MKL1888:Hinrichtungen mittels Elektrizität

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Hinrichtungen mittels Elektrizität“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 19 (Supplement, 1892), Seite 442443
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Hinrichtungen mittels Elektrizität. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 19, Seite 442–443. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Hinrichtungen_mittels_Elektrizit%C3%A4t (Version vom 16.04.2024)

[442] Hinrichtungen mittels Elektrizität. Die tödlichen Wirkungen hochgespannten elektrischen Stromes auf den tierischen Organismus haben namentlich durch die Eigenschaften, daß erstens der Tod sofort und mit absoluter Sicherheit eintritt und daß zweitens der Organismus äußerlich keine Veränderungen erfährt, schon seit längerm nahegelegt, die Hinrichtungen mittels des elektrischen Stromes zu bewirken. Bislang ist dieses Verfahren nur in den Vereinigten Staaten von Nordamerika zur Hinrichtung offiziell eingeführt. Man würde jedoch weit fehlgehen, wollte man annehmen, daß diese Einführung in Nordamerika lediglich aus sachlichen Gründen geschehen sei. Dort stritten um jene Zeit zwei der bedeutendsten Elektrizitätsgesellschaften, die Edison-Company und die Westinghouse-Company, um den Vorrang auf dem Gebiete der elektrischen Industrie. Für die Verteilung elektrischer Energie in großem Maßstabe führte die Edison-Gesellschaft Gleichstrom von verhältnismäßig niederer Spannung mit Verteilung mittels des sogen. Dreileitersystems (s. Elektrische Zentralstationen, Bd. 18) ins Feld, die Westinghouse-Gesellschaft dagegen Wechselstrom hoher Spannung mit Verteilung mittels des Wechselstromtransformatorensystems. Als Hauptabschreckungsmittel gegen das Wechselstromsystem wurde die Gefährlichkeit hochgespannten Wechselstroms für den menschlichen Organismus benutzt. Diese Befehdung ging so weit, daß man schließlich eine Bill durchsetzte, durch welche die Hinrichtung auf elektrischem Wege eingeführt und zu diesem Zwecke ganz gleiche Maschinen angekauft wurden, wie sie Westinghouse zur Beleuchtung benutzte. Damit glaubte man der Westinghouse-Gesellschaft und ihrem System, wenn auch nicht den Todesstoß versetzt, so doch eine nimmer heilende Wunde geschlagen zu haben. Im Interesse der Westinghouse-Gesellschaft lag es natürlich, mit allen Mitteln eine thatsächliche Hinrichtung zu vermeiden, und so wurden denn dem ersten zum Tode durch Elektrizität verdammten Delinquenten Kemmler die berühmtesten Advokaten Nordamerikas zur Verfügung gestellt; sie hatten die Aufgabe, die Hinrichtung auf elektrischem Wege um jeden Preis zu hintertreiben. Es ist nicht bekannt geworden, wie viel Dollar die elektrische Hinrichtung den beiden Gesellschaften gekostet hat; aus allen Vorgängen leuchtete jedoch heraus, daß ganz gewaltige Summen mitgespielt haben. Trotz der vielen Proteste wurde die Hinrichtung Kemmlers, wenn auch zu verschiedenen Malen verschoben, doch schließlich mittels Wechselstroms von 2000 Volt bewerkstelligt. Ein Sturm von Entrüstung, angefacht durch künstliche Gerüchte und falsche Darstellungen, war die unmittelbare Folge; der offizielle Bericht klang jedoch ganz anders, und so blieben denn auch die Reklamationen der folgenden vier Mörder, deren Advokaten wohl auch mit der Westinghouse-Gesellschaft Beziehungen hatten, ohne Erfolg; die Hinrichtung wurde im Sommer 1891 (7. Juli) vorgenommen und ging, wie selbst die heftigsten Schreier der Kemmler-Exekution öffentlich eingestanden, tadellos von statten. Inwiefern der elektrische Strom tötend auf den Organismus einwirkt, ist noch nicht hinreichend aufgedeckt; der Körper selbst erleidet, abgesehen von unerheblichen Brandstellen an der Ein- und Austrittsstelle, keine merkbare Veränderung. Es scheint jedoch, daß die Nerven durch allzu starken elektrischen Strom außer Thätigkeit gesetzt werden, zugleich scheint ein plötzlicher Krampf den Organismus zu befallen und die Herzthätigkeit sofort aufzuhören; außerdem dürfte sofort das Bewußtsein und [443] die Empfindung aufgehoben werden. Bis zu einem gewissen Grade ist Wechselstrom gefährlicher als Gleichstrom. Letztern kann fast jeder bis zu einer Höhe von ca. 150 Volt ohne schmerzhafte Empfindungen aushalten; dagegen gibt es wenig Leute, die Wechselstrom über 40 Volt mit der gleichen Gemütsruhe ertragen. 300 Volt Wechselstrom können, wenn auch nicht gerade tödlich, so doch stark schädigend wirken, höhere Spannungen, 500 und mehr Volt, dagegen bringen das Leben schon in ernste Gefahr, 2000 Volt können als absolut tödlich angenommen werden. Bei Gleichstrom beginnt eine ernstliche Gefahr wohl erst bei 1000 Volt; bei 2000 Volt jedoch wird Gleichstrom dem Wechselstrom an tödlicher Wirkung wohl wenig nachstehen. Es ist übrigens sehr bemerkenswert, daß Wechselstrom von einer bestimmten Spannung um so gefährlicher ist, je geringer die Wechselzahl ist; neuern Nachrichten zufolge soll Wechselstrom von 10,000 Wechsel pro Sekunde trotz einer Spannung von mehreren tausend Volt keine beträchtliche Gefahr für den Organismus bieten, während er bei 150 Wechseln absolut tödlich ist.