Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Diplomatie“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 4 (1886), Seite 10061008
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Diplomatie. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 1006–1008. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Diplomatie (Version vom 09.07.2021)

[1006] Diplomatie (v. griech. diploma, s. Diplom), ein Wort, welches zur Bezeichnung dreier verschiedener Verhältnisse oder Gegenstände dient. Es bezeichnet 1) die Wissenschaft der Staatsschriften und Staatsurkunden. In dieser Richtung bezweckt D. die Ermittelung des Inhalts und die Feststellung der Echtheit der Staatsurkunden, zumal der Staatsverträge, auf Grundlage der Paläographie, welche die außer Gebrauch gekommenen Schriftzeichen früherer Jahrhunderte enträtselt, und der historischen und philologischen Textkritik. Soweit die D. diesen Zweck verfolgt, erscheint sie einfach als Hilfswissenschaft der Geschichte, zu deren allerersten Aufgaben es gehört, unter ihren urkundlichen Grundlagen Echtes von Unechtem zu unterscheiden und Urkundenfälschungen zu entlarven. Zur Sicherung der Staatsurkunden gegen Verdunkelung dienen gegenwärtig die Einrichtungen der Staatsarchive. Diese erste Bedeutung des Wortes D. ist fast außer Gebrauch gekommen, häufiger bedient man sich dafür des Wortes Diplomatik.

Auf Grundlage der ersten Bedeutung entstand eine zweite: hiernach ist D. 2) die Wissenschaft der auf die auswärtigen Staatsverhandlungen bezüglichen Regeln und Formen. In dem Worte D. liegt zunächst kein Unterschied zwischen innern und äußern Staatsangelegenheiten angedeutet. Insofern aber, insbesondere zur Zeit der absoluten Monarchie, der Gebrauch und der Abschluß von Staatsverträgen häufiger ward und das innere Staatsleben an Inhalt u. Bedeutung für die kontinentalen Staaten einbüßte, faßte man den äußern Verkehr als die Hauptzweckbestimmung des Staatsschriftenwesens auf. Schriftlichkeit, welche seit dem 16. Jahrh., vornehmlich unter dem Einfluß der Kirche, die regelmäßige Prozeßform im Gerichtsverfahren geworden war und den alten volkstümlichen Grundsatz der Mündlichkeit verdrängt hatte, beherrschte die äußern Beziehungen der Regierung mit um so größerm Recht, als jedermann überall darauf Bedacht nahm, seine Rechte in urkundlicher Form zu sichern und Beweismittel für spätere als möglich vorausgesehene Streitfälle zu bewahren. Im Zusammenhang damit bildete sich eine feste Technik in der Verwendung, Abfassung, Vorbereitung und Redaktion der für den auswärtigen Verkehr bestimmten Staatsurkunden, der Gebrauch einer Chifferschrift, das Kurierwesen u. a. Da indessen, zumal bei der Verhandlung von Staatsverträgen, den endgültigen Vereinbarungen überall mündliche Verabredungen vorangehen mußten, umfaßte allmählich die Bedeutung der D. jede Art des internationalen Meinungsaustausches. In der Sache selbst war auch der materielle Inhalt der unter den Vertretern des Staats getroffenen Vereinbarungen wichtiger als die formale Technik der urkundlichen Aufzeichnung. So erschien [1007] denn schließlich 3) D. gleichbedeutend mit dem Inbegriff der Staatsverhandlungskunst und aller darauf bezüglichen Regeln. Erst in neuerer Zeit, wahrscheinlich seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts, bediente man sich des Wortes D. in diesem erweiterten Sinn. Wann der Sprachgebrauch sich zuerst bildete, ist mit Sicherheit noch nicht festgestellt; jedenfalls ist er durchaus modern. D. als Staatsverhandlungskunst ist überall im Gegensatz zu denken zu den Mitteln der kriegerischen und gewaltsamen Entscheidung von Streithändeln. Zuständlich gewürdigt, erscheinen die Beziehungen der Staaten zu einander überall stets als friedliche oder kriegerische. Dieser Zweiteilung entspricht auch die Gegenüberstellung von D. und Heerführung (Strategie). Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen unter mehreren Staaten erscheint deswegen als Zeichen einer ernsthaften, häufig zum Krieg führenden Verwickelung, anderseits die Wiederanknüpfung diplomatischer Verhandlungen während des Kriegs als Vorbedeutung friedlicher Gesinnungen. Krieg und D. schließen sich im gewissen Maß gegenseitig aus. Wofern es sich nicht um die Einleitung eines ernst gemeinten Friedensschlusses handelt, wäre es auf seiten eines Feldherrn verkehrt, zu „diplomatisieren“, ebenso auch der Aufgabe des Diplomaten fremd, seinerseits vorzeitig mit Gewalt zu drohen, ein Verhalten, welches dem Endzweck der Friedenserhaltung meistenteils schwere Nachteile zufügt, wie aus neuester Zeit das Verhalten des Herzogs von Gramont vor dem Ausbruch des französisch-deutschen Kriegs im Juli 1870 besonders deutlich erkennen läßt. Ehe der Krieg von seiten eines Staats nicht beschlossene Sache ist, darf die D. niemals eine kriegerische Sprache führen. Auch im bürgerlichen Verkehr ist daher das „Undiplomatische“ gleichbedeutend mit dem Unklugen. Zuweilen können allerdings diplomatische Verhandlungen und kriegerische Operationen nebeneinander hergehen. Meistenteils wird dies dann der Fall sein, wenn der eine Teil durch Staatsverhandlungen, die nicht ernsthaft gemeint sind, Zeit für die bessere Vorbereitung seiner militärischen Operationen zu gewinnen sucht. Lange Zeit vor dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs schwebten unter den beteiligten Mächten fruchtlose Friedensverhandlungen. Napoleon I. suchte 1814 mit den Verbündeten in Chaumont zu verhandeln, und ebenso knüpfte Thiers während der Belagerung von Paris 1870 im November Unterhandlungen an. Solange es einen auswärtigen Staatsverkehr gibt, besteht auch eine Verhandlungskunst. Es ist daher Mißverständnis oder Unklarheit, wenn viele Schriftsteller den Satz aufstellen, daß erst seit dem Ende des 15. Jahrh. mit der Ausbildung des gegenwärtigen Staatensystems eine D. entstanden sei. Schon die antiken Staatswesen hatten eine bestimmte Tradition und herkömmliche Regeln für ihre Verhandlungen mit den Nachbarstaaten. Insbesondere gilt dies von Sparta, Karthago und Rom; von jeher ward Philipp von Makedonien als einer der gewandtesten Unterhändler angesehen. Was das Mittelalter anbelangt, so haben unbestreitbar seit dem 10. Jahrh. die Päpste vorzugsweise durch ihre kirchliche D. ihre Machtstellung begründet und behauptet; unter den weltlichen Staaten war es vorzugsweise Venedig, dessen D. und Gesandtschaftswesen frühzeitig einen hohen Grad von Festigkeit und Geschicklichkeit erkennen lassen. Eine wesentliche Veränderung ist in der neuern Zeit insofern vor sich gegangen, als erstens (allerdings erst seit dem 16. Jahrh.) ein ständiges Gesandtschaftswesen in Europa aufkam und zweitens seit dem Westfälischen Frieden die Beziehungen der europäischen Staaten zu einander auf eine allgemeine Rechtsgrundlage gegenseitiger Anerkennung gestellt waren. Die antike und mittelalterliche D. ging in bewußter Weise von den einseitigen Vorteilen und Machtzwecken des eignen Staats als der alleinigen Norm ihres Handelns aus. Die moderne D. steht auf einer doppelten Grundlage: auf dem Gesamtrecht einer europäischen Staatengesellschaft und auf dem berechtigten Eigennutz der einzelnen Staaten, so daß sie zwischen diesen beiden Thatsachen des völkerschaftlichen Zusammenlebens eine friedliche Vermittelung und Ausgleichung zu suchen hat. Vorderhand ist freilich der Gesichtspunkt des eignen Vorteils und der egoistischen Machterweiterung in der Praxis der D. überall der entscheidende gewesen. Allein das Vorhandensein eines Prinzips der menschlichen Handlungen ist niemals zu verwechseln mit dem jeweiligen Stand seiner Verwirklichung in der Praxis. Ebendeswegen ist nicht zu bestreiten, daß die moderne D. auf ganz andrer Grundlage steht und stehen soll als die antike oder mittelalterliche. Obgleich der Eigennutz die in der diplomatischen Praxis herrschende Thatsache ist, darf man nicht vergessen, daß die auf sittlichen Grundsätzen ruhende Staatslehre gegen diese Praxis zu jeder Zeit Widerspruch erhoben hat, und daß die D. sich nicht enthalten konnte, die Berechtigung der idealen Ziele des menschheitlichen Lebens bei sehr wichtigen Gelegenheiten anzuerkennen: sie unterdrückte den Sklavenhandel; sie befreite die großen europäischen Ströme von den Hindernissen der Schiffahrt; sie wahrte die Freiheit der Meere; sie sicherte im Pariser Frieden in höherm Maß das Privateigentum im Seekrieg; sie schützte in der Genfer Konvention von 1864 das Leben der Verwundeten; sie versuchte auf der Brüsseler Konferenz 1874 die Schrecken des Kriegs durch feste Regeln zu mildern. Die Zwecke der D. sind also über die Landesgrenzen der einzelnen Staaten hinaus erweitert und auf eine sittliche Basis gestellt worden, indem man die Harmonie der Gesamtinteressen als wünschenswertes Ziel anerkennt. Ebenso haben sich im Vergleich zu früher die Mittel der D. völlig verändert. Der Eigennutz der Staaten in Kollision mit dem Eigennutz gleich mächtiger kann nimmer zum Ziel gelangen, außer durch Gewalt, Hinterlist, Lüge oder Vertragsbruch. Machiavellismus und Jesuitismus beherrschten daher die alte D. Jedes zweckdienliche Mittel war erlaubt, weil es als notwendig galt. Wenn auch solche Mittel gegenwärtig nicht aus der Praxis verschwunden sind, so werden sie doch durch die öffentliche Meinung gebrandmarkt: sie verstecken sich hinter Ableugnungen und Entschuldigungen, während sie früherhin sich dreist und einfach als verdienstlich und berechtigt betrachteten. Den Nachwirkungen der ehemaligen Verderbnis der Staatssitten ist es zuzuschreiben, daß sich selbst heute noch an die D. dieselbe unvolkstümliche Vorstellung knüpft wie an die Wirksamkeit der geheimen Staatspolizei, und daß manche in der Verhandlungskunst nichts andres erblicken wollen als die Kunst des Hinterhalts und der Übervorteilungen. Ob von einer Wissenschaft der D., nicht bloß von einer Kunst, gesprochen werden könne, ist zweifelhaft. Sicherlich gibt es gewisse Maximen und Regeln für die D. wie für jede andre Kunst. Die bloße Technik der Formalien im schriftlichen Verkehr der Regierungen hat indessen keinen Anspruch darauf, eine Wissenschaft zu heißen, und ebensowenig scheint es zulässig, mit Pölitz die Gesamtheit der für Staatsverhandlungen nützlichen Kenntnisse in andern Wissenszweigen (Völkerrecht, [1008] Staatsrecht, Geschichte, neuere Sprachen) auf Grund einer nur äußerlichen Zweckbestimmung und des praktischen Gebrauchs zu einer eignen und selbständigen Wissenschaft der D. zu vereinigen. Es gibt keine Wissenschaft der D., weil die Zwecke der D. bis jetzt noch vorwiegend individuell nationale der einzelnen Staaten sind und darum auch die Mittel angesichts der in der Staatenwelt vor sich gehenden Veränderungen überall den konkreten Verhältnissen besonders angepaßt werden müssen. Unter allen Faktoren des diplomatischen Gelingens oder Mißlingens sind bestimmte theoretische Kenntnisse, obwohl unentbehrlich, doch am wenigsten entscheidend, und eben diese Kenntnisse sind nicht aus der eigentümlichen Natur der äußern Staatenbeziehungen, sondern gerade aus andern Wissensgebieten zu entnehmen. Jeder Staat hat seine eigentümliche Aufgabe und darum auch eigentümliche Maximen in der Verfolgung seiner Ziele. England als Handels- und Seestaat ist anders gestellt als die kontinentalen Staaten, Deutschland in zentraler Lage anders als Rußland mit seinen orientalischen Beziehungen, eine Großmacht anders als neutrale Staaten, wie die Schweiz und Belgien. Die Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit und Sicherheit des friedlichen Bestandes ist je nach der geographischen Lage für die einzelnen Staaten eine ganz verschiedene, und daraus ergibt sich auch die Unmöglichkeit allgemein anwendbarer, abstrakter Regeln für die Verhandlungskunst. Soweit, als allgemein menschliche Ziele in Betracht kommen, ist die wissenschaftliche Grundlage der D. identisch mit dem Völkerrecht und den darauf beruhenden Forderungen der auswärtigen Politik. Endlich 4) bedeutet D. die Gesamtheit der für auswärtige Staatsverhandlungen thätigen Amtsorgane, somit der an den europäischen Höfen beglaubigten Gesandten (s. d.) und ihrer Gehilfen, außerdem aber auch der in den auswärtigen Ministerien fungierenden Personen. D. in dieser letzten Bedeutung ist also umfassender als Gesandtschaftspersonal und auch als der Ausdruck diplomatisches Korps (s. d.), welches die an einem bestimmten Hof beglaubigten Gesandtschaften in sich begreift. Die Spitze und der Ausgangspunkt der gesamten europäischen D. liegt überall in den Ministerien der auswärtigen Angelegenheiten, in denen die Richtschnur für das Verhalten der D. in Gestalt bestimmter Instruktionen festgesetzt wird. Die Befähigung zum diplomatischen Dienst ist gegenwärtig in allen größern Staaten an gewisse Vorbedingungen geknüpft, die indessen vielfach dem Dispensationsrecht unterliegen. Die Auswahl eines geeigneten Staatsvertreters richtet sich nämlich überall, abgesehen von einem gewissen Maß theoretischen Wissens und allgemeiner Bildung, auch danach, welche technischen Kenntnisse an einem bestimmten Platz vorzugsweise erforderlich scheinen (z. B. militärische oder handelspolitische), und welchen persönlichen Einfluß in den entscheidenden Kreisen eines fremden Hofs man von den bestimmten Personen nach der Gesamtheit ihrer Eigenschaften erwarten darf, so daß es beispielsweise sehr verkehrt sein könnte, einen gelehrten Orientalisten an den Hof eines orientalischen, jeder Gelehrsamkeit und Bildung unzugänglichen Fürsten zu senden. Die gegenwärtig in Europa für die diplomatische Laufbahn erforderlichen Vorbedingungen sind meistenteils: ein theoretisches Studium der Rechts- und Staatswissenschaften auf den Universitäten und ein praktischer Vorbereitungsdienst, teils an den Gerichten und Verwaltungsstellen des eignen Landes, teils bei einer auswärtigen Gesandtschaft als Attaché, wobei bestimmte Kenntnisse zu erwerben sind, über welche die Aspiranten sich in Prüfungen auszuweisen haben. Im allgemeinen entsprechen diese Anforderungen der Natur der Dinge. Doch finden sich zahlreiche Beispiele, welche zeigen, daß auch Männer ohne juristische Vorbildung durch ihre diplomatischen Leistungen hervorragen. Cavour war von Haus aus Ingenieur, Niebuhr Historiker. Mit Vorliebe wählt man in neuester Zeit hochstehende Militärs zur Besetzung einflußreicher Posten. Neben der Kenntnis neuerer Sprachen und seines eignen, später zu vertretenden Landes und seiner Rechtsinstitutionen muß von dem Diplomaten verlangt werden, daß er sich befähigt zeige, richtig zu beobachten und sicher zu beurteilen, was in fremden Ländern an politisch einflußreichen Faktoren hervortritt. Zu ihren schriftlichen Verhandlungen bediente sich die D. seit den letzten Jahrhunderten der französischen Sprache als der seit dem 17. Jahrh. verbreitetsten internationalen Verkehrssprache; in neuester Zeit hat sich England und seit dem Krieg von 1870 auch Deutschland für den Schriftwechsel teilweise von diesem Gebrauch losgesagt. Doch bleibt das Französische die Verhandlungssprache der Kongresse. – Die ältere Litteratur über D. ist fast völlig unbrauchbar. Aus neuerer Zeit vgl. v. Kaltenborn in Bluntschlis „Staatswörterbuch“; Heffter, Das europäische Völkerrecht (7. Aufl., Berl. 1882); Vergé, Diplomates et publicistes (Par. 1856); v. Martens, Guide diplomatique (5. Aufl., hrsg. von Geffcken, Leipz. 1866, 2 Bde.).