Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Magīe“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 11 (1888), Seite 7172
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Magīe. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 11, Seite 71–72. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Mag%C4%ABe (Version vom 19.11.2023)

[71] Magīe (Ars magica), die vermeintliche Kunst, durch geheimnisvolle, übernatürliche Mittel wunderbare Wirkungen hervorzubringen, im allgemeinen gleichbedeutend mit Zauberei. Den Namen M. erhielt bei den Griechen und Römern namentlich jene Form der Zauberei, welche von den babylonischen Magiern zu den Medern, Persern und Parthern gekommen war und sich von da über den Orient und auch den Occident verbreitet hatte. Die Entzifferung der Keilschriftenbibliothek von Ninive hat gezeigt, daß die chaldäischen Magier nicht mit Unrecht bei den Alten als die Urheber der M. galten, und aus Bruchstücken des ältesten Zauberbuchs der Welt geht hervor, daß fast alle Details unsers Zauberglaubens chaldäischen oder vielmehr akkadischen Ursprungs sind. In ihren Hauptgrundzügen gehört die M. den niedrigsten Stufen der Zivilisation an, und nur bei den rohesten Völkern steht sie noch in Ansehen. In einer Zeit, wo der unwissende Mensch die ganze Natur für durch Geister belebt ansah und seine Götter, die er sich nach menschlicher Art vorstellte, als Naturwesen den Naturgesetzen unterworfen dachte, mußte er auch leicht zu dem Glauben kommen, daß er sich durch allerlei Formeln und Zeremonien, durch eine besondere Lebensweise u. dgl. in den Besitz geheimnisvoll wirkender Kräfte setzen könnte, die stärker als die Götter seien, und daß ihm diese dadurch dienstbar werden müßten. Je tiefer der allgemeine Bildungszustand war, um so leichter konnten einzelne Personen sich den Ruf verschaffen, Macht und Einfluß auf die übernatürlichen Wesen auszuüben und andre Menschen entweder den Dämonen preisgeben, oder sie vor ihren Angriffen schützen zu können. Die gesamten niedersten Kulte bewegen sich in Vorstellungen, die man eher als Zaubereisystemen denn als einer Religion angehörig betrachten möchte. Bedenkt man, daß das gesamte Fetischwesen (s. d.), die Vorstellungen vom Totem und Tabu (s. d.) das ganze Sinnen der Naturvölker ausfüllen, so ist es nicht zu viel gesagt, wenn man die M. als niederste Religionsform selbst bezeichnet. Daher fand sich auch vielfach bei höher stehenden Nationen, deren Bildung aber noch nicht so weit vorgeschritten war, um den Glauben an die Zauberei selbst zu zerstören, die feste Überzeugung, daß die magische Kunst den niedern Stämmen des Landes angehöre, welche in der Kultur zurückgeblieben sind. So war im Mittelalter der Name Finne gleichbedeutend mit Zauberer, während der Finne selbst sich vor den magischen Künsten der Lappen fürchtet, und in den längst vergangenen Zeiten nannten in Indien die herrschenden Arier die rohen Eingebornen des Landes „von magischen Kräften erfüllt“, obwohl von andern Völkern den indischen Brahmanen namentlich das Heilen von Krankheiten vermittelst zauberkräftiger Sprüche, das Beschwören von Schlangen, die Kunst, sich unsichtbar zu machen, etc. zugeschrieben wurden. Bei den Persern waren Totenbeschwörung, Schüssel- und Wasserweissagung heimisch. Schon die Chaldäer haben die Astrologie in den Dienst der M. gezogen, und von ihnen kam letztere zugleich mit dem Sternenkultus zu den syrischen und phönikischen Volksstämmen. Bei den Juden finden wir insbesondere den Glauben an Beschwörung der Toten und der unsaubern Geister, welche die Besessenheit erzeugen. Als der größte und weiseste Zauberer erscheint Salomo, dem nach der Sage namentlich die Macht über viele Geister verliehen war. In Kolchis und Phrygien stand die M. im innigsten Zusammenhang mit dem religiösen Kultus und der Kenntnis stark wirkender Arzneistoffe. In Ägypten trieb man Astrologie und stellte die Nativität, und da das Land besonders reich an sogen. Zauberkräutern war, war auch die Medizin mit der M. eng verbunden. Vieles aus der orientalischen M. mag zu den Hellenen übergegangen sein. Gleichwohl sind schon bei Homer und in der Zeit bis zu den Perserkriegen zahlreiche Erscheinungen zu finden, welche dem Gebiet der M. angehören, ohne aus der Fremde herzurühren, so: das Besprechen des Bluts, der Wundertrank der Helena, der Zaubergürtel der Aphrodite, der Zauberstab des Hermes, die Verwandlung des Odysseus und seiner Gefährten in Schweine, Löwen etc. durch den Stab und Zaubertrank der Kirke, der Gegenzauber durch das Kraut Moly etc. Auch bei den Griechen hängt die M. aufs innigste mit der Religion zusammen, wie dies besonders bei dem alten pelasgischen Kultus und den Orakeln mit ihren Höhlen, Erddämpfen, Quellen, geheimnisvoll rauschenden Bäumen etc. hervortritt. Die Natur wurde mit einer Unzahl dämonischer Wesen angefüllt und auch die Unterwelt mit denselben bevölkert. Selbst die Philosophie war nicht frei von zauberhaften Anschauungen und Elementen. Neben Orpheus tritt Pythagoras als Zauberer auf, und die Bedeutung der Zahl als kosmischen Prinzips, die Vorstellung von der zehnsaitigen Weltlyra, die auf der Zahl beruhende dynamische Harmonie des Allgemeinen und Einzelnen sind Grundlagen der philosophischen M. Bei Platon erscheinen die Dämonen als höhere, mächtigere Mittelwesen, von denen Zauberwirkungen abgeleitet werden. Aus diesen Elementen bildete sich die theurgische M. der Neuplatoniker, nach deren Ansicht die Seele ein Ausfluß des Absoluten und daher mit unendlicher Wirkungskraft ausgerüstet [72] ist. Ihr sinnliches Leben ist ein Zustand der Verzauberung, die Körperwelt ein Komplex sympathischer und antipathischer Beziehungen und Verhältnisse, welche die Götter selbst den Menschen bekannt machen, die nun durch deren Kenntnis Kraft und Macht auch über jene erhalten. Durch strenge Asketik und genaue Befolgung der religiösen Zeremonien tritt die Seele mit den guten Göttern in Verbindung, ja sie wird eins mit dem Absoluten. Die Neuplatoniker unterschieden nun M. und Goëtie („Zauberei“) und betrachteten ihre magische Thätigkeit nicht als Zauber, obwohl sie ein gutes Teil der gewöhnlichen Zaubermittel anwendeten. In Rom, wo namentlich das Divinationswesen mit dem Staatsorganismus eng verbunden war, fand die ausländische M. früh schon Eingang und Verbreitung, obwohl von Zeit zu Zeit Edikte dagegen erlassen wurden. Nur die Astrologie blieb in Rom ein fremdes Element. Im Mittelalter unterschied man höhere und niedere, weiße und schwarze M., je nachdem man den beabsichtigten Zauber durch himmlische oder irdische Kräfte zu erreichen, gute oder böse Geister dazu verwenden zu müssen glaubte. Von großem Einfluß darauf war der Glaube an den Teufel und die ihm untergebenen Geister, und die wichtigste und traurigste Folge dieses Wahns war der Glaube an die Teufelsbündnisse (s. Hexe). Vieles, was man früher in das Gebiet der geheimen Wissenschaft und der M. zog, hat jetzt durch die genauere Erkenntnis der Natur und ihrer Gesetze alles Wunderbare verloren; doch hält der Volksglaube noch an vielen magischen Wirkungen (z. B. sympathetische Mittel, böser Blick etc.) fest, während andernteils namentlich der Glaube an eine übertragbare Nervenkraft selbst in gebildeten Kreisen in der neuern und neuesten Zeit zu vielen Vorstellungen Anlaß gegeben hat, die in das Gebiet der M. zu verweisen sind (vgl. Magnetische Kuren). Ferner hat auch der Glaube an das willkürliche Hervorrufen von Geistererscheinungen und Offenbarungen aus dem Jenseits mittels begabter Personen (Medien), Spiritualismus oder Spiritismus (s. d.), wieder Bedeutung erlangt. Unter natürlicher M. versteht man heutzutage die Kunst u. Geschicklichkeit, durch physikalische, mechanische und chemische Mittel Wirkungen hervorzubringen, welche den Ununterrichteten in Erstaunen setzen. Vgl. Ennemoser, Geschichte der M. (2. Aufl., Leipz. 1844); Salverte, Des sciences occultes (3. Aufl., Par. 1856); Maury, La magie et l’astrologie (4. Aufl., das. 1877); Christian, Histoire de la magie (das. 1870); Lenormant, La magie chez les Chaldéens (das. 1874; deutsch, Jena 1878); A. de Rochas, L’art des thaumaturges dans l’antiquité (Par. 1882); Fabart, Histoire philosophique et politique de l’occulte, magie, etc. (das. 1885). Über die M. als natürliche Entwickelungsstufe des menschlichen Denkens handeln besonders O. Caspari, Urgeschichte der Menschheit (2. Aufl., Leipz. 1877), und Tylor, Anfänge der Kultur (a. d. Engl., das. 1873). Die Mittel der sogen. natürlichen M. erläutern zahlreiche, teilweise bändereiche deutsche Werke von Wiegleb, Martius, Halle, Poppe u. a. Speziellere Nachweisungen gibt Grässes „Bibliotheca magica“ (Leipz. 1843).