Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Menschenrechte“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 11 (1888), Seite 479480
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Menschenrechte. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 11, Seite 479–480. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Menschenrechte (Version vom 20.03.2024)

[479] Menschenrechte (franz. Droits de l’homme), die Gesamtheit derjenigen idealen Ansprüche, welche der Mensch als solcher an den Staat erhebt, also der Ansprüche des Menschen auf Rechte, „welche mit ihm geboren sind“, und deren Gewährleistung er vom Staat verlangt. Über Inhalt und Umfang dieser M. („der dem Menschen angebornen und unveräußerlichen Rechte“) besteht in der Wissenschaft viel Streit und auch im Volk selbst keineswegs Einstimmigkeit. In Frankreich stellte man während der Revolutionsperiode die „Freiheit“ als obersten Grundsatz auf. Kant erklärte als solchen die Unabhängigkeit von fremder, nötigender Willkür. Fichte endlich erblickte in dem Nebeneinander-Bestehen des Rechts aller Menschen und der dadurch gebotenen Möglichkeit, gegenseitig durch Verträge miteinander in rechtliche Verhältnisse treten zu können, das Grundprinzip der M. Andre wollen ein „Recht der Persönlichkeit“ zu Grunde legen, wieder andre ein „Recht der Selbsterhaltung“, andre endlich ein „Recht der Vervollkommnung“. Noch größer ist die Mannigfaltigkeit der Anschauungen, wenn es sich darum handelt, aus dem Prinzip die einzelnen M. zu entwickeln. Dies zeigt sich namentlich in der Art und Weise, wie die Gesetzgebung der einzelnen Völker diese Aufgabe zu lösen suchte. Hierin ist England mit seiner Bill of rights von 1689 ein Muster. Der Gedanke, einen vollständigen und in sich abgeschlossenen Kodex der M. zu schaffen, ist zuerst in Nordamerika aufgetaucht, nämlich gleichzeitig mit der Erklärung des nordamerikanischen Kongresses vom 4. Juli 1776, wodurch die Lossagung der Kolonien vom Mutterland verkündet wurde (sogen. Unabhängigkeitserklärung). Zur Aufstellung eines solchen Kodex der M. wurde jedoch erst in der französischen Revolution geschritten. Der erste Antragsteller bei der Nationalversammlung 1789 war Lafayette. Einzelne, wie Mirabeau, sahen sofort die Gefahr einer solchen Gesetzgebung ein, die streng genommen nichts als Versprechungen enthielt, welche die künftige Gesetzgebung erst zu verwirklichen hätte. Sieyès, der Verfasser der Schrift „Reconnaissance et exposition des droits de l’homme et du citoyen“ (Par. 1789), beantragte vermittelnd; allein nach hartem Kampf ging gleichwohl der Lafayettesche Antrag, wenn auch in etwas gemäßigter Fassung, durch. An die Spitze dieser M. (Art. 1) war der Satz gestellt: „Der Mensch wird frei und gleich an Rechten geboren und bleibt es“, und Art. 2 erklärte: „Das Ziel aller politischen Gesellschaften ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen. Diese Rechte sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit und das Recht des Widerstandes gegen willkürliche Bedrückung.“ Diese berühmte „Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers“ („Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“) wurde dann der Konstitution vom 3. Sept. 1791 einverleibt, und der nachmalige [480] Konvent suchte die revolutionäre Leidenschaft durch Wiederholung jener Erklärung (29. Mai 1793) in verstärkter Auflage noch zu steigern, indem darin die Revolution offen in Permanenz erklärt und die willkürlichste Auflehnung gegen Recht und Gesetz (wofern sie nur zu Ehren der M. geschehe) geradezu geheiligt wurde. Nachdem die Schreckensherrschaft Robespierres ihr Ende erreicht hatte, erließ der Konvent unter dem Direktorium mit der Konstitutionsakte vom 5. Fructidor III (22. Aug. 1795) eine „allerneueste“ Erklärung der M. mit Beseitigung jener Ausschreitungen. Zudem waren nun neben Rechten auch Pflichten des Menschen und Bürgers anerkannt, wie z. B. folgende: „Thue nur das, von dem du wünschest, daß dir es auch andre thun“; „Niemand ist ein guter Bürger, der nicht zugleich ein guter Sohn, Vater, Bruder, Freund und Gatte ist“. Unter den Rechten waren außer Gleichheit, Freiheit, Sicherheit der Person und des Eigentums namentlich auch noch die Freiheit des Gewissens, der Meinungsäußerung, besonders in der Presse, und endlich das Recht des Bürgers auf Unterstützung und Arbeit ausdrücklich sanktioniert. Auch in Deutschland wurde 1848 von der Frankfurter Nationalversammlung ein gesetzgeberischer Versuch mit den „Grundrechten des deutschen Volkes“ gemacht, die durch den reaktivierten Bundestag aber wieder außer Kraft gesetzt wurden. S. Grundrechte. Vgl. K. Richter, Staats- und Gesellschaftsrecht der französischen Revolution, Bd. 1 (Berl. 1865); Pelletan, Die M. (deutsch, Bremen 1870); Acollas, Philosophie de la science politique et commentaire de la déclaration des droits de l’homme de 1793 (Par. 1877); Derselbe, La déclaration des droits de l’homme (das. 1885).