Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Industrie“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 8 (1887), Seite 935937
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Industrie. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 8, Seite 935–937. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Industrie (Version vom 02.06.2024)

[935] Industrie (lat. Industrĭa, „Fleiß, Betriebsamkeit“). Bezüglich des Wortes I. besteht ein verschiedener Sprachgebrauch. Im weitesten Sinn ist I. gleichbedeutend mit Gewerbe im engern Sinn und diejenige Produktion, deren Gegenstand die Bearbeitung von Rohstoffen ist, um aus ihnen (durch Verbindung, Trennung, Formveränderung) Güter von höherm Wert herzustellen. Die I. in diesem Sinn steht koordiniert neben der Urproduktion (Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischerei, Jagd, Bergbau und andrer Gewinnung roher Naturstoffe), dem Handel, dem Transportwesen, der Versicherung und den persönlichen Dienstleistungen. Im engern Sinn bildet I. den Gegensatz zum Handwerk (s. d.) und umfaßt einerseits die Fabrikindustrie, die gewerbliche Produktion in Fabriken (s. d.), anderseits die Hausindustrie, diejenige gewerbliche Produktion, bei welcher die Arbeiter in ihren eignen Räumen für größere Unternehmer neue Gewerbsprodukte des Massenkonsums herstellen (s. Fabriken). Im engsten Sinn ist I. die gewerbliche Produktion in Fabriken.

Der Erfolg der industriellen Thätigkeit eines Landes wird bedingt teils durch natürliche Verhältnisse (Beschaffenheit des Landes, Fruchtbarkeit, Ausgestaltung der Oberfläche, Verteilung von Wasser und Land, Vorkommen von Wasserkräften, Brennstoffen etc.), teils durch Kultur (Bildung, errungene Arbeits- und Kapitalkraft, Verkehrsentwickelung, Gewerbe- und Handelspolitik des eignen Landes und fremder Staaten). [936] Auf dem verschiedenen Maß, in welchem diesen Bedingungen Genüge geleistet wird, beruht die örtliche industrielle Arbeitsteilung, welche um so mehr Platz greifen kann, je weniger bei guter Entwickelung des Verkehrswesens der freie Wettbewerb beschränkt wird. Von der natürlichen Beschaffenheit des Landes sind zuvörderst die Rohstoffe abhängig, welche der Verarbeitung zu Gebote stehen; dann ist dieselbe aber auch insofern von Wichtigkeit, als das Vorhandensein von Wasserkräften und Brennmaterialien, namentlich Steinkohlen, diesem wirksamsten Hebel der I., sich lediglich nach ihr richtet; endlich kommt dieselbe auch noch in der Hinsicht in Betracht, daß Ackerbau und Viehzucht durch sie bedingt sind, deren Ertrag wieder die Menge der ohne Zufuhr von außen zu ernährenden Arbeiter sowie die Preise der Lebensmittel bestimmt und also auch für die Höhe der Arbeitslöhne maßgebend ist. Die Bevölkerungsverhältnisse eines Landes sind für die I. von Bedeutung, weil nach ihnen sich bestimmt, wieviel Arbeitskräfte der I. überlassen werden können, resp. dürfen, ohne daß der Landwirtschaft dadurch Eintrag geschieht, die Entwickelung der I. aber von der Menge der ihr zu Gebote stehenden Arbeitskräfte vornehmlich abhängt. Die allgemeine und ökonomische Bildungsstufe, auf welcher eine Bevölkerung steht, wird zu einer Lebensbedingung der I., weil von ihr einerseits die Arbeitsfähigkeit der industriellen Arbeiter und damit auch die Güte der industriellen Erzeugnisse abhängt, anderseits der gewohnte Unterhaltsbedarf der Arbeiter, welcher bei der Bildung der Lohnhöhe einer der wichtigsten Faktoren ist. Die Handelsbeziehungen zum Ausland bedingen die I. eines Landes in hohem Grad, einmal, weil durch sie die Möglichkeit gegeben ist, Rohstoffe andrer Länder, welche mit Vorteil verarbeitet werden können, wie z. B. die Baumwolle und Seide in Deutschland, von außen zu beziehen, und dann, insofern sie es ermöglichen, die über den eignen Bedarf hinaus erzeugten Fabrikate mit Gewinn ins Ausland abzusetzen. Hierbei ist aber nicht zu übersehen, daß die Verarbeitung ausländischer Rohstoffe und die industrielle Produktion über den eignen Bedarf hinaus auch manche Gefahren im Gefolge hat, indem sowohl der Einkauf der erstern als der Absatz der überschüssigen Fabrikate durch Krieg und sonstige Krisen bedeutende Störungen erleiden und hierdurch das Wohl des Volkes um so mehr benachteiligt werden kann, als eine schwunghaft betriebene I. auch eine rasche Zunahme der Bevölkerung, selbst in Ländern von geringer Fruchtbarkeit, zur Folge hat. Der Absatz der überschüssigen Fabrikate nach dem Ausland kann außer durch Krieg auch durch Änderungen in der Zollpolitik fremder Staaten sowie durch neuentstandene Konkurrenz andrer Völker geschmälert werden; doch lassen sich dadurch herbeigeführte Störungen in der Regel leichter überwinden, wenn der Handel mit dem Ausland bereits hoch entwickelt ist, und besonders, wenn demselben eine bedeutende Handelsflotte zu Hilfe kommt, die den Verkehr mit den entferntesten Gegenden der Erde möglich macht. Auch hat die Erfahrung mehrfach bewiesen, daß, wo ein reges industrielles Leben herrscht, leicht neue Erwerbszweige aufgefunden werden, welche den Abgang oder die Schmälerung eines ältern ersetzen. Je höher entwickelt und vielseitiger die I. eines Landes ist, desto leichter wird sie Störungen überwinden, die einen einzelnen Zweig treffen; Länder, die ausschließlich auf den Ackerbau angewiesen sind, bleiben zwar selbstverständlich von industriellen Krisen verschont, leiden aber desto schwerer unter den Folgen des Mißwachses.

Eine unentbehrliche Grundlage und ein wesentliches Erfordernis jedes Industriebetriebs ist das Kapital; jede industrielle Unternehmung bedarf eines stehenden Kapitals für Herstellung der Baulichkeiten, Beschaffung der Werkzeuge, Maschinen und eines umlaufenden Kapitals, d. h. eines bis zum Eingehen des Erlöses für die verkauften Fabrikate zu leistenden Vorschusses, und nur, wo die nötigen Geld- oder Kapitalkräfte vorhanden sind und der I. zu Gebote stehen, wo mithin auf der Grundlage natürlicher Produktion, also durch Ackerbau, Viehzucht etc., schon ein gewisses Maß von Wohlstand geschaffen ist, kann industrielles Leben sich gedeihlich und für das Ganze ersprießlich entwickeln. Von der höchsten Wichtigkeit endlich für die Entstehung und Ausdehnung der I. und für ihre Konkurrenzkraft auf dem Weltmarkt sind die Zustände des Transportwesens (namentlich der Eisenbahnen, Kanäle, der Seeschiffahrt) und die Organisation des Kreditwesens. Die I. im engern Sinn kann daher nur bei Völkern, die auf der höchsten Wirtschaftsstufe stehen, zu einer großen Ausdehnung und zu einer ihre Gesamtproduktion und ihren gesamten Verkehr beherrschenden Stellung gelangen. In betreff der nationalen Konkurrenz, der Konkurrenz zwischen gleichartigen Industriezweigen eines und desselben Landes oder Volkes, gilt im wesentlichen das über den Wettbewerb zwischen Völkern und Ländern Gesagte; auch hier geben günstige lokale Verhältnisse in dem oben angedeuteten Umfang, größere Intelligenz, höhere Kultur, größere Arbeitsfähigkeit der Arbeiterbevölkerung, weiter verzweigte Geschäftsverbindungen, größeres Kapital dem einen inländischen Industriellen den Vorrang vor dem andern.

Die Frage, ob der Staat durch Errichtung und Betreibung industrieller Etablissements mit seinen Angehörigen konkurrieren solle, was in anbetracht der großen ihm zu Gebote stehenden Hilfsmittel und der ihm zukommenden Autorität große Erfolge zu sichern scheinen möchte, muß für die Kulturvölker der Gegenwart im allgemeinen verneint werden. Früher, als die Fabrikindustrie erst im Entstehen war und es für die Gründung und den Betrieb von größern privaten Unternehmungen an geeigneten Unternehmerkräften, Kapitalien und ausgebildeten Arbeitern fehlte, konnte es mit Recht als eine Aufgabe der Staatsgewalt hingestellt werden, durch Gründung von Staatsunternehmungen neue Industriezweige im Land einzuführen oder schon bestehende zu sicherer Blüte zu bringen, sie insbesondere dem Ausland gegenüber konkurrenzfähig und zu Exportgewerben zu machen, und zahlreiche Staaten des europäischen Kontinents haben auch in der That in durchaus rationeller Politik seit dem 17. Jahrh., namentlich im 18., Staatsunternehmungen, besonders kunstgewerbliche, gegründet. Solche Unternehmungen waren Muster- und Erziehungsanstalten. Aber heute fehlt es bei den Kulturvölkern weder an Unternehmerkräften, noch an Kapital, noch an Arbeitern, um private Unternehmungen, auch die größten, zu gründen und erfolgreich zu betreiben; die I. bedarf nicht mehr des frühern Erziehungsmittels. Gegen staatliche Unternehmungen dieser Art, die mit privaten konkurrieren, spricht im allgemeinen, daß sie in der Regel teurer produzieren und den Bedürfnissen und Wünschen der Konsumenten weniger entsprechen und daher in freier Konkurrenz bei richtigem Betrieb und bei richtiger Bilanzaufstellung gar nicht mit privaten konkurrieren können. Dagegen ist die Herstellung industrieller Produkte, welche für die Staatswirtschaft gebraucht werden, in Staatswerkstätten und -Fabriken volks- und staatswirtschaftlich [937] gerechtfertigt, wenn der Staat die Produkte auf diese Weise billiger oder besser dem Bedarf entsprechend erhalten oder wenn er nur so auf die sichere Befriedigung seines Bedarfs rechnen kann. Vgl. Haushofer, Der Industriebetrieb (Stuttg. 1874); Bourcart, Die Grundsätze der Industrieverwaltung (Zür. 1874); Grothe, Bilder und Studien zur Geschichte der I. (Berl. 1870); „Buch der Erfindungen“ (8. Aufl., Leipz. 1883 ff., 8 Bde.); v. Scherzer, Weltindustrien (Stuttg. 1880).