der Papyrusstaude (Papyrus antiquorum). Auf dem kantig gerippten Säulenschaft, der dem dreikantigen, sich nach oben zu verjüngenden Schaft entspricht, erhebt sich das kegelförmig abgestumpfte Knospenkapitäl (Taf. I, Fig. 8) mit einem Kranz gestützter Hüllblätter, unter ihnen die fünf Haftbänder, von denen sogar die abwärts laufenden Schleifen angedeutet worden sind. Im neuen Reiche, wo die Pflanzensäulen nach und nach kolossale Dimensionen annehmen, glättet sich der Schaft, um zur Aufnahme von mythologischen Szenen, hieroglyphischen Inschriften, Königsschilden etc. zu dienen. Dem dekorativen Schmucke am Fuß des Säulenschaftes wird in allen Epochen die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet. Selten nur fehlt ihm der charakteristische Kranz aufsprossender, eiförmig zugespitzter Blätter mit ihren parallel laufenden Nerven. In ihn hinein drängen sich stilisierte Lotosblumen, Lotosblumensträuße, Papyrusknospen, stilisierte Papyrusdolden, Schilfblätter und Königsschilde, seitlich eingeschlossen von Uräusschlangen, bekrönt mit der Sonnenscheibe etc. Die Säulenkapitäle in Gestalt voll erschlossener Blumenglocken werden für die altägyptischen Künstler zum Prüfstein ihrer künstlerischen Begabung, ihres Farben- und Formensinnes, ihrer Genialität und Phantasie, denn hier gilt es, diese oft kolossalen Flächen mit Blattkreisen, einzelnen Blättern, aufschießenden, langgestielten Lotos- und Papyrusknospen und -Blüten, Schilf- und Palmenblättern plastisch und in Farben geschmackvoll zu dekorieren und die künstliche Blumenfülle so zu verteilen und anzuordnen, daß die schillernde Blütenpracht voll und ganz zur Geltung kommt (Taf. I, Fig. 7). Ja, an einigen Lotusblattkapitälen hat der Künstler sogar den an den bogig geschweiften Blättern hängenden Wassertropfen getreulich nachgebildet. Von besonderer Eigenart sind auch die formvollendeten Palmenkapitäle, welche gewöhnlich mit neun graziös geneigten Palmenblättern umwunden erscheinen und zur Vervollständigung des Motivs nicht selten noch mit Datteltrauben geziert sind. Seltener erscheinen die würfelförmigen Kapitäle mit der Hathormaske. Wie in der Architektur, so wiederholen sich an allen Kunsterzeugnissen der alten Ägypter die typischen Formen des Lotos und Papyrus. Vielfach in Verbindung mit Palmenblättern, stilisierten Weintrauben, Rosetten etc. finden wir sie als dekoratives Element in den Malereien der Mumienkisten, in den Mustern der Flechtwerke, Gewebe, Möbelstoffe, Teppiche, Decken- und Wandmalereien. Die gewebten altägyptischen Stoffe sind entweder einfach glatt, wellenbogen- oder zickzackförmig gestreift, flechtwerk-, schachbrett- oder mäanderartig gemustert, oder sie zeigen ein fein berechnetes Arabeskenwerk von zierlich geschlungenen Spirallinien, zwischen welche sich außer phantasievoll gezeichneten Lotos- und Papyrusglocken Rosetten, Sternchen (Taf. I, Fig. 9 u. 10), Skarabäen, Uräusschlangen, Namensschilder, Hieroglyphenschriften, die geflügelte Sonnenscheibe etc. als füllende Elemente einschmiegen. Auch das Kunsthandwerk bemächtigt sich dieser Pflanzen. Vasen, Schalen, Krügen, Libationsgefäßen etc., die aus den Werkstätten der Töpfer hervorgehen, hat die geschlossene Knospe oder geöffnete Blütentulpe des Lotos als Modell gedient, und die auf der Innen- oder Außenseite aufgemalten Kelch- oder Blumenkronblätter erhöhen den Eindruck der Natürlichkeit. Amulette Musikinstrumente, die Schnäbel der Boote und Schiffe, die Griffe der Spazierstöcke, Dolch- und Spiegelgriffe, Fächer, Wedel, Heerzeichen, Parfümbüchsen, Parfümlöffel und unzählige kleine Luxusgegenstände aus altägyptischen Frauengemächern zeigen in überraschender Weise, wie geschmack- und phantasievoll zugleich das Kunstgewerbe die gegebenen Pflanzenmotive zu variieren und zu verwerten verstand. Die Ornamentik der mannigfaltig, geschmackvoll und originell gestalteten Trankopferbecher, Trinkbecher, Krüge und Schalen ist äußerst reich und phantastisch und gewinnt besonders dadurch an Lebendigkeit, daß der Künstler Tierfiguren (Löwen, Ziegen, Widder, Gazellen, Affen, Füchse, Geier, Sperber, Greife, Krokodile etc.) teils als Henkel, teils als Deckelaufsatz oder auch als selbständiges dekoratives Element angefügt hat. Ungemein reich ornamentiert sind auch die prächtigen, geschmackvollen Erzeugnisse der Goldschmiedekunst: die goldenen Armspangen in Form von Uräusschlangen, die zierlichen Ketten, welche sich aus Skarabäen, goldenen Fliegen, Gänseköpfchen, Sphinxen, Sperbern, Widderköpfen, Greifen, Lotosknospen und -Blüten zusammensetzen und mit Lapislazuli, Türkisen, Glasflüssen etc. verziert worden sind. Zur Erinnerung an den siegreichen Kampf, den der Gott des Lichtes, Horos, gegen den Seth-Typhon (das Böse) zu bestehen hatte, und in welchem er sich in eine geflügelte Sonnenscheibe verwandelte, der sich noch zwei schnell tötende Uräusschlangen als Helferinnen zugesellten, erscheint nicht nur über den altägyptischen Tempelpforten, sondern auch an Mumiensärgen, Giebeln der Stelen etc. die von zwei Uräusschlangen umgebene, oft auch von einem heiligen Skarabäus (Symbol der Unsterblichkeit) gehaltene geflügelte Sonnenscheibe (Taf. I, Fig. 6) als Schutzmittel gegen die Feinde des Horos, der auch die Verstorbenen zum neuen Leben führt.

In den Mustern der herrlichen Teppiche und Gewebe Indiens und Persiens taucht in geschmackvoller Anordnung ein wunderbar schöner Blumenflor auf. Neben Lotos und Palme, die auch in dem assyrischen O. in Verbindung mit Rosetten und Palmetten auftreten (Tafel I, Figur 1–5), sind es prächtig gezeichnete Rosen, Nelken, Granaten, Geißblattblüten, Haselnuß, Farnkraut und noch eine große Menge gestielter und trichterförmiger Blüten von lebhafter Farbe, die sich der nähern Bestimmung entziehen. Doch wird der reiche Blumenplan von buntschillernden Vögeln und allerlei vierfüßigen Tieren belebt, die über die großen und kleinen Blütenglocken hinflattern und an dem grünen Blattgeranke auf und ab klettern. Unter den Vögeln ist es besonders der Pfau, dessen Federkleid sich der sorgsamsten Ausführung erfreut (s. auch Taf. IV, Fig. 6–13).

Nicht minder reich und prächtig schmückt sich im alten China das O. mit Pflanzengebilden. Es ist eine tolle, phantastische Traumwelt, die uns in den Mustern der seidenen Gewebe und der wundervollen Bemalung der Vasen entgegentritt. Die quecksilberartige Lebendigkeit des Ganzen wird durch graziöse Leichtigkeit, Schwung der Umrisse und brillanten Farbenglanz noch besonders erhöht. Die Malereien bekunden die größte Naturtreue, die hauptsächlich in der Darstellung der Pflanzengebilde gipfelt. Der Künstler ist zugleich Botaniker, und aus seiner aufmerksamen Beobachtung erwächst uns die Möglichkeit, die Flora der Ornamente genau zu bestimmen, welche sich aus Blüten und Blättern des Theestrauches, aus Rosen, Päonien, Kamelien, Zweigen des Pfefferstrauches, Melonen und den Blüten des [687] Chrysanthemum zusammensetzt (s. auch Taf. IV, Fig. 1 u. 2).

Die hebräische Kunst hat sich auf dem Gebiete der Plastik und Ornamentik auch zur Zeit ihrer Blüte nicht über die primitivsten Leistungen emporzuschwingen vermocht. Die Furcht vor einreißendem Bilder- und Götzendienst gestattete nur schüchterne künstlerische Versuche, denen die in Gold getriebenen Cherubim auf dem Deckel der Bundeslade und einzelne Darstellungen von Tierfiguren in den Tempel- und Privatbauten zuzuzählen sind. Das Pflanzenornament hielt sich in bescheidenen Grenzen. Lilie, Rose, Koloquinte, Granatapfel und Dattelpalme gehören zu den aus der umgebenden Natur entnommenen Motiven.

Die griechische Ornamentenflora überrascht durch die vielseitige ästhetische Ummodelung der gegebenen Pflanzenformen, durch die sinnige, praktische Auswahl der Pflanzengebilde, durch die geschmackvolle, systematische Verteilung, den maßvollen Ausdruck und die durchsichtige Verhüllung der entlehnten Naturformen. Sie ist von der naturgetreuen Darstellung der einzelnen Pflanzenarten weit entfernt, und diese Entfernung von dem natürlichen Ausgangspunkt ist derartig, daß man die erhaltenen Resultate als eine wirklich neue Schöpfung betrachten kann. Ungeachtet der verhüllenden Darstellung lassen die griechischen Ornamente dennoch einzelne Pflanzenarten deutlich erkennen: Aloe, Palme, Winde, Lorbeer, Ähren, Epheu, Tulpen, Eichenblätter, Pinienzapfen, der Mohn mit seiner Frucht, die Blüte der Sonnenrose, beide sehr naturalistisch, das Weinblatt mit einer in seiner Mitte befindlichen Traube bilden häufige Wiederholungen (Fig. 1 beifolgender Tafel). In den Rankenzügen der krönenden Elemente der Bauwerke finden wir in regelmäßiger Abwechselung Palmette und Lotos in freier, geschmeidiger und schwunghafter Entfaltung (Taf. I, Fig. 33 und 34). Die griechische Ornamenten-Lotosblume zeigt einen gestielten, zweiteiligen Kelch; aus ihm schießen in der Regel fünf symmetrisch angeordnete Blätter in die Höhe, von denen je zwei seitliche sich sanft nach außen neigen. Häufig setzt sie sich aus einem Doppelkelch zusammen, der aus lanzettförmigen Spitzblättern besteht. Aus der Mitte des obern Kelches erhebt sich der blattartige Stempel. Nicht selten ist der obere Kelch noch besonders gestielt, und der blattartige Stempel der Blüte wird zu einem mit Beeren besetzten Fruchtkolben. Die zierliche Palmette, aus der auch die Stirnziegel gebildet sind (Fig. 2 beifolgender Tafel), welche in vielerlei Gestalt auf den Tempelfriesen steht und in den Ornamenten buntbemalter Vasen wiederkehrt, mag vielleicht der gefügigen Fruchtschote des Johannisbrotbaumes (Ceratonia siliqua) oder den entfalteten Blütenblättern des Geißblattes (Lonicera Caprifolium) nachgebildet sein. Die tragenden Elemente der griechischen Denkmäler ziert die Blätterwelle: eine Reihe nebeneinander fortlaufender Blätter. Dieselben sind entweder eckig, herzförmig oder rund, oft bauchig nach außen gebogen, so daß die Spitze den Fuß des Zierstabes berührt. In die Zwischenräume dieses Blattbandes drängt sich ein zweites von kleinern spitzen Blättern hinein. Rand und Mittelrippe der Blätter der ersten großen Doppelreihe sind noch besonders entweder in der Bemalung durch eine andre Farbe oder in plastischer Darstellung durch Erhebung über die Fläche ausgezeichnet. Das tragende Element mit runden Blättern bezeichnet man mit dem Namen Eierstab. Daß dieses in Eiform behandelte O. den in aufgesprungenen Schalen der Roßkastanie (Aesculus Hippocastanum) eingebetteten Früchten entnommen sein soll, ist durchaus fraglich (Taf. I, Fig. 37). Die als Fessel der Blätterwellen an ionischen und korinthischen Säulenkapitälen und als Deckenornament (Taf. I, Fig. 35 und 36) auftretende Perlenschnur ist nach Lohde als heiliges Symbol anzusehen. Die Scheibchen und Perlen, allein oder paarweise aneinander gereiht, deuten auf die Samenkügelchen und Linsen gewisser, den Gottheiten geweihten Pflanzen. In andern schmückenden Haftmitteln der architektonischen Glieder, den Laubbändern und Blättersträngen, begegnen uns Weinrebe, Lorbeer, Eiche, Epheu und Myrte in mehr oder minder stilisierter Form. Der berühmteste Ornamententypus der griechischen Kunst ist jedoch das Blatt des Akanthus, dessen edel geschwungene, geschmeidige Form sich in alle griechischen Kunstschöpfungen mischt, durch alle Perioden der klassischen Kunst den Vorrang behauptet und vom korinthischen Säulenkapitäl unzertrennlich ist. Das korinthische Kapitäl hat in seinem sehr zart und sehr frei behandelten Akanthusornament die geschmackvollsten Modifikationen aufzuweisen. Der Künstler hielt sich durchaus nicht streng an die natürliche Form des Blattes, sondern benutzte nur den Formgedanken desselben. Die einzelnen Blätter des Akanthusornaments ruhen auf breiter Basis. Die Nebenrippen der Blattfiedern laufen nicht, wie in natura, an die Hauptrippe des Blattes, sondern einzeln an die Basis. Bei in sanftem Schwunge vornübergeneigten Spitzen der mittlern Partie des Blattes kommt jeder einzelne Teil desselben, Ränder, Einschnitte und Buchtungen, voll zur Geltung. Bald jedoch genügt das einfache Akanthusornament nicht mehr. Schon erhebt sich über dem ersten Kranz ein zweiter, ja über diesen noch ein dritter von Akanthus- oder Spitzblättern, die sich leicht nach außen neigen. Das Atanthusornament beschränkt sich in seinem Auftreten nicht auf das Kapitäl, sondern geht auch in die Rankenzüge der Ornamente über, wo es sich entweder selbständig oder in Verbindung mit Lotos und Palmetten durch geniale Führung der Linien und reiche Modellierung auszeichnet.

Die Römer waren die Erben der Griechen. Sie hatten durch sich keine Kunst. Nach der ersten Kunstepoche, welche sie den Arbeiten der Etrusker (vollendete Vasen, Goldarbeiten, Gewölbe- und Arkadenbau, Taf. I, Fig. 41–43) verdanken, verlieren dieselben nach der Eroberung der griechischen Kolonien ihre ursprüngliche Originalität, und es existiert in Rom nur noch eine griechische Kunst, die hier freilich nicht die erwünschte Pflege fand, sondern bald durch geschmacklose Überladung, namentlich der Ornamente, mehr und mehr von ihrer ursprünglichen klassischen Reinheit verlor. Das römische Akanthusornament erscheint unschön und schwülstig, Blattspitzen und Blattlappen sind widernatürlich abgerundet und nehmen ihm den Hauch genialer Entfaltung (Taf. I, Fig. 53). Kelch und Blütenblätter des Lotos- und Palmettenornaments sind in einzelne Partien zerpflückt (Taf. I, Fig. 51 u. 52), und wir vermögen in dieser römischen Blume den ägyptischen Typus nicht wieder zu erkennen. In die Übergangszeit der hellenischen zur römischen Kunst fallen die vollendeten Wandgemälde von Herculaneum und Pompeji (Taf. I, Fig. 48, 53, 54), auf deren Feldern frei und leicht schwebende Gestalten, Genien, Tänzerinnen, Bacchantinnen und Bacchanten, verschiedene mythologische Gestalten, Götter, Heroen, allerlei vierfüßige Tiere, Vögel, Szenen aus dem täglichen Leben und Landschaften zur Darstellung kommen. Hauptsächlich aber ist es [688] eine reiche Flora, welche in überraschender Naturtreue in Tausenden von Bouketts, Guirlanden, Fruchtständern etc. die Wände schmückt und uns Gelegenheit gibt, die Flora Mittelitaliens eingehend zu studieren. Häufig vertreten finden wir in diesen Malereien den Ölbaum, die Cypresse, die Pinie, die aleppische Föhre, den Oleander, die Zwerg- und Dattelpalme, die Feige, den Mandelbaum, den Granatapfel und die Mispel. Als beliebtes Rankenornament an architektonischen Elementen, namentlich an Säulen, ferner auch für buntbemalte Krüge und Vasen gelten Epheu und Weinrebe.

Klein und gering waren die Anfänge der christlichen Kunst. Ihren ersten Schauplatz haben wir in den Katakomben Roms zu suchen. Sie äußern sich in Decken- und Wandgemälden, auf denen biblische Gestalten und Szenen zur Darstellung kommen, sodann in dem O. der Sarkophagskulpturen. Hier finden wir fast ausschließlich diejenigen Pflanzen vertreten, welche aus der Heilsgeschichte her tiefe symbolische Bedeutung haben: Epheu (Sinnbild der ewigen Dauer und Hoffnung), Palme (Zeichen des Sieges), Cypresse (Symbol der Unsterblichkeit), Weinrebe und Weinblatt (biblisches Gleichnis vom Weinstock, Tafel II, Fig. 1) behaupten den Vorrang. Die Frucht- und Blumenranken, welche nicht selten die Gemälde umziehen, setzen sich aus Kleeblättern, Weinblättern, Trauben, Lorbeerzweigen mit Früchten, Äpfeln, Orangen, Ähren, Feigen, Schwertlilien, weißen Lilien, auch in Stabform und zu Bündeln vereinigt, zusammen. Auch der Akanthus hat sich in Ranken- und Straußform in die altchristlichen Ornamente hineinverirrt (Fig. 3 beifolgender Tafel). Ohne allen Schwung, ohne Abwechselung füllen in stets sich wiederholenden spiraligen Windungen die einem dicken gedrehten Tau gleichenden Ranken oft ganze Flächen der Gemälde. Der Raum zwischen den Akanthusspiralen ist ausgefüllt mit Kreuzen (Symbol der Christenheit) und allerlei christlich-symbolischen Tiergestalten: Adlern, Tauben, Reihern, Fischen, Hirschen und Schafen, unter den letztgenannten auch Christus als Opferlamm mit Kreuz und Glorienschein dargestellt.

Das O. der byzantinischen Kunst, eine Verschmelzung von altchristlichen mit griechisch-römischen und asiatischen Elementen, äußert sich in wunderlichem Laub- und Riemenwerk, Tierfratzen, Blätterwellen, Eierstäben, Akanthusblättern, Akanthussträußen und Akanthusranken, welche die Knäufe der Pfeilersäulen umziehen (Fig. 4 beifolgender Tafel). Der Akanthus erscheint höchst unglücklich stilisiert, starr, tot, trocken, ohne allen Schwung und erweckt den Eindruck, als sei er aus einem verstaubten Herbarium herausgenommen und an den Steinkern des Kapitäls geheftet worden (Taf. II, Fig. 6).

Der byzantinische Stil beherrschte das ganze frühe Mittelalter, verfeinerte sich aber in seiner weitern Ausbildung durch fortwährende Hinzunahme und glückliche Stilisierung antiker architektonischer und ornamentaler Typen bei Beginn des 10. Jahrh. zum sogen. romanischen Stil. Das Ornamentenwerk, das die Wände und die Würfel- oder Glockenkapitäle der Säulenschäfte tragen, wird beweglicher, eleganter, lebhafter und geschmackvoller in Form und Farbe und zeugt in seiner glücklichen symmetrischen Anlage und Verteilung von feiner künstlerischer Berechnung. Die sehr stilisierten Blatt- und Rankenornamente, aus Akanthus (Tafel II, Fig. 22–24), Schwertlilienblüten (Tafel II, Fig. 24), Lotos und Palmetten bestehend, sind mit allerlei Riem- und Flechtwerk durchwoben und mit Tiergestalten der altchristlichen Kunst und phantastischen Tiergebilden geziert.

In dem arabisch-maurischen Phantasieornament, das sich durch ungezügelte Unruhe, unerschöpflichen Formen- und Farbenreichtum auszeichnet und namentlich in dem vagen und doch fein berechneten Linien-, Ranken-, Blattwerk- und Schriftzeichenspiel, der ureignen Schöpfung der Arabeske (Tafel II, Fig. 7, 8, 10, 12, 13), charakterisiert, konnte die Pflanzenform nur streng stilisiert Berücksichtigung finden. Wie die Grundzüge der griechisch-byzantinischen Kunst in den ältesten Bauwerken der Mauren unverkennbar sind, so nimmt auch das O. seinen Ausgang von griechisch-byzantinischen Motiven. Der Lotos und die Palmette, beide anfangs in ziemlich getreuer Wiedergabe, verlieren später durch Auslassung einiger Blätter in den gestrahlten Blüten die strenge Geschlossenheit und können sich nun, von einem Punkte ausgehend, in dem neugewonnenen Raume leicht und schwungvoll entfalten. Das ganze federartige Gebilde nähert sich in seinem neuen Habitus mehr dem Charakter der Schwertlilie und wird durch geniale, fein durchdachte Fortführung seiner Elemente in kühnen Schnörkeln, Bogen und Linien zum Mittelpunkte der Rankenzüge, die immer und immer wieder zum ursprünglichen Motiv zusammentreten, um sich entweder über die ganze Fläche des Ornaments zu verbreiten oder in sich abgeschlossen das Netzwerk der einzelnen geometrischen Figuren zu füllen und zu beleben. Zu den Pflanzenvorbildern, welche ungeachtet der strengen Behandlung im arabisch-maurischen O. erkennbar sind, gehört in erster Linie das Akanthusblatt (Tafel II, Fig. 6), das sich den Rankenzügen und Flechtmustern federähnlich, oft durchbrochen, scharf spitzblätterig einschmiegt und dem gefiederten Blatte der Roßkastanie, dem der Weinrebe und der Vogelfeder den Vorrang streitig macht. Das Weinblatt ist teils naturalistisch gehalten, zeigt 3–5 Blattlappen, oder es ist rosettenartig stilisiert, fünflappig und hat in seiner Mitte eine Traube (Fig. 5 beifolgender Tafel), ist demnach eine ziemlich getreue Nachahmung desselben Ornamentengebildes der griechischen Kunst. Die Traube erfährt eine eigentümliche Modifikation, die sie, nebenbei gesagt, mit der Darstellung auf altägyptischen Denkmälern gemein hat, sie erscheint nämlich in einer ovalen oder mandelförmigen Hülse steckend. An weitern Pflanzen und Pflanzenteilen enthalten die Ornamente Blätter der Farngewächse, Knospen der Orangen, Granatäpfel in mannigfaltigster, stilisierter Form, Pinienzapfen (Tafel II, Fig. 11), Palmenwedel und Blüten vom Schneckenklee (Medicago arborea). Die Nachbildung von Tiergestalten war den Künstlern nach dem Gesetz des Koran streng verboten. Daher ist die Fauna vom arabisch-maurischen O. vollständig ausgeschlossen, und die Löwen im Hofe der Alhambra sowie einige vereinzelte, immer streng stilisierte Darstellungen aus dem Bereiche der Tierwelt sind als seltene Ausnahmen für das Umgehen des Verbotes zu bezeichnen.

In der gotischen Kunst, in welcher alle Elemente der Architektur die reichste Ornamentierung zeigen, bricht der Ornamentist mit den alten Traditionen und wählt seine Motive aus der einheimischen Flora. Akanthus und Lotos sind gänzlich verschwunden; sie haben einer Fülle neuauftretender Pflanzenmotive den Platz geräumt, die sich in wunderbarer Schönheit und sprechender Natürlichkeit zu entfalten beginnt. Dennoch ist von einer mechanischen Kopierung [689] der Natur nicht die Rede. Es ist nur freie Wiedergabe des Natürlichen und diese oft mehr vorwiegende Thätigkeit des Verstandes als der Phantasie. Mit scharfem, berechnendem Blick sucht das Auge des Künstlers aus der Mannigfaltigkeit die Einheit zu finden, gleichsam das dem Gebilde zu Grunde liegende Gesetz zu erforschen, um dann das Motiv nach seiner Schönheit ästhetisch und nach seiner Form geometrisch-praktisch zu verwenden. Doch greift der Künstler nicht willkürlich in die ihn umgebende Pflanzenwelt hinein. Es leiten ihn bei der Auswahl der Motive nicht nur ästhetisch-praktische Grundsätze, sondern auch religiös-ideale, welche die symbolische Bedeutung dieser oder jener Pflanzenart durch den Volksmund diktieren. Daher finden wir an den drei Schenkelenden des an den Giebeln der Dome und Kirchen stehenden Kreuzes Kleeblätter (Zeichen der heiligen Dreieinigkeit), Äpfel (Bild der Vollkommenheit, Herrschaft Christi), Lilienblüten (Bild der Reinheit) und Haselnüsse (Bild der Unsterblichkeit) als Ornamentzierden. Die stilisierte Lilie des gotischen Ornaments bewahrt während der ganzen Stilperiode ihre typische Form. Sie setzt sich aus drei Blättern zusammen, von denen die beiden äußern sich schwungvoll zur Seite neigen und das mittlere größere oben und unten pfeilförmig zugespitzt ist. Das ornamentale Gebilde (in seinem untern Teil eine Wiederholung des obern) wird in der Mitte durch ein Band zusammengehalten. Der Lilienornamentenstab tritt schon im 10. Jahrh. durch Ludwig den Heiligen in Siegel und Wappen der französischen Könige über. Die auf den Kanten der freistehenden Giebel, den Kanten der pyramidalen Fialen und Helme auftretenden Bossen oder Krabben zeigen sich in Form hängender Blattknospen oder zusammengerollter Wein- (Fig. 6 der beifolgenden Tafel), Eichen-, Ahorn- oder Distelblätter (Fig. 7 der beifolgenden Tafel); oft erscheinen dieselben blasig aufgetrieben und führen alsdann den Namen Knollenblätter. Hauptsächlich aber sind die Krabben und auch die kreuzförmigen Zierblumen auf den Spitzen der Fialen und der Helme der Blüte des Frauenschuhes (Cypripedium Calceolus), einer Orchidee, entlehnt. Die Kreuzblume erscheint schon in den romanischen Bauten. In der Frühgotik zeigt sie sich als halbaufgeblühte Knospe auf Giebelspitzen und Wimpergen. In der deutschen Gotik tritt sie bald als Helmkreuzblume auf und bleibt es während der ganzen Blütezeit der gotischen Kunst. Anfangs erscheint sie als achtseitiger Stengel, der sich an der Spitze zu einem Kranze nach außen gebogener Blätter entfaltet. Diese umschließen ein knospenförmiges Gebilde. Bald aber findet sich über dem ersten noch ein zweiter, ja ein dritter Kranz von Blüten des Frauenschuhes oder von kunstvoll zusammengelegten, geschmackvoll gruppierten Blattgebilden und Knollenblättern, zu denen vorzugsweise Epheu, Osterluzei, Eiche, Distel, Klee (Fig. 6, 8 und 9 der beifolgenden Tafel), Winter- und Brunnenkresse, Weinrebe (Fig. 6 der beifolgenden Tafel) und Feige die Muster geliefert haben, und die ursprünglich an der Spitze vorhandene Knospe endet mit einem oft zapfenähnlichen, knopfförmigen Gebilde (Fig. 6 und 8 der beifolgenden Tafel). Das füllende Maßwerk der Giebel, Fenster und Galerien zeigt neben lilienförmigen Durchbrechungen, Vier- und Fünfblatt und sogen. Fischblasen Motive vom Kleeblatt (Fig. 9 der beifolgenden Tafel) und von der gestrahlten Blüte der Sternblume. Die Tudorrose im englisch-gotischen Stil ist der aufgeblühten Rose nachgebildet, und die Tudorblume der Dachkämme und Firsten zeigt vier in Kreisform zusammengelegte Epheu-, Eichen- oder Akanthusblätter mit blasigen Aufbauchungen. Der graziösen Palmette im englischen Elisabethstil ist die Blüte des Geißblattes (Lonicera Caprifolium) zu Grunde gelegt. An dem Eingang der gotischen Dome findet man nicht selten ein ornamentales Palmenkreuz, und das Portal ist häufig mit einem in Stein gehauenen Astwerk umrahmt, dem einige dürftige Blättchen entsprießen. Das sogen. Tympanon (schließende Steinplatte der offenen Bogeneingänge) ist besonders in schönster und reichster Weise durch Blatt- und Blütenornamente geziert. Wie im Äußern, so entfaltet auch der gotische Bau im Innern seine hohe ornamentale Pracht, besonders an den Kapitälen der Dienste und Pfeiler. In der frühgotischen Periode wählte man hauptsächlich Blätter, Knospen, Blüten und Früchte von kleinern Pflanzen, wie Epheu (Fig. 10 der beifolgenden Tafel), Wegerich, Johannisbeere, Stachelbeere, Petersilie, Schöllkraut (Chelidonium majus, Fig. 11 der beifolgenden Tafel), hin und wieder auch Schilfblätter; gegen Ende des 13. Jahrh. aber, wo der Ornamentenschmuck namentlich an den Kapitälen vorzuherrschen beginnt, wählt man auch die Vorbilder aus den Blattformen der heimischen Sträucher und Bäume, und die Nachahmung nähert sich mehr und mehr der Wirklichkeit. Von den hauptsächlichsten Blattmotiven sind zu nennen: das Weinblatt (Fig. 12 der beifolgenden Tafel), dem sich auch in den Rankenzügen Ranke und Traube zugesellt. Die Blätter, anfangs flach gebildet, erhalten später buckel- und knollenförmige Erhöhungen und wirken durch den dadurch erzeugten Wechsel von Licht und Schatten ungemein plastisch. Das Blatt der Feige ward gewöhnlich nur in seinen Umrissen dargestellt und hat eine weniger reiche Modellierung aufzuweisen als das Ahornblatt (Fig. 13 der beifolgenden Tafel und Taf. II, Fig. 32). Das Blatt der Zaunrübe (Bryonia dioica) und das des St. Barbarakrautes (Barbaraea vulgaris) findet sich häufig als Ornamentenmotiv an den Säulenkapitälen aus der Spätgotik. In der Frühgotik begegnen uns ferner recht häufig die Blätter der Akeley (Aquilegia vulgaris), die des Goldmilzkrautes (Chrysosplenium alternifolium), des Sauerklees (Oxalis acetosella), die der Roßkastanie, des Hopfens, die zu Blattkränzen vereinigten Spitzblätter des Wegerich, die streng stilisierten Blätter des Sauerampfers (Rumex pratensis), die der Braunwurz (Scrophularia nodosa). Von den Pflanzen, welche während dieser ganzen Kunstperiode teils mit Blatt und Blüte, teils mit Blatt und Frucht das O. beherrschen, verdienen genannt zu werden: die Osterluzei (Aristolochia Clematitis), als Rankenmotiv mit Blättern und Blüten, die Linde (Blatt), die Stechpalme (Ilex aquifolium) mit Blatt und Frucht, die gemeine Malve (Malva vulgaris), das Pfeilkraut (Sagittaria sagittifolia) mit seinen Blättern von sprechender Naturtreue, der Lauch (Allium ursinum) mit Blatt und Blüte, die Winde, in Rankenzügen, die Wedel vom Engelsüß (Polypodium vulgare), von der Mondraute (Botrychium Lunaria), der Mauerraute (Adiantum album), des Frauenmantels (Alchemilla vulgaris) mit sehr gering stilisierten Blättern, die Blätter und Blüten der Erdbeere, die Blätter der Distel (Carduus acanthoides), Blüten und Früchte des Mohns, die Blüten des Löwenmauls (Antirrhinum majus, Fig. 14 der beifolgenden Tafel), Blätter der Haselstaude, die Zapfen der Fichte als Abhänglinge an den Schlußsteinen der sich kreuzenden Bogengurte; vom Aronsstab (Arum maculatum) [690] finden sich Blatt, Blütentute und Fruchtkolben in großer Natürlichkeit dargestellt, und die Blüten der Schwertlilie (Iris germanica) und der weißen Lilie (Lilium candidum) zieren als heilige Blumen die Ornamente des gotischen Baues. Die Eiche, welche mit Blättern und Früchten ungemein naturalistisch schon im römischen O. auftritt, bleibt in der Gotik eins der beliebtesten Ornamentenmotive. Das gegliederte, leicht gewellte Blatt gestattete dem Künstler die mannigfachste Behandlung als schmückendes und füllendes Element in Ornamententeilen als Rosette, als Eckblatt an Säulen und als Knollenblatt in Gestalt von Krabben auf den Kanten der Giebel und an den Kanten der Kirchen- und Domtürme. In letzterer Eigenschaft sind sie oft recht geschmacklos stilisiert; langgestreckt, die scharfgeschnittenen Blattlappen nach unten gebogen, machen sie auf den Beschauer den Eindruck von häßlichen kriechenden Raupen. Ungemein nüchtern, bandförmig in die Länge gezerrt, begegnen sie uns auch in den Rankenzügen der spätgotischen Ornamentik; sie gleichen in ihrer Form den ebenso unglücklich stilisierten Distelblättern. Die soeben genannte Ornamentenflora wiederholt sich auch an allem Schnitzwerk in den Kirchen, Domen und Klöstern an Altären, Kirchenstühlen, Taufsteinen, Heiligen-, Altar- und Sakramentenschreinen und in den Patrizierhäusern an dem Hausgerät, den Tischen, Stühlen, Truhen, Rahmen, Ofenkacheln und bekundet oft eine tiefinnige Auffassung, einen feinen Geschmack und hohes technisches Geschick. Zwischen der anmutigen, künstlerisch vollendeten Ornamentenflora, an den Schlußsteinen der Bogengurte, an Giebelfeldern, Säulenkapitälen und an den Wasserspeiern spukt eine merkwürdig phantastische Tierwelt herum; Wölfe, Füchse, Hunde, Löwen, Drachen, Geier mit langgestreckten dürren Leibern und greulichen Köpfen scheinen in grimmer Wut aus den Wänden oder von den Dächern zu springen und beleidigen in dieser unnatürlichen, häßlichen Darstellung unser ästhetisches Gefühl ebenso sehr, wie die mancherlei fratzenhaften Gesichter von Mönchen, Nonnen, die der Künstler in übermütiger oder satirischer Aufwallung als Geißel und Spott für seine Zeitgenossen aus dem Stein herausmeißelte.

In den Miniaturen aus der Zeit des Mittelalters erblüht eine wunderbare Pflanzenwelt, so greifbar plastisch, so frisch, wie die Natur sie nur bildet; sie verrät auch in dem Unscheinbarsten den emsigen Fleiß, eine gewisse liebevolle Hingabe der Künstler (teils Mönche, teils Laien) an ihr Werk, welche die heiligen Bücher und die der Profanlitteratur mit gemalten Anfangsbuchstaben, Initialen und die Ränder von ausgemalten Bildseiten derselben mit zierlichen Arabesken, Ranken und Schnörkeln schmückten. Den irischen Miniaturen verdankt das Initialenornament den originellen Charakter, den es während des 8. und 9. Jahrhunderts ausschließlich behauptet. Dieses künstliche Gewirr von Linien, Schnörkeln, Riemen und Bändern, das entweder die Initiale durchflicht oder dieselbe in ihren Grundzügen vollständig entstehen läßt, ist durchaus geschmacklos und unschön (Taf. II, Fig. 36 und 37). Häufig werden phantastische Tiergestalten, langgeschwänzte greuliche Drachen, Fische, Schlangen etc. gezwungen, sich durch abschreckende widernatürliche Dehnung, Reckung und Verzerrung ihres Körpers oder einzelner Glieder der Form der Initiale anzupassen oder einzuschmiegen. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte verfeinert sich das roh behandelte O. mehr und mehr. Band- und Riemenwerk wird durch leichtes, schwunghaftes und durchsichtiges Laub- und Rankenwerk verdrängt, das entweder in langen, kühnen Linien und Schnörkeln von den Enden der Initialen ausstrahlt oder sich in denselben oder um dieselben herum konzentriert. Im letztern Falle endet die auslaufende Ranke mit dem federartig stilisierten Gebilde der Schwertlilie oder mit einem Kleeblatt. Hin und wieder sind auch große melonenartige Früchte, Granatäpfel etc. benutzt, um die Räume zwischen den Elementen der Initialen zu füllen oder um einen Abschluß des Rankenwerkes herbeizuführen. Vom 13. Jahrh. an wird das Initialen- und Miniaturenornament naturalistischer und formenreicher (Taf. II, Fig. 43–46, Taf. III, Fig. 4, 7, 8, 10, 15, 17–19, 22, 29, 33); Akanthus (Taf. III, Fig. 4, 10, 17 u. 18), Eichen-, Wein- und Epheuranken bilden seine besondere Zierde. Als Schlußblumen der Ranken erscheinen gewöhnlich Vergißmeinnicht, Rosenknospen, die Blüten des bittersüßen Nachtschattens (Solanum Dulcamara) und des im Mittelalter sehr beliebten Borretsch (Borago officinalis, Taf. III, Fig. 33). Ferner sieht man als Schlußgebilde die Früchte der Einbeere (Paris quadrifolia), des Mohns, die Früchte der Igelskolbe (Sparganium ramosum), der Roßkastanie, und von den einheimischen Pflanzen, welche man zur Ausschmückung oder Füllung der Initialen oder der Blattranken den Miniaturen einlegte, mögen genannt werden: Rose, Erdbeere, Distel (streng stilisiert), Schwarzkümmel (Nigella arvensis), Lilie, Narzisse, dreifarbiges Veilchen und der schon genannte blaue Boretsch. Wo das Miniaturen- und Initialenornament mit seinen vielfarbigen Reflexen und geistreichen Kombinationen rein auftritt, atmet es künstlerisches Selbstgenügen, Harmonie und Ruhe, sobald es sich aber mit Tiergebilden höherer Ordnungen und Menschengebilden vereinigt, offenbart es im scharfen Kontrast die mannigfachsten Gegensätze, an denen das Mittelalter so reich ist. Drachen, rätselhafte Ungetüme, Seejungfern, Kentauren, Bären, Elefanten, Hunde etc. ragen in die Blumenwelt hinein; aus einer herrlich gemalten Passionsblume springt ein Affe uns entgegen, aus dem Kelche der Lilie taucht das weinselige Gesicht eines Bruder Kellermeisters auf, und der Teufel benagt in Gestalt eines Schweines die Ranken des Initialenornaments. Komisch wirkt es, wenn sich inmitten des zartesten Blumenflors zwei greulich gestaltete Ziegenböcke gegenseitig belecken, Mönche und Nonnen sich in den Ranken schaukeln und Narren dazu tanzend die Schellenkappe schütteln. Die Miniaturen- und Initialenflora wiederholt sich auch überall in den Erzeugnissen mittelalterlichen Kunstfleißes, namentlich in den Ornamenten der Weberei, Stickerei, Glasmalerei, Töpferei und dem Schmiedehandwerk. In dem O. der buntfarbigen Teppiche, Decken, Bordüren, Tragriemen, Gürtel, Wehrgehänge etc. spielen Granatäpfel, Rosen, Lilien, Sternblumen, Weinreben, Lorbeer- und Eichenblätter eine wichtige Rolle, und in den Messingbeschlägen der Bücher und den Werken der Schmiedekunst, an Ziergittern, Thoren und Thüren enden die Zierstäbe mit Disteln, Lilien, Sternblumen, Kreuzblumen etc. oder bilden Ranken und Arabesken, in denen man sofort den Akanthus und die Blätter der Stechpalme (Ilex aquifolia) als Motiv erkennt.

Die Zeit der Renaissance, deren belebender Hauch in der Mitte des 15. Jahrh. von dem klassischen Boden Italiens ausging und ihren Einfluß auf alle Nationen gleichmäßig ausdehnte, indem sie den wuchernden Überfluß in der Architektur und [691] Ornamentik beschnitt und dafür die Typen der reinen Antike einsetzte, verlieh der Kunst einen neuen, eignen Charakter voll wunderbarer Grazie, Zierlichkeit, Anmut, Leichtigkeit und lachenden Lebens. Ihr Schwerpunkt liegt besonders in der Ausschmückung der Wandfelder, Medaillons und Friese. In den anmutig komponierten Arabesken der Felder bilden sich im weitern Verlauf der Linien: Masken, Engel, menschliche Figuren, Amoretten, Delphine, Schwäne, Kraniche, Reiher, Pfauen in allen möglichen Stellungen und Lagen (Taf. IV, Fig. 22). Nicht selten werden diese selber zum Ausgangs-, Mittel- oder Schlußmotiv der Kunstschöpfung (Taf. III, Fig. 3, 6). Die dünnen Ständer der Fruchttischchen, die reizenden Kandelaber mit ihren Fruchtschalen und Medaillons enden mit Vogelköpfen, Tigertatzen oder scheinen aus einem Blätterstrauß hervorzuwachsen (Taf. III, Fig. 6, 8, 25, 26). Die wiegenden Ziergehänge (Taf. IV, Fig. 28), die Füllhörner (Taf. III, Fig. 14), Opferbecken, Opferaltäre, Malereien und Skulpturen haben die Repräsentanten der Ornamentenflora des Mittelalters durch eine Menge von Früchten und Blüten, Äpfeln, Birnen, Feigen, Kirschen (Taf. III, Fig. 2), Melonen, Eicheln, Zitronen, Apfelsinen, Glockenblumen, Fliederblüten, Artischocken, Johannisbeeren, Kornraden, Ähren, Kornblumen (Taf. IV, Fig. 12) u. dgl. vermehrt, und auch Akanthus und Lotos kommen wieder in phantasiereicher Weise im edel und antik gehaltenen Stile in schmiegsam und vortrefflich gezeichneten Rankenzügen, die gewöhnlich mit einer Rosette abschließen, oder als Strauß oder Blüte in dominierender Weise zur Geltung (Taf. III, Fig. 11, 23, 26). Doch schon im 17. Jahrh. verlieren sich die reinen antik-modernen Formen unter dem üppig aufschießenden und schnell um sich wuchernden Unkraut von Schnörkelschwall und Ornamentenfülle; namentlich werden die ornamentalen Ziergehänge, in die sich alle möglichen und unmöglichen Gegenstände in häßlicher Weise eindrängen, überladen und erscheinen schwer, starr und bewegungslos, und das O. der Rokokozeit offenbart zum großen Teil eine ungeheuerliche Verschrobenheit des Geschmackes (Taf. IV, Fig. 16, 17, 19–21). Zwar ist die Kunst der Neuzeit von den stagnierenden Elementen und das künstlerische Streben von seinem Zopf befreit, aber einen einheitlichen Stil besitzen wir zur Stunde noch nicht, und die Architektur und Ornamentik erscheint als ein Gemisch der verschiedensten Elemente vorübergegangener Stilperioden; doch darf man im allgemeinen behaupten, daß unsre Kunst vorherrschend im edlen Stile der Renaissance arbeitet, und wie das gesamte Kunst- und Geistesleben der Neuzeit dem gewaltigen Zuge des Realismus folgt, so steht auch die Ornamentik, die des Gediegenen, Anmutigen und Schönen gar viel bietet, unter seinem bindenden Einfluß. Die in dem O. der Neuzeit verwerteten Pflanzenformen sind von stark naturalistischer Färbung, daß es bei einigem botanischen Wissen leicht ist, die ihm zu Grunde liegenden Blatt-, Blüten- und Fruchtformen, unter denen Akanthus, Zaunrübe, Eiche, Weinrebe, Akazie, Distel und Winde vorherrschen, herauszufinden.

Vgl. Statz und Ungewitter, Gotisches Musterbuch (Leipz. 1856–61); Heideloff, Ornamentik des Mittelalters (Nürnb. 1851–52); Woenig, Pflanzenformen im Dienste der bildenden Künste (Leipz. 1881); Opderbecke, Bauformen des Mittelalters (2. Aufl., Weimar 1885); Hölder, Pflanzenstudien und ihre Anwendung im O., Handarbeit (Stuttg. 1834, 60 Tafeln); Picard, L’ornement végétal (deutsch, Berl. 1887); Schubert v. Soldern, Das Stilisieren der Pflanzen (Zür. 1888); Gerlach, Die Pflanze in Kunst und Gewerbe (Wien 1886–89, 200 Tafeln); Hofmann, Blätter u. Blumen für Flächendekoration (Leipz. 1886, 30 Tafeln).


  1. Wenn im Artikel nicht ausdrücklich auf „beifolgende Tafel“ hingewiesen ist, beziehen sich die angegebenen Verweisungen auf die Tafeln „Ornamente I–IV“ im 12. Bande des Konv.-Lex.