MKL1888:Dramaturgische und theatergeschichtliche Litteratur 1883–90

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Dramaturgische und theatergeschichtliche Litteratur 1883–90“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Dramaturgische und theatergeschichtliche Litteratur 1883–90“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 18 (Supplement, 1891), Seite 206207
Mehr zum Thema bei
Wikisource-Logo
Wikisource: [[{{{Wikisource}}}]]
Wikipedia-Logo
Wikipedia:
Wiktionary-Logo
Wiktionary:
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Indexseite
Empfohlene Zitierweise
Dramaturgische und theatergeschichtliche Litteratur 1883–90. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 18, Seite 206–207. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Dramaturgische_und_theatergeschichtliche_Litteratur_1883%E2%80%9390 (Version vom 19.05.2024)

[206] Dramaturgische und theatergeschichtliche Litteratur 1883–90. Mit der Zunahme der Zahl der Theater in den Hauptstädten Deutschlands und Deutsch-Österreichs, die freilich nicht in richtigem Verhältnis zu den theatralischen Bedürfnissen des Publikums zu stehen scheint, ist auch ein regeres Leben in die litterarische [207] Thätigkeit gedrungen, die sich unter ästhetischen, geschichtlichen und praktischen Gesichtspunkten mit der Produktion auf der Bühne und der Produktion für sie beschäftigt. Einen sichern Beweis für die Thatsache, daß wenigstens das Interesse des lesenden Publikums für die Bühne gewachsen ist, liefert der Umstand, daß H. Bulthaupts dreibändige „Dramaturgie des Schauspiels“ (Oldenb. 1890), wie jetzt der Titel statt des frühern: „Dramaturgie der Klassiker“, lautet, bereits die vierte Auflage erreicht hat. Das Werk enthält eingehende kritische Erörterungen über die dramatischen Hauptwerke von Lessing, Goethe, Schiller, Kleist, Shakespeare, Grillparzer, Hebbel, Ludwig, Gutzkow und Laube, also über diejenigen Dramatiker, die im Gegensatz zu der modernen Massenproduktion immer noch den eisernen Bestand der deutschen Bühnenrepertoire bilden. Der Erfolg der Bulthauptschen „Dramaturgie“ erklärt sich daraus, daß er jedes einzelne Drama ebensowohl auf seinen absoluten künstlerischen Wert wie auf seine Bühnenfähigkeit und -Wirksamkeit prüft, und seine langjährigen Theatererfahrungen und -Beobachtungen haben ihn zu einer so besonnenen Sicherheit des Urteils geführt, daß er auch erfahrene Leser fast immer überzeugt. Aus einer ebenso gründlichen philosophisch-ästhetischen Vorbildung im Verein mit unablässiger Bühnenerfahrung sind die „Dramatischen Vorträge“ von A. v. Berger (Wien 1890) erwachsen, der längere Zeit die Stellung eines Sekretärs am Wiener Hofburgtheater bekleidete, zugleich aber als Privatdozent Vorlesungen an der Universität hielt. Sein Buch enthält sowohl Untersuchungen über allgemeine praktische und ästhetische Theaterfragen (Ausstattung, Schauspielkunst, das Wesen des Tragischen) als kritische Prüfungen einzelner Dramen von Shakespeare, Grillparzer und Hebbel. Es ist ein Wegweiser für denjenigen, der eine nach allen Richtungen vollständige Dramaturgie für das moderne Theater schreiben will. Den philosophisch-ästhetischen Gesichtspunkt stellen mehr in den Vordergrund, ohne sich jedoch gegen die Bühnenerfahrung völlig abzuschließen, Kuno Fischer in seinen „Goetheschriften“ (Heidelb. 1888 ff.), von denen bis 1890 drei: „Iphigenie“, die Erklärungsarten des „Faust“ und „Tasso“, erschienen sind, G. Günther in den „Grundzügen der tragischen Kunst“ (Leipz. 1886), in denen besonders der Begriff der tragischen Schuld untersucht wird und die Äschyleischen Dramen nach dieser Untersuchung als die vollkommensten dargestellt werden, K. Werder in den „Vorlesungen über Macbeth“ (Berl. 1887) und H. Volkelt in dem Buch „Franz Grillparzer als Dichter des Tragischen“ (Nördling. 1888). In neuer Bearbeitung hat F. Kern Fr. Kreyßigs „Vorlesungen über Goethes Faust“ (Berl. 1890) herausgegeben, die auch heute noch, fast 20 Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung, einen Ehrenplatz in der seitdem ins Unübersehbare angeschwollenen Faustlitteratur einnehmen. Den Schwerpunkt auf das dramaturgische Gebiet hat dagegen L. Bellermann in einem Buch über Schillers Dramen (Berl. 1888) gelegt, dessen erster Teil eingehende Besprechungen der „Räuber“, „Fieskos“, von „Kabale und Liebe“ und „Don Karlos“ mit Rücksicht auf ihren ästhetischen Gehalt und ihren künstlerischen Bau enthält. Es ist eine aus der Gruppe der litterarischen Erscheinungen, die dafür zeugen, daß dem einseitigen und übertriebenen Goethe-Kultus in neuerer Zeit eine Reaktion zu gunsten Schillers gegenübertritt. Eine Mittelstellung zwischen der ästhetischen und der litterarhistorischen Betrachtungsweise nimmt das Buch „Schiller als Dramaturg“ von Albert Köster (Berl. 1891) ein, in dem der Verfasser Schillers Thätigkeit als Übersetzer und Bearbeiter von ausländischen Dramen für die Weimarer Bühne nach den Absichten und der Methode des Dichters und nach ihren Erfolgen in zusammenfassender Darstellung behandelt, die sich besonders eingehend mit Shakespeares „Macbeth“, Gozzis „Turandot“ und Racines „Phädra“ beschäftigt.

Um die Erforschung der deutschen Theatergeschichte des vorigen Jahrhunderts haben sich P. Schlenther und B. Litzmann verdient gemacht, ersterer durch eine kritische Untersuchung über „Frau Gottsched und die bürgerliche Komödie“ (Berl. 1886), die das allgemeine Urteil erheblich zu gunsten der „gelehrtesten Frau Deutschlands“ modifiziert u. ihre redlichen Bemühungen um die Förderung der Bühne ihrer Zeit in einem weit bessern Lichte erscheinen läßt, als sie bisher betrachtet worden war, letzterer in einer groß angelegten Biographie des hervorragendsten deutschen Bühnenleiters und Schauspielers des vorigen Jahrhunderts, „Friedrich Ludwig Schröder“ (Hamb. 1890), von der erst ein Band erschienen ist, der Schröders Thätigkeit und die Umgebung, in der er wirkte, bis zum Jahre 1767 begleitet. Über das Charakterbild eines einzelnen Menschen hinaus erhebt sich diese Biographie zu einem Stücke bisher wenig erforschter Theatergeschichte, das hier zum erstenmal eine gründliche, auf den Quellen fußende Darstellung erfährt u. zugleich wertvolle Beiträge zur Litteraturgeschichte des 18. Jahrh. enthält. Auch der von R. Werner herausgegebene „Wiener Hanswurst“ (Wien 1886) liefert insofern wertvolles Material zur Theatergeschichte, indem er nicht nur eine Biographie Stranitzkys, des berühmtesten Hanswurstes seiner Zeit, sondern auch eine Geschichte der Wiener Volksbühne bis in ihre Anfänge bietet.

Für die Theatergeschichte des 19. Jahrh. kommt für den Zeitraum von 1883 bis 1890 nur ein Beitrag von wissenschaftlicher Bedeutung in Betracht, R. Fellners „Geschichte einer deutschen Musterbühne“ (Düsseldorf 1888), die eine aus den Quellen geschöpfte Darstellung der Leitung des Düsseldorfer Stadttheaters durch Immermann (1835–38) enthält. Einen feuilletonistischen Charakter tragen die Schriften: „Das Dresdener Hoftheater in der Gegenwart“ von A. Kohut (Dresd. 1888), „Aus dem Burgtheater“ von Costenoble (Wien 1889) und „Wiener Theaterleben“ von A. Müller-Guttenbrunn (das. 1890).

Den persönlichen Interessen der Theaterwelt dienen zwei Jahrbücher: „Der deutsche Bühnen-Almanach“, herausgegeben von Th. Entsch, der für 1891 im 55. Jahrgang erschienen ist, und der „Neue Theater-Almanach“, den die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger zum erstenmal für das Jahr 1890 herausgegeben hat, und der außer dem üblichen statistischen und chronistischen Material auch einen litterarischen Teil enthält. Der Versuch der Genossenschaft, ihrem wöchentlich erscheinenden Vereinsorgan „Deutsche Bühnengenossenschaft“ unter Leitung eines litterarisch gebildeten Redakteurs auch eine mehr wissenschaftliche Färbung zu geben, ist nach Jahresfrist wieder aufgegeben worden. Auch alle übrigen Versuche, in Deutschland Zeitschriften lebensfähig zu erhalten, die sich ausschließlich mit der dramatischen Kunst und dem Theaterwesen befassen, sind gescheitert. Vgl. auch Theater.