Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Chor“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 4 (1886), Seite 7072
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Chor. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 70–72. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Chor (Version vom 25.05.2024)

[70] Chor (griech.), eigentlich ein umgrenzter Tanzplatz, dann der Rund- und Reigentanz selbst, insbesondere aber der mit Gesang verbundene, bei festlichen Gelegenheiten zu Ehren einer Gottheit aufgeführte Tanz (Chorreigen) und das ihn aufführende Personal. Dergleichen Choraufführungen, anfangs rein lyrisch, aber von sehr verschiedenem Charakter, bald ernst und feierlich, bald lustig und ausgelassen, bildeten bei den Dionysischen Festen den ursprünglichen und hauptsächlichen Bestandteil der Festfeier (s. Dithyrambos), und aus ihnen ging das griechische Drama hervor, indem sich nach und nach der Dialog entwickelte und die dramatische Handlung zur Hauptsache ward, während der C. selbst mehr und mehr zurücktrat und die Rolle eines teilnehmenden Zeugen der Handlung, gleichsam des „idealisierten Zuschauers“, übernahm. Die einzelnen Momente dieses Entwickelungsganges vermögen wir nicht mehr zu verfolgen; wir können aus Äschylos nur abnehmen, welche Beschaffenheit und Bedeutung der C. in der attischen Tragödie bereits gewonnen hatte. Er erscheint hier als eine Anzahl von 12 oder 15 Personen, die meist im Charakter von erfahrenen und verständigen Männern oder Frauen auftreten und, zu den Personen des Dramas in irgend einer Beziehung stehend, die Handlung teilnehmend begleiten, ausnahmsweise auch thätig in dieselbe eingreifen (z. B. in der Schlußszene von Äschylos’ „Agamemnon“ und in der Szene zwischen Kilissa und dem C. im „Totenopfer“). In den Pausen der Handlung, gleichsam in den Zwischenakten, überläßt er sich seinen Betrachtungen in lyrischen Ergüssen, welche auf die Handlung Bezug haben und auf dieselbe einwirken sollen. Die zu einem C. erforderlichen Personen (Choreuten) zusammenzubringen, zu besolden, von einem Gesang- und Tanzlehrer (Chorodidaskalos) einüben zu lassen, während der Zeit zu beköstigen und schließlich zur Aufführung mit der nötigen, oft prachtvollen Ausrüstung zu versehen, war eine der sogen. Staatsleistungen und kam einem vermögenden Bürger, dem Choregen, zu, den erforderlichen Falls der Archon bestimmte, und dem seine Obliegenheit somit nicht bloß Mühe und Beschwerde, sondern auch bedeutende Kosten verursachte (s. Choregie). Bei der Aufführung des Stücks zogen die Choreuten feierlich unter Vortritt der Flötenspieler, gewöhnlich nachdem das Spiel schon begonnen, in das Theater und nahmen ihren Platz in der Orchestra ein. Nur in den „Schutzflehenden“ und den „Persern“ des Äschylos beginnt der C. selbst das Stück; sonst geht dem ersten Gesang des Chors ein Monolog oder Dialog vorher. Meist rechts vom Zuschauer die Orchestra betretend, stellte er sich zu 3 Personen neben- und 5 hintereinander oder umgekehrt auf, in der Mitte der Reihe der Chorführer. Je nach Beschaffenheit des Dramas und der Gesänge veränderte der C. wohl auch im Lauf des Stücks Platz und Stellung. Nur während des Dialogs auf der Bühne verhielt er sich still, und wo er in diesen eingriff, sprach der Chorführer in seinem Namen. Häufig teilte er sich in zwei Halbchöre, und zuweilen führte er auch künstliche Bewegungen und wirkliche Tänze unter Flötenbegleitung aus. Was die chorische Poesie, die hier zum Vortrag kam, betrifft, so hieß der erste gemeinschaftliche Gesang beim Erscheinen des Chors auf der Bühne Parodos, jeder folgende Stasimon; beide waren antistrophisch, d. h. es folgte auf den ersten Gesang, die Strophe, ein zweiter von gleich viel Versen in demselben Versmaß, die Antistrophe, oder, wenn der Chorgesang länger war, auf jede von [71] der vorigen im Versmaß verschiedene Strophe eine mit ihr übereinstimmende Gegenstrophe. Den Strophen und Gegenstrophen folgt bisweilen noch eine besondere Strophe als Ab- oder Schlußgesang (Epodos), dem aber keine Gegenstrophe entspricht. Diese Gesänge wurden entweder alle von dem ganzen C. gesungen, oder Strophe und Gegenstrophe von den Halbchören und der Schlußgesang (Epodos) vom ganzen C. oder umgekehrt, und zwar mit abwechselnden Stellungen. Die tragischen Dichter verwandten auf die symmetrische Gestaltung dieser Gesänge eine solche Sorgfalt, daß bisweilen sogar in Stellung und Gleichklang der Worte sowie im Eintritt des Personenwechsels eine Übereinstimmung zwischen Strophe und Gegenstrophe bemerkbar ist. Die Versmaße der Chorlieder sind dabei höchst verschieden, von der gänzlichen Ungebundenheit der Prosa durch den schon bühnenfähigen iambischen Trimeter (und trochäischen Tetrameter) hindurch bis zur gesteigertsten Mannigfaltigkeit der Pindarischen Rhythmen. Dem Inhalt nach sind die Gesänge des tragischen Chors auf Erweckung der höchsten Ideen und Gefühle gerichtet; sie schließen sich, wie schon erwähnt, stets an die Handlung an (wenigstens bei Äschylos und Sophokles, dem Meister in der Gestaltung des Chors; zuerst Euripides erlaubt sich, den C. Lieder anstimmen zu lassen, die ganz außer Beziehung zur Fabel des Stücks stehen) und äußern, was sich aus dem Vorgang derselben aufdrängt: Klage oder Jubel, Warnung oder Trost, Belehrung über die Leidenschaften und die stets waltende Gerechtigkeit der Götter, Hymnen, Gebete etc. So trat der C. als Sprecher der Menschheit mahnend und vermittelnd zwischen die Menschen und das Schicksal, und indem er die handelnden Personen durch alle im Verlauf der Tragödie ihnen zustoßenden Schicksale begleitete, half er dem Helden des Stücks in Handeln und Leiden sich läutern, ja verklären, während er zugleich den Zuschauer in die Region der Betrachtung emporführte und ihn das Ganze seiner sittlichen Tiefe nach zu erfassen lehrte. Die tragischen Chöre sind neben den Siegeshymnen des Pindar, mit denen namentlich die Chorlieder des Äschylos große Ähnlichkeit haben, die schönsten und erhabensten Reste der griechischen Lyrik. Weit weniger wissen wir über den C. in den Satyrspielen. Nach Tzetzes war die Anzahl der Personen der des tragischen gleich. In dem einzig erhaltenen Stück, dem „Kyklops“ des Euripides, bestand der C. aus Satyrn unter Anführung des Silenus; die Szene war stets in Hainen und Wäldern, ihrem gewöhnlichen Aufenthalt. Auch die Komödie, die ebenfalls aus dionysischen Festgesängen, besonders bei der volkstümlichen Feier der Weinlese, hervorgegangen war, hatte in der ältern Zeit ihren C., und zwar bestand derselbe aus 24 Personen. Da aber die Auffassung des Lächerlichen irgend ein Steigen in die Tiefe nicht erforderte, so hatte der komische C. nach der einen Seite (den richtigen Zuschauer zu machen) nicht viel zu thun; auch paßte dies als viel zu ernst für die komische Handlung nicht. Gerade das aber war Anlaß, daß der C. hier der Handlung wie anderseits dem Zuschauer noch näher trat. Wir sehen ihn daher selbsthandelnd in die Thorheiten der Helden verwickelt; ja, wo das nicht der Fall, da ist seine Erscheinung selbst die Personifizierung des schlechten Zeitgeistes oder Zeitgeschmacks, den der Dichter geißeln will, z. B. in den „Wolken“ (Nebelei der Sophisten), den „Vögeln“ (politische Luftschlösser) etc. Anderseits schuf sich die Komödie einen sich an die Zuschauer wendenden Teil, die Parabase, welche in halb launiger, halb würdevoller Sprache, aber mit ernster Tendenz und in einer Weise abgefaßt war, welche die Komödie noch in einen neuen Gegensatz zu der Tragödie stellte, insofern hier die Person des Dichters gelegentlich stark hervortrat. Die Parabase zählte, wenn vollständig, sieben Schwenkungen und ebenso viele Teile des Gesangs, obgleich nicht in jeder Komödie alle sieben vollständig vorkommen mußten. Der erste Teil ist das Kommation, ein Liedchen, welches der C. noch in der alten Stellung sang und das Wünsche für Schauspieler enthielt. Hierauf begann die eigentliche Parabase in der Umschwenkung zu den Zuschauern, um zu diesen in Anapästen über den Dichter oder eine sonstige Angelegenheit zu sprechen. Sie schloß mit einem kurzen, dem Inhalt nach mit ihr zusammenhängenden und in demselben Versmaß, aber kürzern Versen abgefaßten Lied, Makron oder Pnigos genannt. Hierauf erfolgte eine neue Schwenkung, wobei ein Lied an einen Gott (Strophe, auch Ode genannt) vorgetragen wurde, dem metrisch und dem Inhalt nach eine Antistrophe oder Antode entsprach. Zwischen beide aber ward das Epirrhema, eine im trochäischen Versmaß an die Zuschauer gerichtete Anrede patriotischen oder litterarischen Inhalts, eingeschoben, welchem nach der Antistrophe ein Antepirrhema folgte. In den letzten Stücken des Aristophanes, von denen wir nur noch den „Plutos“ besitzen, fehlt die Parabase schon, während der C., wiewohl ganz bedeutungslos, noch besteht. Mit dem Untergang der Freiheit Griechenlands verschwand endlich aus politischen wie ökonomischen Gründen auch der C. selbst; die jüngere attische Komödie hat ihn bereits nicht mehr. Übrigens war die Ausstattung des komischen Chors weniger kostspielig als die des tragischen. Der Chorführer, welcher bei den dramatischen Wettkämpfen den Sieg davontrug, erhielt als Preis einen Kranz und einen kunstvoll gearbeiteten Dreifuß, den er als Denkmal seines Siegs, mit einer Inschrift versehen, einer Gottheit weihte oder auf einem eigens dazu errichteten tempelartigen Bau öffentlich aufstellte. Viele dergleichen Denkmäler enthielt die danach benannte Dreifuß- oder Tripodenstraße zu Athen (s. Choregische Monumente).

Bei dem Charakter dieses antiken Chors, der ganz im öffentlichen Leben des griechischen Volkes wurzelte, ist nicht zu verwundern, daß Nachbildungen, wie sie z. B. Schiller in der „Braut von Messina“ versuchte, keinen allgemeinen Anklang fanden. Mehr Glück machten in Platens (freilich nur gelesenen) aristophanischen Stücken die Parabasen, obwohl auch sie als vorwiegend litterarischen Inhalts nur in den entsprechenden Kreisen.

Chor, in der Musik zunächst eine Vereinigung mehrerer Personen zum gemeinschaftlichen Vortrag eines Gesangstücks (Sängerchor). Je nach den Stimmbestandteilen, aus denen ein solcher zusammengesetzt ist, kann er sein: Männerchor, der aus lauter männlichen Stimmen (Tenoren und Bässen), Frauenchor, der aus lauter weiblichen Stimmen (Sopranen und Alten) besteht, und gemischter, auch vollständiger C., bei dem alle vier menschlichen Stimmgattungen (Sopran, Alt, Tenor und Baß) beteiligt sind. Jede einzelne diese Stimmgattungen kann wieder in Unterabteilungen (erster und zweiter Sopran etc.) zerfallen, je nachdem dieses zur Ausführung eines mehrstimmigen Chorgesangs erforderlich ist. Metonymisch bedeutet C. auch das Musikstück selbst, welches bestimmt ist, von einem Verein von Sängern vorgetragen zu werden, und welches daher in der Regel für mehrere harmonisch sich vereinigende Stimmen [72] (Tonreihen) komponiert ist. Nach der Anzahl dieser Stimmen sind die Chöre weniger- oder mehrstimmig; dieselben können vom einstimmigen bis zum achtstimmigen, ja zuweilen noch weiter fortschreiten. Sind die vielstimmigen Chöre so eingerichtet, daß dieselben in selbständigen Gruppen sich darstellen, so entstehen die Doppelchöre, die dreifachen, vierfachen etc. Chöre. Am gewöhnlichsten sind die vierstimmigen Chöre, weil der vierstimmige Satz den vier Gattungen der menschlichen Stimme am natürlichsten entspricht, und weil er für die Vollständigkeit der Harmonie der geeignetste ist. Zu den Chören kann Instrumentalbegleitung hinzutreten, welche entweder eine bloß die einzelnen Stimmen verstärkende oder eine selbständige ist; doch muß auch im letztern Fall die Begleitung als dem Gesang untergeordnet betrachtet werden. Beethoven führt in seiner 9. Symphonie (Op. 125) den C. (mit Soli) als Steigerung der Orchesterwirkung ein. Da ein C. immer in Massen, im Gegensatz zu der im Sologesang mehr hervortretenden Individualität, wirkt, so verlangt er darum auch weniger fein detaillierte Züge und möglichst wenig Schwierigkeiten für die Ausführung, weshalb feinere Züge da, wo sie in einen C. eingewebt werden sollen, am füglichsten durch Zwischensätze von Solostimmen ausgesprochen werden. – Von dem kirchlichen Sängerchor ging der Name C. auch auf den Platz vor der Orgel über, wo derselbe aufgestellt wurde. Ebenso heißt eine Vereinigung von Instrumentenspielern ein C., wie man z. B. ein kleines Orchester ein Musikchor (oder Musikkorps) nennt. Innerhalb des Orchesters werden wieder die Hauptabteilungen der Instrumente nach ihren Gattungsbegriffen Chöre genannt, und man spricht z. B. vom C. der Streich- und dem der Blasinstrumente, welch letztere wieder in den C. der Holz- und den der Blechinstrumente zerfallen. Bei Militärmusikchören (-korps) spricht man von Hoboistenchören, wenn die Zusammensetzung zumeist aus Holzblasinstrumenten besteht, und von Trompeter- und Hornistenchören, wenn ausschließlich Blechinstrumente zusammengestellt sind. Ferner heißt C. bei Klavierinstrumenten der Inbegriff gleichgestimmter Saiten, welche durch eine einzige Taste angeschlagen werden. Man nennt solche Instrumente zwei-, drei- oder mehrchörig, je nachdem zwei, drei oder mehr Saiten zur Hervorbringung eines und desselben Tons bestimmt sind und mit Einem Hammer angeschlagen werden. In demselben Sinne nennt man auch im allgemeinen sämtliche zu einer und derselben Taste gehörende Pfeifen der Orgelregister ein C. (Pfeifenchor); insbesondere werden die zu einer Taste gehörenden Pfeifen der Orgelmixturen Chöre genannt.

Chor (das oder der), in der kirchlichen Baukunst derjenige Teil eines Kirchengebäudes, wo der Hauptaltar steht, und der für die Priester bestimmt ist, im Gegensatz zum Schiff, das der Gemeinde zur Versammlung dient und von jenem durch den sogen. Triumphbogen und eine aufsteigende Stufenreihe (daher auch hohes C. genannt), bisweilen auch durch Schranken (Kanzellen) abgesondert ist (s. Chorschranken). Ein bedeutend erhöhtes C. läßt stets auf das Vorhandensein einer darunter befindlichen Krypte (s. d.) schließen. Mit der Anlage des Chors begannen in der Regel die mittelalterlichen Kirchenbauten. In Dom- und Stiftskirchen sind an den Seiten des Chors die meist aus Holz geschnitzten Sitze für die vornehme Geistlichkeit (s. Chorstühle) angebracht. An allen Kirchenbauten aus dem Mittelalter erscheint das C. als ein besonderer, an der östlichen Seite des Hauptbaues angebrachter, bei romanischen Kirchen gewöhnlich halbrunder, bei gotischen Kirchen fünf-, sieben- oder mehreckiger, bisweilen noch mit einem Chorumgang oder Kapellenkranz umgebener Anbau, der sich meist schon äußerlich durch reichere Formen auszeichnet. Den Namen C. führt außerdem in katholischen wie in protestantischen Kirchen auch der für Sänger und Musiker bestimmte Raum vor der Orgel, welcher gewöhnlich dem Altar gegenüberliegt.