Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Magnētische Kuren“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 11 (1888), Seite 8283
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Magnētische Kuren. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 11, Seite 82–83. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Magn%C4%93tische_Kuren (Version vom 22.11.2023)

[82] Magnētische Kuren, auf Anwendung des sogen. tierischen Magnetismus beruhende Heilversuche. Der tierische Magnetismus (Lebens-, Zoo- oder Biomagnetismus, Mesmerismus) galt im Sinn der ältern Naturwissenschaft als eine hypothetische Kraft, die man unpassenderweise mit dem Magnetismus verglichen hat, weil sie, wie dieser, durch Bestreichen geweckt oder von dem „Magnetiseur“ auf den Kranken übertragen werden sollte, um in wohlthätiger Weise auf das Nervensystem desselben einzuwirken. Der Entdecker des sogen. tierischen Magnetismus, Mesmer (s. d.), studierte um 1772 die Wirkung des Magnets auf den menschlichen Körper und bemerkte hierbei, daß auch ohne Anwendung des Magnets, durch bloßes Streichen mit den Händen, eigentümliche Wirkungen hervorgebracht wurden, die eine rätselhafte, auf den menschlichen Organismus wirkende Kraft zu bekunden schienen. Er machte davon Anwendung zur Heilung von Krankheiten und erregte durch seine glücklichen sogen. magnetischen Kuren großes Aufsehen. Wienholdt, Olbers, Bökmann und Gmelin suchten die Lehre von dieser vermeintlichen Kraft wissenschaftlich zu begründen. Wolfart, ein Schüler Mesmers, gründete eine magnetische Heilanstalt in Berlin; Kieser, Hufeland, Passavant, Baader, Ennemoser u. a. schrieben zustimmend und anerkennend über tierischen Magnetismus. Es bildete sich eine Theorie heraus, nach welcher den Fingern, den Augen, dem Hauch des sogen. Magnetiseurs ein eigentümliches ätherisches Fluidum entströmen sollte, eben dieser tierische Magnetismus, welcher durch den bloßen energischen Willen sogar in weite Ferne entsendet werden könnte, um in der „magnetisierten“ Person höchst merkwürdige Nervenzustände zu erzeugen. Kieser bezeichnete diese Kraft als Tellurismus oder, soweit sie von Metallen ausströmt, als Siderismus; Gmelin, Passavant u. v. a. wollten den Nervenäther darin erkennen; am meisten Beifall aber fand der Freiherr von Reichenbach, indem er in der Ausströmung der Hände eine besondere, bis dahin unbekannte, wohlcharakterisierbare Naturkraft, das Od (s. d.), nachzuweisen bemüht war. Zunächst äußert sich die Wirkung der in verschiedener Weise und besonders über die leidenden Körperteile geführten Striche in der Erzeugung eines mehr oder weniger tiefen Schlafs, der indessen durch Braids Beobachtungen 1843 (s. Hypnotismus) seines geheimnisvollen Charakters entkleidet worden ist. Bei besonders dazu neigenden Personen sollte sodann der Tiefschlaf bald in den Zustand des Schlafwachens oder Somnambulismus (s. d.) übergehen, in welchem Fragen beantwortet werden und angeblich das geistige Vermögen der Betreffenden, von den gewöhnlichen Fesseln befreit, nicht nur den Zustand des eignen Körpers völlig durchschauen, sondern auch die geeigneten Heilmittel für denselben erkennen, ja in den gesteigerten Zuständen dieses Schlafwachens, die man als Hochschlaf oder Hellsehen bezeichnet, die Vergangenheit, Zukunft und räumliche Ferne durchdringen sollte. Man erzählt zahlreiche, wahrscheinlich niemals genau untersuchte Fälle, in denen so behandelte Personen mit den Fingerspitzen verschlossene Briefe gelesen und alle Dinge erkannt haben sollen, die man ihnen wohlverschlossen auf die Magengrube gelegt, woraus dann weiter geschlossen worden ist, daß das sogen. sympathische Nervengeflecht mit seinen Ganglien das eigentliche Organ für diese geheimnisvollen Seelenkräfte sei. Nach Beendigung des somnambulen Zustandes fehlt übrigens meist alle Erinnerung an das in demselben Erträumte und Geschehene, wie auch der Körper während desselben sich unempfindlich gegen schmerzende Eingriffe bewährt, oft sogar in Starrkrampf übergeht, den der Wille und Befehl des Magnetiseurs allein aufheben soll, Erscheinungen, die man oft auf die Schaubühne gebracht hat. Infolge der magnetischen Manipulation und des dadurch bewirkten Somnambulismus entsteht angeblich zwischen Magnetiseur und Somnambule ein sogen. magnetischer Rapport, worunter man sich eine Art von Lebens- und Empfindungsgemeinschaft vorzustellen hat, vermöge deren der Wille des Magnetiseurs auf die organischen und geistigen Funktionen der Somnambule einen bezwingenden [83] Einfluß erhalten soll, während der letztern gleichzeitig die Seelenzustände des Magnetiseurs direkt zum Bewußtsein kommen sollen. Angeblich sollten selbst leblose Gegenstände zu Trägern des tierischen Magnetismus gemacht werden können, und in dieser Auffassung bediente sich Mesmer eines sogen. magnetischen Baquets, eines mit Wasser und Eisenfeile gefüllten hölzernen oder gläsernen Bottichs, den er mit seinem magnetischen Fluidum lud, und aus welchem eine ganze Anzahl von Kranken gleichzeitig durch eiserne Handhaben dasselbe bezog. Die Zeit, in welcher der Mesmerismus in Blüte stand, und in welcher man alle Heilwunder der Religionsstifter und Thaumaturgen auf denselben zurückführen zu können glaubte, liegt weit hinter uns. Anderseits hat das Studium des Hypnotismus erkennen lassen, daß jene Erscheinungen doch nicht so ganz dem Gebiet der Selbsttäuschung und des Betrugs angehören, wie man vor einigen Jahrzehnten anzunehmen geneigt war, und man begreift es jetzt, daß so viele ausgezeichnete Ärzte und Naturforscher früher an eine geheimnisvoll überströmende Kraft des Magnetiseurs geglaubt haben. Da nun die Experimente am leichtesten mit hysterischen, schon infolge ihrer Krankheit zu phantastischen Täuschungen und Betrügereien hinneigenden Personen gelangen, so erklärt sich, daß in einer Zeit, die schon an sich zu einer mystischen Auffassung der Dinge bereit war, aus auffallenden, aber der neuern Physiologie und Psychologie bis zu einem gewissen Grad vollkommen verständlichen Erscheinungen falsche Schlüsse gezogen wurden, worauf sich ein vollständiges, aus Wahrheit und Dichtung gemischtes Lehrsystem aufbaute. Selbst gewisse Heilwirkungen bei Nervenübeln, widernatürlichen Muskelkontraktionen u. dgl. können von den betreffenden Manipulationen erwartet werden, aber nicht eine allgemeine Disposition zur Heilung aller möglichen Übel oder gar prophetische Eingebungen des Heilmittels und die sonstigen übernatürlichen Leistungen. Vgl. Obersteiner, Der Hypnotismus in seiner medizinischen und forensischen Bedeutung (Wien 1887); Geßmann, Magnetismus und Hypnotismus (das. 1887); Binet und Féré, Le magnétisme animal (Par. 1886), sowie die unter Hypnotismus angegebene Litteratur. Nur von historischem Interesse, nicht aber von eigentlich wissenschaftlichem Wert sind heute die Schriften von Mesmer, Wolfart, Stieglitz, Nees v. Esenbeck („Entwickelungsgeschichte des magnetischen Schlafs und Traums“, Bonn 1820), Kieser („Tellurismus“, Leipz. 1822), Ennemoser („Der Magnetismus im Verhältnis zur Natur und Religion“, 2. Aufl., Stuttg. 1853), Carus („Über Lebensmagnetismus“, Leipz. 1857), Perty („Die mystischen Erscheinungen der menschlichen Natur“, 2. Aufl., das. 1872).