Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Dēlos“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 4 (1886), Seite 649650
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Dēlos. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 649–650. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:D%C4%93los (Version vom 29.05.2023)

[649] Dēlos (jetzt Mikra Dili, „Klein-D.“), eine der Kykladen im Ägeischen Meer, ein schmaler, etwa 5 km langer, 11/4 km breiter, 3 qkm großer Granitrücken mit dem Berg Kynthos in der Mitte (106 m), jetzt verödet, im Altertum aber eine blühende und als Nationalheiligtum der Griechen hochgefeierte Stätte. Einst, wie der Mythus erzählt, schwamm die Insel auf dem Meer, bis sie Poseidon für die umherirrende, von der Hera verfolgte Leto (Latona) an vier diamantenen Säulen befestigte. Leto gebar hier den Apollon und die Artemis (daher deren Beinamen Delios und Delia); die Insel war deshalb ein heiliger Ort und wurde ein Hauptsitz der Verehrung beider Gottheiten, nachdem schon vorher ein orientalisches Götterpaar dort verehrt worden war. Zahlreiche Tempel und Kunstwerke schmückten sie; namentlich galt der prachtvolle Apollontempel mit der Kolossalstatue des Gottes, einem Weihgeschenk der Naxier, allen Griechen als größtes Heiligtum. Es war ein dorischer Bau aus dem Beginn des 4. Jahrh. v. Chr. von 29,49 m Länge und 13,55 m Breite, wie die seit 1877 von Homolle für das französische archäologische Institut ausgeführten Nachgrabungen gezeigt haben. Nördlich von ihm stand ein merkwürdiger Altar, der ganz aus Stierhörnern, den Symbolen des Lichts, zusammengesetzt war und zur Entstehung des sogen. Delischen Problems (s. d.) Veranlassung gab. Sämtliche ionische Staaten schickten hierher feierliche Gesandtschaften (Theorien) mit reichen Opfergaben, und unermeßliche Schätze häuften sich in den Tempeln der Insel an. Auch befand sich in D. ein Orakel, das zur Zeit seiner Blüte als eins der zuverlässigsten galt, und alle fünf Jahre wurde daselbst das berühmte Delische Fest mit Wettgesängen, Wettkämpfen und Spielen aller Art gefeiert, woran alle Stämme Griechenlands teilnahmen. Die frühsten Bewohner der Insel waren Karier; etwa tausend Jahre vor Christo wurde sie von den Ioniern besetzt. Sie stand lange Zeit hindurch unter eignen Priesterkönigen und war insonderheit als Mittelpunkt für die große athenische [650] Bundesgenossenschaft wichtig. Infolge der Heiligkeit des Apollontempels ward seit 476 die Bundeskasse hier bewahrt. Einige Jahrzehnte später kam die Insel in Abhängigkeit von Athen, erfreute sich aber nach dem Sturz dieser Macht durch die Makedonier von neuem der Freiheit. Als Handelsplatz blühte die Stadt D., deren Ruinen nördlich von denen des Tempels liegen, erst nach Korinths Zerstörung auf, namentlich ward sie ein vielbesuchter Sklavenmarkt und wegen ihrer Zollfreiheit Mittelpunkt des Verkehrs zwischen dem Schwarzen Meer und Alexandria. Ein schwerer Schlag, von dem sie sich nie wieder erholte, traf die Insel, welche selbst die Perser geschont hatten, im Mithridatischen Krieg. Menophanes, der Feldherr des Mithridates, landete 87 mit einer Truppenabteilung bei der offenen Stadt, ermordete und verkaufte die wehrlosen Einwohner und plünderte und zerstörte die Stadt und das Heiligtum mit seinen zahlreichen Kunstschätzen. Nach dem Friedensschluß (84 v. Chr.) kam D. in die Hände der Römer, die es später den Athenern zurückgaben. Jetzt bildet die ganze Insel eine mit Schutt und Trümmern bedeckte Einöde. Von den Prachtbauten des Altertums sind noch einige Trümmer des Apollontempels, des Theaters und Gymnasiums vorhanden; Homolles Ausgrabungen legten diejenigen des Letoon, des Artemision, des Schatzhauses etc. frei. Auf dem Kynthos, wo das älteste Apollonheiligtum und in römischer Zeit ägyptische Kultstätten lagen, finden sich auch Reste einer aus antiken Trümmern erbauten fränkischen Burg. Neben D. liegt jenseit einer 0,6 km breiten Meerenge die Insel Rheneia („Groß-D.“), die den Begräbnisplatz von D. bildete, da auf dem heiligen D. niemand geboren werden, auch niemand sterben und ein Grab finden durfte (D. selbst wurde 426 v. Chr. durch die Athener von den früher dort bestatteten Leichen gereinigt). Sie besteht aus zwei mehrfach ausgezackten Bergmassen, die bis 150 m ansteigen und durch einen schmalen Isthmus miteinander verbunden sind; sie ist 17 qkm groß, noch öder und kahler als D. und wird wie dieses nur zeitweise von Hirten und Schiffern besucht. Vgl. Lebègue, Recherches sur D. (Par. 1876).


Jahres-Supplement 1891–1892
Band 19 (1892), Seite 174176
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[174] Delos. Die kleine, zur Gruppe der Kykladen gehörige Insel, die als ein schmaler, etwa 5 km langer Felsenrücken mitten unter dem Schwarme der griechischen Inselmenge bis zu 106 m Höhe, östlich von dem bekannten Syra, aus dem Meere hervorragt, war in den Jahrhunderten vor Christi Geburt ein dichtbevölkerter, blühender Kultus- und Handelsplatz; bei der Verschiebung der religiösen und politischen Kräfte, welche dann eintrat, verlor er immer mehr, so daß schon der griechische Reisende Pausanias im 2. Jahrh. n. Chr. D. mit Mykenä zusammen als ein deutliches Zeichen der Vergänglichkeit aller irdischen Größe erwähnte. Zum Handelshafen machte es seine zentrale Lage geeignet sowie der Umstand, daß zwischen ihm und der gegenüberliegenden, etwas größern Insel Rheneia ein schmaler, wohlgeschützter Meeresarm wie ein langes, von zwei Mauern gebildetes Flußbett sich erstreckt. Mythologisch berühmt als Geburtsstätte des Apollon und der Artemis, ein Lieblingssitz des Apollon, hatte die Insel in dem Apollontempel ihren geschichtlichen Mittelpunkt. Sie ward der religiöse Vereinigungsort der ionischen Stämme, welche hier alljährlich glänzende Spiele feierten. Seit dem 8. Jahrh. stand die Insel mit Athen in engerer Verbindung. Peisistratos ordnete die erste Reinigung, d. h. die Entfernung aller Gräber aus der Umgebung der Tempelstätte, an; späterhin wurde die Bestattung auf der Insel überhaupt untersagt. Nach den Perserkriegen wurde bei der Stiftung des ionischen Bundes der delische Apollontempel als Aufbewahrungsort für den Bundesschatz erwählt. Schon 454 aber wurde er nach Athen übertragen, und damit trat D. ebenso wie die übrigen Inseln zu Athen in ein Abhängigkeitsverhältnis, welches bis zur Zeit Alexanders d. Gr. (ca. 331) bestehen blieb. Während der nun folgenden Zeit der Unabhängigkeit wurde die Insel Sitz eines blühenden Handels; fremde Handelsgenossenschaften, die Hermaisten (Römer), Poseidoniasten (Syrer aus Beirut), Alexandriner, Ägypter, hatten hier ihren Mittelpunkt; große Bauten wurden aufgeführt, z. B. ein Tempel der fremden Götter, in welchem Serapis, Isis, Anubis verehrt wurden. Auch als die Römer, welche seit 166 eine Art Schutzherrschaft über D. ausübten, die Insel den Athenern aufs neue überwiesen, nahm die Stadt noch immer zu, besonders nach der Zerstörung der Handelsmacht Korinth (146). Auch ohne dringende Handelsgeschäfte pflegten die zwischen Italien, Griechenland und Kleinasien Schiffenden in D. anzulegen, teils wegen der günstigen Lage und des guten [175] Hafens, teils auch wegen des berühmten Heiligtums. So geht Äschines von Athen über D. nach Rhodos, Cicero von Athen über Syra und D. nach Samos und Ephesos. Im Mithridatischen Kriege blieben die Delier den Römern treu, ernteten aber übeln Lohn; denn die Insel wurde 88 v. Chr. durch die Feldherren des Mithridates völlig verwüstet. Sulla eroberte sie zwar 87 wieder und versuchte die alte Blüte wiederherzustellen, jedoch ward D. durch die während der Bürgerkriege stark gewordenen Piraten vielfach geplündert; 69 wurden durch Athenodoros ihre Heiligtümer zerstört, ihre Einwohner in die Sklaverei geführt. Seitdem war es mit D., welches in sich keinerlei Hilfsquellen hatte, vorbei. Von da an teilt D. das Geschick aller griechischen Ruinenstätten im Mittelalter: seine Bauten bildeten einen unerschöpflichen Steinbruch für die bevölkerten Nachbarinseln, seine Statuen wurden verschleppt oder zu Kalk verbrannt, soweit sie nicht allmählich die schützende Decke des Trümmerschutts verdeckte und dadurch erhielt. Die Wiederaufdeckung der Reste des Altertums ist das Verdienst der Franzosen, welche hier unter Leitung des französischen archäologischen Instituts zu Athen von 1873 bis 1889 fortgesetzt gegraben und über die Resultate in ihrer Zeitschrift „Bulletin de correspondance hellénique“ berichtet haben. Die Ausbeute war groß: ca. 60 Gebäude, eine große Anzahl von Statuen von den ältesten Zeiten der griechischen Kunst an bis zu den spätesten, eine ganz besonders große Anzahl (über 2000) von Inschriften, darunter mit die größten, welche existieren (Schatzverzeichnisse von Tempeln). Endlich gelang es auch, den Situationsplan des ganzen Heiligtums zu rekonstruieren und ein Bild von fast verwirrender Mannigfaltigkeit der Tempel, Säulenhallen, Altäre, Vorratshäuser (Thesauren), Fußgestelle von Weihgeschenken etc. zu gewinnen (s. Plan).

Plan der Ausgrabungen auf Delos, nach H. P. Nénot (im „Guide Joanne“).

Unter den Statuen steht in erster Linie eine ganze Reihe altertümlicher Skulpturen; voran die Marmorstatue der Naxierin Nikandra. Sie sieht aus wie ein runder, noch dazu abgedrehter Baumstamm, in den die Falten des Gewandes als senkrechte Linien eingraviert sind (7. oder 6. Jahrh.). Solcher säulenartiger Gestalten wurden mehrere entdeckt. Ihnen zur Seite stehen die brettartigen Figuren, wie aus einer dicken, vierkantigen Bohle herausgearbeitet, aber so, daß der Eindruck des flachen Brettes bleibt. Das hervorragendste Denkmal dieser ältesten Kunst ist die Nike des Archermos, mit der ältesten bekannten griechischen Künstlerinschrift. Wer dabei an die herrlichen Siegesgöttinnen von der Nikebalustrade von Athen denkt, wird sich arg enttäuscht finden. Die Figur des Archermos soll eine [176] fliegende Göttin darstellen, doch reicht das technische Können noch nicht aus. Wir sehen eine langbekleidete weibliche Gestalt mit Flügeln auf dem Rücken und an den Schultern, die auf den ersten Anblick auf dem linken Knie zu ruhen scheint; doch ist damit nur die energische Bewegung eines eilenden Laufes gemeint. Das Antlitz zeigt das grinsende Lächeln, mit welchem die älteste griechische Kunst die Gesichter zu beleben suchte. Diese Nike wird ins Ende des 7. oder in den Anfang des 6. vorchristlichen Jahrhunderts gehören. Endlich ist eine ganze Reihe von lebensgroßen, stehenden weiblichen Figuren der entwickeltern archaischen Kunst vorhanden, wahrscheinlich alte Priesterinnen, in lang herabhängenden Gewändern und auf der rechten Schulter gehefteten, unter der linken Achsel durchgezogenen Mänteln mit zierlich gefälteltem Überschlag; die Linke hebt das Gewand etwas empor, die Rechte ist vorgestreckt. Zwei altertümliche, streng stilisierte Reiterfiguren reihen sich an. Das Bedeutendste von alter Kunst sind die beiden großen, am Boden liegenden Trümmer des marmornen Apollonkolosses, welchen laut der noch erhaltenen Inschrift aus dem 6. Jahrh. die Naxier geweiht hatten. Die noch an Ort und Stelle befindliche Basis ist 5,18 m lang und 3,50 m breit. Die schönste der in D. gefundenen Statuen gehört etwa der Zeit der pergamenischen Kunst an und erinnert an die Gallierstatuen, deren berühmteste, der sterbende Gallier, jetzt im kapitolinischen Museum zu Rom steht. Auch die delische Statue, leider nicht ganz erhalten (Kopf und linker Arm fehlen), stellte einen zusammengesunkenen Krieger dar; er stützt sich auf das rechte Knie, der erhobene linke Arm hielt den Schild empor, um sich gegen einen nicht dargestellten Gegner zu decken (jetzt in Athen). Ebenfalls zu Athen aufgestellt sind zwei plastische, gewaltsam bewegte Gruppen, welche auf der Spitze der Giebeldreiecke eines Tempels als Bekrönungen angebracht waren und, einander entsprechend, den Raub der Oreithyia durch Boreas und den Raub des Kephalos durch Eos darstellen. Es sind jedesmal vier Figuren, der Räuber in der Mitte hält die Geraubte hoch in die Höhe (der Krönung des Giebels entsprechend), nach beiden Seiten fliehen je eine Begleiterin. Die Gruppen sind außerordentlich kühn komponiert und ausgeführt und erinnern dadurch an die herabschwebende Nike des Paionios aus Olympia. Die delischen Gruppen gehören wahrscheinlich an das Ende des 5. Jahrh. v. Chr.

Die Bauten lagen innerhalb eines rings von einer Mauer umschlossenen heiligen Bezirks (s. den Plan auf S. 175), ähnlich der Altis von Olympia, in unmittelbarer Nähe des Meeresufers, so daß man von dem langen, wohlgemauerten Hafenkai sofort in den geweihten Bezirk eintrat. Lange Hallen umgaben auch hier das Innere des weiten Hofes, säulengeschmückte Thorbauten führten hinein. Das vornehmste Gebäude war der Tempel des Hauptgottes, des Apollon. Es war ein dorischer Peripteros, dessen Dimensionen etwa denen des Theseions von Athen nahekommen; er stand des unebenen Terrains wegen auf einer gemauerten Terrasse. Der dreistufige Unterbau ist 29,50 m lang und 13,55 m breit, die Stufen sind aus parischem Marmor. Er trägt eine ringsumlaufende dorische Säulenhalle von je 6 Säulen in der Fronte, je 13 an den Seiten. Ihre Höhe betrug 5,20 m, bei einem Basisdurchmesser von 0,95 m. Die Kannelierung der Säulen ist nur angefangen. Die Cella war innen 11,50 m lang und 5,60 m breit; vorn und hinten war je eine zweisäulige Vorhalle vorgelegt. Die Details sind sorgfältig ausgeführt. Der Bau fällt wahrscheinlich in den Anfang des 4. Jahrh. Außerdem verzeichnet der französische Plan der Ausgrabungen an Tempeln noch einen des Dionysos, einen alten und einen neuen der Artemis und mehrere bei dem Mangel der schriftlichen Überlieferung für uns namenlose. Beide Artemisheiligtümer liegen an der Westseite des heiligen Bezirks, innerhalb eines besondern, von Mauer u. Säulenhallen umgebenen großen Hofes, ganz nahe am Meere. Unter den großen Hallen, welche zu Festversammlungen dienten, ist besonders die sogen. Stierhalle an der Ostseite, der Landseite, zu bemerken. Sie ist 67,20 m lang und 8,86 m breit. Außerdem ist noch eine große Anzahl andrer bis jetzt noch nicht genau bestimmbarer Bauwerke gefunden worden. Zwischen all den Bauwerken stehen zahlreiche Postamente, wohl auch Altäre. Die Statuen, die sich früher darauf befanden, sind zum allergrößten Teile geraubt. Eine zusammenfassende Publikation über D. in topographischer, baugeschichtlicher und künstlerischen Beziehung existiert noch nicht. Über die Statuenfunde hat Furtwängler in der „Archäologischen Zeitung“ von 1882 berichtet, über die politischen und sakralen Verhältnisse vgl. V. v. Schöffer, De Deli insulae rebus (Berl. 1889).