Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Chemīe“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 3 (1886), Seite 977986
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Chemīe. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 3, Seite 977–986. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Chem%C4%ABe (Version vom 13.12.2021)

[977] Chemīe, die Wissenschaft von der stofflichen Verschiedenheit der Körper; sie lehrt, aus welchen einfachern Stoffen die Körper bestehen, wie sie in diese stofflich verschiedenen Bestandteile zersetzt, geschieden (daher Scheidekunst), und wie sie aus denselben zusammengesetzt werden können. Wenn man Siegellack, Glas oder Schwefel mit einem Tuch reibt, so erhalten sie die Eigenschaft, leichte Körper, wie Papierschnitzel u. dgl., anzuziehen; ein mit einem Magnetstab gestrichener Stahlstab wird selbst magnetisch, zieht Eisen an und nimmt, wenn man ihn in horizontaler Ebene frei schwebend aufhängt, eine nordsüdliche Richtung ein. Schwefel schmilzt beim Erhitzen in einem abgeschlossenen Raum, beginnt zu sieden, verdampft [978] und verdichtet sich, wenn der Dampf abgekühlt wird, zu einem zarten Pulver. In allen diesen Fällen bleiben aber die genannten Substanzen stofflich unverändert, das geriebene Glas verliert allmählich wieder die Elektrizität, der magnetisierte Stahlstab ist nach wie vor Stahl, und das zarte, aus Schwefeldampf verdichtete Pulver ist unveränderter Schwefel. Alle diese Erscheinungen gehören ins Gebiet der Physik, welche sich außerdem auch mit den Gesetzen der Bewegung, mit der Härte, Festigkeit und Ausdehnung, dem spezifischen Gewicht und dem Leitungsvermögen der Körper für Wärme und Elektrizität beschäftigt. Die Erscheinungen, deren Erforschung der C. zufällt, sind dagegen ganz andrer Art. Der geruchlose Schwefel, in einem Schälchen an der Luft stark erhitzt, entzündet sich, brennt mit blauer Flamme, verbreitet erstickenden Geruch und verschwindet vollständig. Ein Stück Eisen rostet an der Lust und verwandelt sich allmählich vollständig in Rost, welcher nichts mehr von den das Metall charakterisierenden Eigenschaften erkennen läßt. Übergießt man Eisen mit verdünnter Schwefelsäure, so löst es sich darin unter Entwickelung eines brennbaren Gases, und beim Verdampfen der grünen Lösung bleibt nicht metallisches Eisen, sondern ein grünes Salz zurück. Alle diese Vorgänge sind chemischer Natur, es ändert sich bei ihnen die stoffliche Natur der Körper, und die Produkte lassen auf den ersten Blick ihre Abstammung nicht erraten. Wägt man ein Stück Eisen und nach dem Rosten, Glühen oder Auflösen in Schwefelsäure den entstandenen Rost, den Hammerschlag oder das grüne Salz, so ergibt sich eine bedeutende Gewichtszunahme. Es hat sich bei diesen Vorgängen das Eisen mit einem andern Stoffe verbunden; aber die Partikelchen der entstandenen Produkte lassen auch unter der stärksten Vergrößerung niemals ungleichartige Teilchen erkennen. Im Rost hat nicht nur das Eisen, sondern auch der Körper, mit welchem sich dieses verband, alle seine Eigenschaften eingebüßt, und es ist ein vollkommen gleichartiger neuer Körper entstanden. Mischt man Schwefel mit Eisenpulver sehr innig, so lassen sich mit Hilfe des Magnets, des Mikroskops oder des Wassers die Bestandteile dieses Gemisches sicher unterscheiden. Erhitzt man aber das Gemenge, so tritt ein Moment ein, in welchem sich Schwefel und Eisen unter glänzender Feuererscheinung chemisch miteinander verbinden, und nun sind beide Körper nicht mehr mechanisch voneinander zu trennen, es ist ein gleichartiger Körper mit ganz neuen Eigenschaften entstanden, und nur durch chemische Mittel lassen sich seine Bestandteile erforschen. Wenn man Kalkstein mit Säure übergießt, so braust er lebhaft auf, und es entweicht ein säuerlich riechendes Gas. Erhitzt man ein gewogenes Stück Kalkstein hinreichend stark, so ergibt eine abermalige Wägung einen bedeutenden Gewichtsverlust. Der gebrannte Kalk braust nicht mehr beim Übergießen mit Säure, und wir schließen, daß beim Erhitzen jenes säuerlich riechende Gas sich von dem Kalk getrennt hat. Hier fand eine chemische Zersetzung statt, der Kalkstein lieferte ein Gas und einen neuen Körper, der sich beim Übergießen mit Wasser sehr stark erhitzt und zu Pulver zerfällt. Dies vollkommen trockne Pulver wiegt wieder bedeutend mehr als der gebrannte Kalk, der letztere hat sich beim Löschen chemisch mit dem Wasser verbunden, und durch kein noch so scharfes Trocknen ist das chemisch gebundene Wasser auszutreiben. Dagegen entweicht es alsbald, wenn man gasförmige Kohlensäure auf den gelöschten Kalk einwirken läßt; in einem geeigneten Apparat ist es leicht sichtbar zu machen, und das Pulver, welches nun zurückbleibt, zeigt wieder die Eigenschaft des Kalksteins, beim Übergießen mit Säuren zu brausen, es ist regenerierter Kalkstein.

Die Erforschung von Vorgängen wie die geschilderten bildet die Aufgabe der C. Um sie zu lösen, bedarf es vor allem einer genauen Kenntnis von den Bestandteilen der Körper, mit deren Wandlungen man sich beschäftigen will. Diese Kenntnis verschafft die analytische C. Sie läßt auf Naturprodukte und künstlich dargestellte Stoffe andre Körper einwirken, beobachtet die dabei auftretenden Erscheinungen und schließt aus diesen auf die Gegenwart oder Abwesenheit bestimmter Bestandteile. Im Handel findet sich z. B. ein blaues Salz, welches in keiner Weise dem Blick verrät, woraus es besteht. Löst man es in Wasser und stellt ein Stück blanken Stahl hinein, so bedeckt sich der Stahl mit einer roten metallischen Haut, welche immer stärker wird, es bilden sich metallische Flitterchen, und die Lösung wird fast farblos. Das blaue Salz ist zersetzt, und als ein Bestandteil desselben ist Kupfer erkannt. Fügt man zu einer andern Probe der Lösung einige Tropfen Chlorbaryumlösung, so scheidet sich ein weißes Pulver aus, welches auf die Gegenwart von Schwefelsäure in dem blauen Salz deutet. Weitere systematisch angestellte Proben geben Gewißheit, ob noch andre Stoffe vorhanden sind oder nicht, und nach Beendigung der qualitativen Analyse weiß man genau, woraus das blaue Salz besteht. Wägt man das ausgeschiedene Kupfer und den weißen Niederschlag, welchen Chlorbaryum erzeugt hat, so kann auch die quantitative Zusammensetzung des Salzes berechnet werden. Indem die analytische C. auf solche Weise die Zusammensetzung der Körper erforschte, stieß sie zuletzt auf gewisse Substanzen, welche jeder Kunst der Zerlegung oder Zersetzung spotteten. Diese Körper betrachtet man als chemisch einfache oder Elemente, und die quantitative Analyse hat gelehrt, daß sie sich immer nur in ganz bestimmten Verhältnissen miteinander verbinden. Die quantitative Analyse hat in 64 Gewichtsteilen schwefliger Säure 32 Teile Schwefel und 32 Teile Sauerstoff nachgewiesen. Schweflige Säure entsteht beim Verbrennen von Schwefel an der Luft. Mag die Verbrennung nun langsam oder mit höchster Intensität verlaufen, mag nur gerade die nötige Menge oder ein sehr großer Überschuß von Sauerstoff (einem Bestandteil der Luft) vorhanden sein: stets werden sich 32 Teile Schwefel mit nicht mehr und nicht weniger als 32 Teilen Sauerstoff verbinden. Unter bestimmten Verhältnissen nimmt freilich der Schwefel noch mehr Sauerstoff auf, dann aber nicht etwa 33 oder 34 Teile, sondern 32 + 16 Teile. Nun verbinden sich 16 Teile Sauerstoff auch mit 56 Teilen Eisen, und diese selbe Menge Eisen verbindet sich mit 32 Teilen, aber auch mit 2 × 32 Teilen Schwefel. Diese auf analytischem Wege gewonnenen Resultate wurden durch die synthetische C. bestätigt, welche sich mit der Herstellung chemischer Verbindungen beschäftigt. Es ist gelungen, sehr viele der im Mineralreich, in Pflanzen und Tieren vorkommenden Verbindungen künstlich zu erzeugen; aber noch größer ist die Zahl solcher Verbindungen, welche erst durch das chemische Experiment bekannt geworden sind und niemals in der Natur vorkommen, weil die Bedingungen zu ihrer Entstehung dort nicht gegeben sind. Der Chemiker stellt diese Bedingungen künstlich her, und indem er denselben die verschiedensten Stoffe unterwirft, stellt er Fragen an die Natur, auf welche die Antwort niemals ausbleibt. Es kommt aber alles darauf an, wie die Fragen gestellt werden, und hierin zeigt sich die Genialität des großen Chemikers, [979] welcher die Wissenschaft oft durch ein einziges Experiment mächtig fördert. Es erscheint als die nächste Aufgabe der synthetischen C., möglichst zahlreiche Verbindungen der einzelnen Elemente zusammenzusetzen und ihre Eigenschaften zu studieren; denn erst dann kann man von einer befriedigenden Kenntnis eines Elements sprechen, wenn man nach den verschiedensten Seiten hin sein Verhalten gegen andre Elemente und Verbindungen erforscht hat. Die Zahl der möglichen Verbindungen ist aber eine so überwältigend große, daß an eine Erschöpfung gar nicht gedacht werden kann. Schon jetzt sind viele Tausende von neuen Körpern beschrieben worden, und ihre Zahl wächst täglich. Aber es ist eine große Wandlung in den Ansichten und Absichten der Chemiker eingetreten. Man verwirft heute das Streben entdeckungslustiger Laboranten, welchen es nur um Darstellung vieler bis dahin unbekannter Verbindungen zu thun ist, und man verlangt im Gegenteil vom denkenden Chemiker, daß er sein Streben auf die Beantwortung allgemeiner Fragen richte, auf die Darlegung gesetzmäßiger Beziehungen zwischen bekannten Körpern und auf die Erforschung der wahren Natur der dargestellten Verbindungen. Die ganze heutige C. basiert auf der Annahme, daß die Körper aus unteilbaren kleinsten Teilchen bestehen, aus Atomen, welche zwar nicht isolierbar sind, deren Gewicht sich aber durch Erforschung der quantitativen Zusammensetzung der Körper bestimmen läßt. Wenn 1 Atom Sauerstoff 16 wiegt, so wiegt 1 Atom Schwefel 32 (s. oben), und wir haben gesehen, daß schweflige Säure, jenes Gas, welches sich beim Verbrennen des Schwefels durch seinen erstickenden Geruch bemerkbar macht, aus 1 Atom Schwefel und 2 Atomen Sauerstoff besteht. Eine sauerstoffreichere Schwefelverbindung, die Schwefelsäure, enthält auf 1 Atom Schwefel 3 Atome Sauerstoff. Ein Atom Eisen bildet mit 1 Atom Sauerstoff Eisenoxydul, während 2 Atome Eisen mit 3 Atomen Sauerstoff zu Eisenoxyd sich vereinigen. Dies sind sehr einfache Verhältnisse, aber es gibt auch viel kompliziertere, und es besteht z. B. das Alkaloid der Chinarinde, das Chinin, aus 20 Atomen Kohlenstoff, 24 Atomen Wasserstoff, 2 Atomen Stickstoff und 2 Atomen Sauerstoff. Offenbar ist mit dieser Erkenntnis schon viel gewonnen, aber bei weitem noch nicht alles. Man muß auch wissen, wie jene Atome gruppiert sind. Die Notwendigkeit solcher Kenntnis zeigen recht deutlich die isomeren Körper, d. h. diejenigen, welche bei gleicher prozentischer Zusammensetzung sehr ungleiche Eigenschaften besitzen. Essigäther und Buttersäure ergeben bei der Analyse eine Zusammensetzung aus 4 Atomen Kohlenstoff, 8 Atomen Wasserstoff und 2 Atomen Sauerstoff; aber durch Geruch und Geschmack, spezifisches Gewicht, Siedepunkt und ihr Verhalten gegen andre Körper unterscheiden sie sich auf das deutlichste, und dies Rätsel kann nur gelöst werden, wenn man erforscht, in welchen nähern Beziehungen die Bestandteile der beiden Körper zu einander stehen. Dann ergeben sich charakteristische Atomgruppen, welche die Natur der einzelnen Verbindungen bestimmen und ihr Verhalten zu andern Körpern voraussehen lassen. Die Erforschung solcher Verhältnisse, der Konstitution oder Struktur der Verbindungen, ist die jetzt am eifrigsten gepflegte Aufgabe der wissenschaftlichen C., und die Resultate, welche auf diesem Gebiet gewonnen wurden, sind höchst bedeutende. Wie einst der Astronom Leverrier aus theoretischen Erwägungen die Existenz eines Planeten nachwies, der dann auch von Galle an dem durch Rechnung gefundenen Ort entdeckt wurde, so haben die Chemiker in zahlreichen Fällen Verbindungen hergestellt, deren Existenz, ja deren Eigenschaften sie im voraus berechnet hatten. Diese höchsten Leistungen der speziellen, praktischen oder Experimentalchemie sind nur ermöglicht worden durch eifrige Pflege der theoretischen oder allgemeinen C., welche das Aufsuchen des Gemeinsamen, des Gesetzmäßigen in thatsächlich festgestellten Erscheinungen, die Erkenntnis des Zusammenhanges verschiedener Erscheinungen, die Erklärung der Erscheinungen zur Aufgabe hat. Scharf zu trennen sind aber die theoretische und die spezielle C. nicht. Spezielle chemische Thatsachen müssen als Beweise und Beispiele für die Sätze der theoretischen C. angeführt und erörtert werden; die Sätze der theoretischen C. geben umgekehrt oft die Kontrolle für die Richtigkeit einzelner Bestimmungen ab, welche zunächst für die spezielle Erkenntnis einer einzelnen Substanz ausgeführt wurden. Ebenso ist auch die Betrachtung der physikalischen Eigenschaften von der der chemischen nicht scharf zu trennen, weder in der speziellen noch in der theoretischen C. Die Angabe der physikalischen Eigenschaften ist fast unerläßlich, wenn überhaupt eine Vorstellung von einem bestimmten Körper, auch nur um seine chemischen Eigenschaften zu beschreiben, gegeben werden soll. Häufig ist ein Zusammenhang zwischen den physikalischen Eigenschaften und der chemischen Zusammensetzung nachweisbar, und eine genaue Bestimmung der erstern kann in manchen Fällen eine Kontrolle für die richtige Ermittelung der letztern abgeben, so daß die Kenntnis der physikalischen Eigenschaften geradezu als die der chemischen Eigenschaften bestätigend betrachtet werden kann. Diese Beziehungen zwischen chemischen und physikalischen Eigenschaften erforscht die physikalische C.

Der auf alltägliche Beobachtung basierte große Gegensatz zwischen belebten, organisierten, und toten, unorganisierten, Körpern führte auch zu einer Einteilung der speziellen C. in organische und unorganische. Letztere ist die Mineralchemie, sie handelt von den Eigenschaften der die Mineralien, die toten Körper, zusammensetzenden Stoffe, von deren Verbindungen und Zersetzungen, während die organische C. sich mit den Stoffen beschäftigt, aus denen Pflanzen und Tiere bestehen, welche also als Produkte des animalischen und vegetabilischen Lebens zu betrachten sind. Kompliziertheit der chemischen Vorgänge in den Organismen entzog dieselben lange Zeit und entzieht sie zum großen Teil auch noch heute dem vollkommenen Verständnis, und dies veranlaßte die Chemiker zu der Annahme, daß die Elemente in den lebenden Organismen andern Gesetzen gehorchen als in der unbelebten Natur: man sprach von einer Lebenskraft, welche die Verbindungen und Zersetzungen modifiziere, und betrachtete den Tod als den Sieg des Chemismus über die Lebenskraft. Die unter der Herrschaft dieser Lebenskraft entstehenden Verbindungen hielt man deshalb auch für ganz eigentümliche und nahm als selbstverständlich an, daß es niemals gelingen könne, sie außerhalb des Organismus künstlich darzustellen. Nun gelang es aber Wöhler 1828, den Harnstoff aus den Elementen zusammenzusetzen, und seitdem sind sehr zahlreiche organische Verbindungen, Pflanzen- und Tierstoffe, aus unorganischen Körpern durch Synthese gewonnen worden. Sämtliche Bestandteile der Pflanzen und Tiere bis auf das Wasser und die als Asche beim Verbrennen zurückbleibenden bestehen aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, einige enthalten außerdem Stickstoff; aber es gibt auch Verbindungen des Kohlenstoffs, welche im Mineralreich vorkommen, und einige sehr [980] einfache entstehen niemals in lebenden Organismen. Ließ man die Einteilung in organische und unorganische C. fallen, so konnte man dafür eine andre, nach welcher die Verbindungen des Kohlenstoffs von denen der übrigen Elemente gesondert behandelt werden sollten, wenigstens in dem oben angedeuteten Sinn, auch nicht aufrecht erhalten; wohl aber hat man ohne alle Rücksichtnahme auf das Vorkommen oder Nichtvorkommen der Stoffe in Organismen die Kohlenstoffverbindungen, welche so ungemein zahlreich sind und vielfach andre Erscheinungen darbieten, für sich behandelt, und an ihrem Studium hat die C. einige ihrer größten Fortschritte gemacht. Die neuen Theorien sind zunächst speziell für die Kohlenstoffverbindungen ausgebildet und erst später auf die sogen. unorganische C. angewendet worden. Daß aber der Kohlenstoff nicht in einem besondern Gegensatz zu den übrigen Elementen sich befindet, zeigen jene Verbindungen, in welchen Metalle, Phosphor, Antimon, Arsen etc. in Kohlenstoffverbindungen eintreten, um Körper zu bilden, welche stickstoffhaltigen Kohlenstoffverbindungen an die Seite gestellt werden können. Besonders aber bilden die Kiesel- oder Siliciumverbindungen einen unmittelbaren Übergang. Es ist nämlich eine Reihe von Körpern dargestellt worden, welche ganz genau gut studierten Kohlenstoffverbindungen entsprechen, aber an Stelle der Kohlenstoffatome gleich viele Kieselatome enthalten. Man kennt eine Kieselessigsäure, Kieselpropionsäure, Kieselbenzoesäure und auch zusammengesetzte Äther dieser Säuren.

Der reinen C., welche sich lediglich der Erforschung der chemischen Verhältnisse der Elemente und ihrer Verbindungen widmet, steht die angewandte C. gegenüber, welche die bei andern Disziplinen in Betracht kommenden chemischen Verhältnisse kennen lehrt. Sie hat einen ungemein großen Umfang, denn die C. tritt als Hilfswissenschaft sehr vieler andern Wissenschaften auf, und fast alle verdanken ihr einen großen Teil ihrer Erfolge. Die C. lehrt die Zusammensetzung der Mineralien und ihre Wandlungen durch die in den Gesteinen verlaufenden chemischen Prozesse. In der Geologie datiert eine neue Epoche von jener Zeit, wo man anfing, bei der Deutung geologischer Erscheinungen die C. zu Rate ziehen. Und nicht bloß mit unserm Erdkörper hat sich die C. in solcher Weise beschäftigt, sie wurde durch die Spektralanalyse auch befähigt, ferne Weltkörper und die Nebelflecke zu untersuchen, und hat in dieser Anwendung auf die Astronomie eine ganz neue Wissenschaft begründet. Die Pflanzenchemie lehrt die Bestandteile der Pflanzen kennen, erforscht deren Bildung und Umwandlung in der Pflanze und gewährt uns damit eine Vorstellung vom Leben dieser Organismen. Dabei kommen auch das Verhältnis der Pflanze zum Boden und die C. des letztern in Betracht, und so entsteht die Agrikulturchemie, deren Ergebnisse als eine der wesentlichsten Grundlagen der modernen rationellen Landwirtschaft gelten können. Die Tierchemie verfolgt ähnliche Zwecke im Tierreich, sie befähigt den Landwirt, seine Haustiere rationell zu ernähren, um den größten Ertrag an Fleisch, Fett, Milch etc. zu erzielen; aber sie stellt sich auch höhere Aufgaben und sucht vor allem die Erscheinungen des Lebens zu deuten, auf chemische Verhältnisse, soweit solche dabei in Frage kommen, zurückzuführen. Die so durch die physiologische C. gewonnene Erkenntnis wird dann die Basis der Diätetik und der Heilkunde für Menschen und Tiere, denn auch die krankhaften Vorgänge bilden ein Objekt der Forschung, und indem man die chemische Natur dieser Vorgänge erkennt, ergibt sich in vielen Fällen zugleich das Mittel, durch welches sie bekämpft werden können. Die C. hat der Heilkunde reinere Arzneimittel geliefert, sie hat aus den Pflanzenstoffen die wirksamen Bestandteile abgeschieden und in diesen viel zuverlässigere Arzneimittel hergestellt, als die Kräuter und Rinden mit ihrem wechselnden Gehalt sein konnten. Sie hat aber auch ganz neue Heilmittel entdeckt, welche heute zum Teil die wichtigsten Dienste leisten. Chloroform, Chloralhydrat, Apomorphin, Amylnitrit sind einige solcher Präparate, deren Zahl sich von Jahr zu Jahr vergrößert. Die durch das Mikroskop ermöglichte Erforschung des feinsten Baues der Organismen mußte lange auf Unterscheidung der stofflichen Verschiedenheit der sichtbar gemachten morphotischen Teile verzichten, bis die Mikrochemie die Reagenzien auffand, welche, zu dem mikroskopischen Präparat hinzugefügt, charakteristische Färbungen hervorbringen. Auch die Gestalt und die Gruppierung mikroskopischer Kristalle boten Gelegenheit zur Unterscheidung minimaler Mengen verschiedener Körper. Mit großem Erfolg wurde die Mikrochemie auch für die mikroskopische Erforschung der Gesteine ausgebildet. Die Technik, welche so lange auf die roheste Empirie angewiesen war, hat durch die technische C. eine ganz neue Gestalt gewonnen. Die C. lehrte die Beschaffenheit der Rohstoffe kennen und ermöglichte eine passende Auswahl unter denselben; sie zeigte die Wandlungen dieser Rohstoffe in den verschiedenen technischen Prozessen und gab Rechenschaft über die Erfolge der einzelnen Methoden. Nicht alle Zweige der Technik haben sich gleich willig gezeigt, die C. als Führerin zu acceptieren; wo dies aber rückhaltlos geschah, sind außerordentliche Resultate erzielt worden. Ein glänzendes Beispiel bieten die Rübenzuckerfabrikation und die Farbentechnik, welche durch die zahlreichen schönen Teerfarbstoffe so wesentlich bereichert wurde. Der Technik kamen alle jene Forschungen zu gute, welche der künstlichen Darstellung von Pflanzenstoffen galten. Die Gewinnung des Alizarins oder Krappfarbstoffs aus dem im Steinkohlenteer enthaltenen Anthracen machte dem Krappbau ein Ende und ließ eine Anzahl von Fabriken entstehen, welche diesen Körper für die Färbereien und Druckereien herstellten. Auch Benzoesäure, Senföl, Baldriansäure etc. werden jetzt fabrikmäßig ohne Benzoegummi, Senfsamen und Baldrianwurzel gewonnen, und die neueste Entdeckung betrifft die Darstellung des Vanillearomas aus Nadelhölzern und des Indigos aus Steinkohlenteer. Die analytische C. leistet die wesentlichsten Dienste zur Beurteilung der Handelsartikel. Die Fabrikate der chemischen Großindustrie werden meist mit Angabe ihres Gehalts auf den Markt gebracht; auch für den Spiritus gilt derselbe Gebrauch, und der Konsument erhält dadurch eine Sicherheit, welche auf keine andre Weise zu erreichen ist. Nur durch eine öffentlich geübte chemisch-analytische Überwachung der Waren kann der vielfach überhandnehmenden Verfälschung wirksam vorgebeugt werden. Die C. weist genau den oft durch künstliche Mittel verdeckten wahren Wert der Handelsartikel nach und entlarvt den Schwindel, der sich besonders im Geheimmittelwesen breit macht. Hier beginnt auch das Gebiet der gerichtlichen C., welche das Verbrechen verfolgt, durch den Nachweis von Gift, Blut, Sperma etc. ein Corpus delicti von hoher Beweiskraft schafft, oder durch die Enthüllung der wahren Beschaffenheit einer Ware u. dgl. den Streit schlichtet.

[981] Der Chemiker bedarf zu seinen Arbeiten eines ziemlich umfangreichen Apparats. Derselbe besteht größtenteils aus Glas-, Porzellan- oder Metallgeräten und enthält Becher und Schalen, Cylinder, Trichter, Kochfläschchen, Retorten, Kolben, gerade und gebogene Röhren, zum Teil mit angeblasenen Kugeln, graduierte Röhren und solche, die mit verschiedenen absorbierenden Stoffen, besonders mit dem hygroskopischen Chlorcalcium, gefüllt sind, dann Gasometer, Aspiratoren, Luftpumpen, Papinianische Töpfe, Tiegel, Schmelz- und Glühöfen von verschiedener Form, Sand-, Wasser-, Metall- und Luftbäder, Trockenapparate, Spirituslampen oder mit Gas zu speisende Heizvorrichtungen, das Lötrohr, Zangen, Mörser etc., vor allem aber die Wage, durch welche in die Untersuchungen Sicherheit gebracht und viele Verhältnisse überhaupt erst erkennbar werden. Das chemische Laboratorium (s. Laboratorium) bietet Gelegenheit zur bequemen und möglichst vollkommenen Ausführung der Experimente und enthält alle Vorrichtungen, welche diese erleichtern und Schutz vor Gasen, Dämpfen etc. gewähren.

Geschichte der Chemie.

Über die ersten Anfänge der C. ist nichts Sicheres bekannt. Zweifellos sind chemische Prozesse zu irgend welchen Zwecken schon sehr früh ausgeführt worden, denn menschliche Thätigkeit ist überhaupt gar nicht denkbar, ohne daß die Körper, auf welche sie sich bezieht, mehr oder weniger chemisch verändert werden. Jede Verbrennung ist ein chemischer Prozeß, und die Gewinnung der Metalle aus ihren Erzen beruht gleichfalls auf chemischen Vorgängen. Von solchen und ähnlichen Arbeiten finden wir mehrfache Spuren bei allen Kulturvölkern schon in den ältesten Zeiten; aber in Ägypten scheint man zuerst chemische Thatsachen zusammengestellt und chemische Untersuchungen in solcher Weise ausgeführt zu haben, daß von einer Wissenschaft die Rede sein konnte. Man hat daher dem Namen der Wissenschaft, welchen einige vom griechischen cheo oder cheuo, ich gieße, ableiten wollen, auch mit Chemi, Cham, Chami, dem Namen, mit welchem die Ägypter ihr Land wegen seines schwarzen Erdreichs bezeichneten (Plutarch, De Iside et Osiride), in Verbindung gebracht. Mit demselben Wort bezeichnete man aber auch das Schwarze im Auge, das Symbol des Dunkeln und Verborgenen, und so bedeutete C. ursprünglich die ägyptische oder geheime Wissenschaft, wie sie später noch die geheime oder schwarze Kunst genannt wurde. Der Ausdruck Scientia chimiae findet sich schon bei Julius Firmicus Maternus, einem Schriftsteller, der zu Ende des 3. oder zu Anfang des 4. Jahrh. lebte, und Diokletian soll die Bücher der Ägypter „über die C. des Goldes und Silbers“ verbrannt haben; jedenfalls ging das alte Wissen größtenteils bei der Zerstörung der alexandrinischen Bibliothek (640) verloren, und wissenschaftliche Thätigkeit begann erst von neuem unter der Herrschaft der Araber. Dem Namen der Wissenschaft wurde der arabische Artikel al angefügt, und es begann das Zeitalter der Alchimie (s. d.). Die Lehren des Aristoteles, welche so viele Jahrhunderte hindurch das ganze geistige Leben beherrschten, gaben auch der Entwickelung der C. ihre Richtung an. Allem Seienden liegt nach Aristoteles der Urstoff (die Materie) zu Grunde; dieser ist das völlig Prädikatlose, Unbestimmte, Unterschiedslose, dasjenige, was allem Werdenden als Bleibendes zu Grunde liegt und die entgegengesetzten Formen annimmt, was aber selbst seinem Sein nach von allem Gewordenen verschieden ist und an sich gar keine bestimmte Form hat. Durch Zweijochung der Grundeigenschaften oder Gegensätze auf dem Urstoff entstehen die vier Elemente, die ihrer Art nach nicht weiter teilbaren Grundbestandteile der Körper, welche man gleichsam als Allotropien des Urstoffs betrachten könnte. Es sind:

Diese Elemente sind einfache materielle Körper, Träger gewisser physikalischer Eigenschaften und besitzen die Fähigkeit, durch Wechsel der Eigenschaften ineinander überzugehen. Gilt dies aber als feststehend, so kann alles aus allem werden, und von diesem Standpunkt aus hat man die Bestrebungen zu beurteilen, welche jahrhundertelang in der C. vorherrschten. Die Metalle mußten durch ihre Eigenschaften die Aufmerksamkeit von vornherein in hohem Grad fesseln, und so ist begreiflich, daß die Metallverwandlung, in erster Linie die Erzeugung von Gold, als Hauptaufgabe betrachtet wurde. Die Möglichkeit der Metallverwandlung mußte auch, abgesehen von allen theoretischen Spekulationen, den mit der Zusammensetzung der Körper nicht Vertrauten bei der Verarbeitung von Erzen ohnehin einleuchten, und in der That reichen die Bemühungen, Gold zu machen, bis in das höchste Altertum zurück. Die durch die Araber eingeleitete Periode der Alchimie ist aber ganz besonders durch die Herrschaft des Gedankens von der Möglichkeit der Metallverwandlung gekennzeichnet. Männer von unzweifelhaft hoher wissenschaftlicher Bedeutung sprechen aus voller Überzeugung von der Wahrheit der alchimistischen Theorie, und nichts berechtigt uns, eine absichtliche Täuschung anzunehmen. Man muß vielmehr an die unvollkommenen Hilfsmittel, die jenen zu Gebote standen, denken und begreift dann leicht, daß sie von Metallverwandlung sprachen, wenn sie aus Bleiglanz bei gewissen Operationen Silber erhielten; denn den geringen Silbergehalt des Bleiglanzes (den sie nur abzuscheiden brauchten) vermochten sie nicht zu erkennen. Es kommt noch hinzu, daß ein gewisser mystischer Zug, welcher jene Zeiten beherrschte, und dann auch der Eigennutz die allgemeine Verwertung der Erfahrungen des einzelnen verhinderten, so daß jeder ganz allein auf sein eignes Erkenntnisvermögen angewiesen blieb. Ein unwissenschaftlicher Geist kam erst in die Alchimie durch das Suchen nach dem „Stein der Weisen“, einer Substanz, durch welche man alle Metalle in Gold verwandeln und alle Krankheiten heilen könne (vgl. Alchimie). Unter allen Chemikern dieser Periode ragt der arabische Arzt Geber (Abu Musa Dschabir al Kufi), welcher im 8. Jahrh. in Kufa lebte, hervor. Er beschrieb Öfen zum Kalcinieren und Destillieren, kannte die Kupellation von Gold und Silber mittels Bleies, das Quecksilberchlorid und das rote Quecksilberoxyd, das salpetersaure Silberoxyd, Salmiak, Eisen- und Kupfervitriol, Pottasche und [982] Soda, machte die Sodalösung durch Kalk ätzend, löste Schwefel in Ätzlauge auf und schlug den Schwefel durch Säuren als Schwefelmilch nieder; er stellte Schwefelkupfer und Zinnober dar, gewann durch Destillation des Alauns die rauchende Schwefelsäure, durch Destillation von Salpeter mit Vitriol die Salpetersäure und aus Salpetersäure mit Salmiak das Königswasser, in welchem er Gold auflöste. Albertus Magnus (1193–1280) verbesserte die chemischen Manipulationen, stellte metallisches Arsenik dar, kannte rotes Bleioxyd, Schwefelleber und Schwefelkies, wußte, daß Kupfer durch Arsenik weiß wird, daß Schwefel alle Metalle bis auf das Gold angreift, und beschrieb auch die Darstellung des Schießpulvers. Roger Baco kannte den Braunstein und die Wirkungen des Schießpulvers. Ein andrer Zeitgenosse, Arnold Villanovanus aus der Provence, wurde wichtig durch die Anwendung chemischer Präparate als Heilmittel. Der phantastische Raymundus Lullus (geb. 1235) gab der Alchimie ihre spätere, bis in die Zeit der Rosenkreuzer hereinreichende theosophische Richtung; er stellte Salpetersäure aus Salpeter und Eisenvitriol dar, kannte ihre Eigenschaft, Metalle zu lösen, verstand, den Weingeist durch Pottasche stärker zu machen, und erhielt durch Destillation von Rosmarin mit Wasser ein ätherisches Öl. Wie bei diesem Forscher, findet sich auch bei Basilius Valentinus im 15. Jahrh. ein wunderbares und unverständliches Gemisch von Phantasterei und Aberglauben mit großem Geschick im Experimentieren und klarer Forschung vereinigt, so daß ihm die C. genauere Kenntnis schon bekannter Körper, wie namentlich des Antimons, bessere Methoden zur Darstellung schon bekannter Präparate, wie des Sublimats, und zahlreiche neue wichtige Verbindungen (Salzsäure, Ammoniak, Knallgold, Bleizucker, verschiedene Spießglanzpräparate), die sich im Arzneischatz zum Teil bis auf den heutigen Tag erhalten haben, ja selbst die ersten ausgebildeten Methoden qualitativer Analyse verdankt. Die Aristotelische Lehre fand durch die Alchimisten eine gewisse Ausbildung, sie nahmen Schwefel und Quecksilber als nähere Bestandteile der Metalle an; Basilius Valentinus fügte als dritten Bestandteil nicht nur der Metalle, sondern der Körper aller drei Naturreiche das Salz hinzu und sah die Verschiedenheit der Körper in der ungleichen Proportion, Reinheit und Fixation der Bestandteile begründet. Letztere, welche nicht mit dem metallischen Quecksilber, dem gewöhnlichen Schwefel und gemeinen Salz identisch sind, bestehen aus den Aristotelischen Elementen.

Die C., die bis zum 16. Jahrh. hauptsächlich nur ein Ziel, die Metallverwandlung, verfolgte, spaltete sich von nun an in zwei Richtungen, indem sie bis gegen das Ende des 17. Jahrh. auch zu Zwecken der Heilkunde bearbeitet wurde. Begründer dieser neuen Richtung war Paracelsus (1493–1541), welcher die Medizin aus den Fesseln des Galenus befreite, neue, selbständig aufgestellte Lehren in die Wissenschaft einführte und die Lehre der Alchimisten von den Grundbestandteilen der Körper in einem gewissen Gegensatz zu Aristoteles schärfer und klarer begründete. Vielen der aus dieser Periode hervorragenden Ärzte erschien die ganze Heilkunde nur als angewandte C. (Chemiatrie, Iatrochemie, Chemismus); sie suchten im Organismus alles den chemischen Erscheinungen anzupassen und durch den Gegensatz des Basischen und Sauren zu erklären. Diese Ansichten und die Streitigkeiten über die beste Bereitungsart der vielfach als Geheimmittel behandelten Arzneikörper hinderten jede gründliche Forschung, wenn auch durch das Suchen nach den wirksamen Bestandteilen der Körper viele neue Thatsachen entdeckt wurden. Besondere Erwähnung verdient Libavius, welcher die groben Verirrungen und sophistischen Träumereien seiner Zeit energisch bekämpfte, das Zinnchlorid entdeckte, künstliche Edelsteine darstellte, Glas mit Gold rot zu färben verstand und die Identität der aus Alaun, Eisenvitriol oder durch Verbrennen von Schwefel mit Salpeter zu gewinnenden Säuren nachwies. In gleichem Sinn wirkten Angelus Sala, der die Zusammensetzung des Salmiaks aus Ammoniak und Salzsäure lehrte, und van Helmont (1577–1644), der das Wort Gas einführte, um damit luftartige Stoffe von der gewöhnlichen Luft zu unterscheiden. Er kannte das an der Luft rot werdende Salpetergas, die Kohlensäure und die bei Fäulnisprozessen sich entwickelnden brennbaren Gase. Er wagte zuerst, wenn auch nur mit schwacher Waffe und erfolglos, das Aristotelische Lehrgebäude anzugreifen, und lehrte zuerst die Unveränderlichkeit der Stoffe, wenn sie Verbindungen eingehen, indem er nachwies, daß sie als dieselben wieder aus den Verbindungen austreten können. Glauber verdankt man die Anwendung der Schwefelsäure statt des Vitriols zur Darstellung schwächerer Säuren und zahlreicher Salze, unter denen das schwefelsaure Natron (sein Sal mirabile) seinen Namen bis auf unsre Zeit behalten hat (Glaubersalz); er studierte die Löslichkeit der Metalle in Salzsäure und entdeckte dabei viele Chlormetalle; bei ihm finden sich die ersten Vorstellungen von der „chemischen Verwandtschaft“ (s. d.); auch war er um die Verbesserung der technischen Gewerbe: Gewinnung von Salpeter, Glas und Holzessig, mit Erfolg bemüht. Ganz vereinzelt steht lange Zeit Agricola (1494–1555), der Vater wissenschaftlicher Hüttenkunde und der Mineralogie, welcher in seinen Büchern „De re metallica“ alles aufführte, was man damals über Metallurgie kannte, wohlgeordnet und mit vielen wertvollen eignen Beobachtungen. Brandt schied 1669 in Hamburg den Phosphor aus dem Urin ab, hielt aber sein Verfahren geheim, so daß Kunkel, welcher denselben Körper einige Jahre später gewann, als zweiter Entdecker angesehen werden muß.

Die Mitte des 17. Jahrh. bezeichnet wieder den Anfang einer neuen Periode, welche bis zum Ende des 18. Jahrh. reicht. Sie wird eröffnet durch Rob. Boyle (1627–91), welcher zuerst erfolgreich die Lehren des Aristoteles bekämpfte und nachwies, daß dessen Elemente für die C. ebenso unzulässig seien wie die Annahme der drei alchimistischen Elemente. Er riet, jeden Stoff als einfach anzusehen, bis er durch chemische Mittel weiter zerlegt sei, und gelangte bei den Spekulationen über die Beschaffenheit der Elemente zu der Ansicht, daß dieselben aus einer und derselben Urmaterie beständen und ihre Verschiedenheit in der verschiedenen Größe, Gestalt etc. ihrer kleinsten Teilchen beruhe. Boyle betonte sogar, daß Verbrennung nur bei Gegenwart von Luft erfolgt, daß dabei ein Teil der Luft verschwindet, und daß das Verbrennungsprodukt schwerer ist als der unverbrannte Körper. Diese Ansichten, welche in konsequenter Durchführung nicht nur der Aristotelischen Lehre den Todesstoß versetzt, sondern auch die C. ganz außerordentlich gefördert haben würden, fanden vorderhand noch nicht die gebührende Beachtung. Vielmehr gelangte noch einmal eine Theorie zur Herrschaft, welche, von unserm heutigen Standpunkt aus betrachtet, mit jenen Thatsachen in schneidendem Widerspruch steht. Der Begründer dieser Theorie war Stahl (1660–1734), der seinem Vorgänger Becher (1635–82) den Hauptanteil [983] an der Entstehung seiner Theorie zuschrieb. Nach Becher waren Wasser und Erde die entferntesten Grundstoffe aller Körper. Aus ihnen entstehen zunächst drei Erden, die steinartige oder schmelzbare, die fettige und die flüssige, von den Alchimisten als Salz, Schwefel und Quecksilber bezeichnet. Stahl beschäftigte sich besonders mit der Untersuchung von Bechers fettiger, brennbarer Erde; er erforschte mit großem Scharfsinn den Verbrennungsprozeß, nahm in den brennbaren Körpern etwas Gemeinsames an, was ihnen die Eigenschaft der Entzündlichkeit, der Brennbarkeit, verleihe, und nannte den Träger dieser Eigenschaft Phlogiston. Die Darstellung dieses hypothetischen Stoffs wurde aber weder versucht, noch für erforderlich gehalten. Blei besteht nach Stahl aus Bleikalk (Bleioxyd) und Phlogiston, welches bei der Verbrennung ausgetrieben wird; erhitzt man Bleikalk mit Kohle, so erhält man wieder metallisches Blei, denn die sehr phlogistonreiche Kohle gibt an den Bleikalk Phlogiston ab. Die damals noch unbezweifelte Aristotelische Ansicht, daß die hervorragenden Eigenschaften der Körper durch etwas materiell in ihnen Enthaltenes bedingt werden, genügte, um den Glauben an die Existenz des hypothetischen Grundstoffs zu befestigen. Und dieser Glaube wurde nicht erschüttert durch die den Phlogistikern sehr wohl bekannte Thatsache, daß der Bleikalk schwerer ist als das Blei, aus welchem er entstanden ist. Man hat gesagt, sie hätten nur die qualitative Seite des Verbrennungsprozesses berücksichtigt und die Anwendung der Wage vernachlässigt; indes haben sie, wo sie es vermochten, auch die quantitativen Verhältnisse sehr genau untersucht, aber die Gewichtszunahme bei der Verkalkung wußten sie nicht zu erklären, und die Phlogistontheorie galt genau so lange, bis man den Schlüssel zu dieser Erscheinung gefunden hatte.

Die Zeit der Phlogistiker hat eine lange Reihe ausgezeichneter Chemiker aufzuweisen. Der holländische Arzt Boerhaave (1668–1738[WS 1]) gab 1732 ein System der C. heraus, welches alle damals bekannten Thatsachen aus unzähligen Quellen zusammengetragen und geordnet umfaßte. In Deutschland konzentrierte sich die chemische Thätigkeit in Berlin, wo Friedrichs d. Gr. Leibarzt Eller (1689–1760), die Apotheker Neumann (1682–1737) und Pott (1692–1777) und vor allen Marggraf (1709–82), der intellektuelle Begründer der Zuckerrübenfabrikation, wirkten. In Frankreich trug Lemery (1645–1715) die C. frei von allem mysteriösen Dunkel vor zahlreichen Zuhörern in der Landessprache vor und gewann der Wissenschaft dadurch viele Förderer und Freunde. Duhamel (1700–1781) unterschied zuerst das Natron vom Kali, Macquer (1718–84), die letzte Stütze der Phlogistontheorie in Frankreich, entdeckte die Arsensäure und verfaßte das erste chemische Wörterbuch, während von Rouelle (1718–79) die Einteilung der Salze in saure, basische und neutrale herrührt. Schweden besaß zwei ausgezeichnete Chemiker, den Begründer der analytischen C., Bergman (1735–84), und den großen Entdecker Scheele (1742–86), der, mit wunderbarer Beobachtungsgabe ausgerüstet, eine überraschende Fülle von Thatsachen festgestellt hat. Er entdeckte unter anderm das Mangan, Chlor und den Baryt, die Weinsäure, Zitronensäure, Oxalsäure, Äpfelsäure, Gerbsäure, Harnsäure, Milchsäure, Molybdän- und Wolframsäure und das Glycerin; er erkannte das färbende Prinzip des Berliner Blaus und die wahre Zusammensetzung der Blausäure; unabhängig von Priestley und gleichzeitig mit diesem entdeckte er den Sauerstoff, lehrte dessen Darstellung aus Salpetersäure, Salpeter, Braunstein, Arsensäure und den Oxyden der edlen Metalle. Er ermittelte die Zusammensetzung der Luft aus Sauerstoff und einem die Verbrennung und Atmung nicht unterhaltenden Gase sowie die Zusammensetzung des Ammoniakgases und des Schwefelwasserstoffs. In England wies Black (1728–99) die Ursache des Unterschieds zwischen ätzenden und kohlensauren Alkalien nach, indem er zeigte, daß beim Ätzendwerden der letztern einer ihrer Bestandteile, die Kohlensäure, abgeschieden wird. Diese Entdeckung übte einen mächtigen Einfluß, denn man wurde durch sie mit dem Gedanken vertraut, daß ein Körper eine Luftart absorbieren, zum Verschwinden bringen, dadurch selbst schwerer werden und andre Eigenschaften erhalten könne. Black ist ferner der Entdecker der latenten Wärme, er zeigte, daß der Aggregatzustand der Körper nur von einem größern oder geringern Wärmegehalt abhängt, daß die Gase gleichsam als Verbindungen fester Körper mit Wärme zu betrachten sind, und befestigte die Überzeugung von der freilich schon durch Boerhaave nachgewiesenen Unwägbarkeit der Wärme. Black ist der erste unter den pneumatischen Chemikern, von denen Henry Cavendish (1731–1810) das Wasserstoffgas, die Zusammensetzung des Wassers (welches dadurch seines Charakters als Element entkleidet wurde), die konstante Zusammensetzung der Luft und die Bildung von Salpetersäure in der Luft durch den elektrischen Funken entdeckte. Bei ihm findet sich auch zuerst der Begriff von der chemischen Äquivalenz, d. h. von der chemischen Gleichwertigkeit verschiedener Gewichtsmengen von verschiedenen Substanzen, und dies beweist ebenso wie die Bemühungen Bergmans um die quantitative Analyse, daß den Phlogistikern die Gewichtsverhältnisse durchaus nicht gleichgültig waren, und daß sie sich von der Unveränderlichkeit des Gewichts der Materie bei allen chemischen Wandlungen überzeugt hielten. Die Arbeiten von Cavendish gehören zum Teil einer spätern Zeit an als die Priestleys (1733–1804), welcher viele Gase untersuchte und 1774 den Sauerstoff entdeckte.

Diese Entdeckung und vor allem die Arbeiten Blacks bildeten das Fundament, auf welchem Lavoisier (1743–94) seine Oxydationstheorie aufbaute, die den Anfang der neuesten Epoche in der C. bezeichnet. Priestley hatte bei der Verbrennung von Schwefel und Kohle und bei der Verkalkung der Metalle Luftverminderung nachgewiesen, fand aber als treuer Anhänger der Phlogistontheorie nicht die richtige Deutung dieser Erscheinung. Lavoisier dagegen trat der C. als Physiker nahe, und nicht beirrt durch irgend eine Theorie, sah er in Gasen nur Verbindungen fester Körper mit Wärme und schloß daraus, daß die Verminderung der Luft von einer Fixierung des in der Luft mit Wärme verbundenen festen Körpers herrühren müsse. Da die Luft Gewicht besitzt, Wärme aber nicht, so muß diese Fixierung mit einer Gewichtszunahme des fixierenden Agens verbunden sein. Daher ist der Metallkalk schwerer als das Metall, und weil auch bei der Verbrennung stets Luftverminderung beobachtet wird, so muß das Verbrennungsprodukt gleichfalls eine Gewichtszunahme zeigen. Im J. 1774 wies Lavoisier nach, daß die Gewichtszunahme eines Metalls bei der Verkalkung gleich ist dem Gewicht der absorbierten Luft, und nach der Entdeckung des Sauerstoffs durch Priestley und Scheele vollendete er seine Oxydationstheorie, deren Anhänger als Antiphlogistiker bezeichnet wurden. Mit Guyton de Morveau stellte er die den neuen [984] Ansichten entsprechende Nomenklatur fest und gab damit auch äußerlich der C. die Form, welche sie noch heute besitzt. In dieser neuen Periode, welche man als die der quantitativen Forschung bezeichnet hat, häuften sich die wichtigsten Entdeckungen. Berthollet (1748–1822) gab 1803 seine Aufsehen erregende chemische Statik heraus, erforschte die quantitative Zusammensetzung des Ammoniaks, führte das Chlor als Bleichmittel in die Technik ein, verbesserte die Salpeterfabrikation und lieferte auch sonst zahlreiche wertvolle Untersuchungen. In Deutschland unterzog die Berliner Akademie der Wissenschaften auf Klaproths (1743–1817) Vorschlag die Fundamentaluntersuchungen Lavoisiers einer Prüfung und erkannte sie als richtig an. Klaproth erwarb sich außerdem große Verdienste um die Analyse; er untersuchte mehr als 200 Mineralspezies und entdeckte das Uran, die Zirkon- und Strontianerde, das Titanoxyd, Tellur. Gleich erfolgreich wirkte in Frankreich Vauquelin (1763–1829), welcher Chrom und Beryllerde auffand, in England Wollaston (1767–1829), der Entdecker des Palladiums und Rhodiums, und Tennant (1761–1815), der das Iridium und Osmium auffand. Infolge dieser Entdeckungen war die Zahl der bekannten Elemente auf 32 gestiegen. Man kannte außer den letztgenannten neuentdeckten Elementen: Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Kohlenstoff, Phosphor, Schwefel, Mangan, Nickel, Kobalt, Zink, Wismut, Wolfram, Platin, außer den schon den Alten bekannten Metallen, dann die wichtigsten Basen, Alkalien, alkalische Erden und Erden, zahlreiche Metalloxyde, eine große Anzahl von Salzen etc. Viel folgenreicher aber als diese Entdeckungen waren die theoretischen Arbeiten, welche den weitern Forschungen erst eine sichere Basis gaben. Bergman und Kirwan hatten bereits diejenigen relativen Gewichtsmengen verschiedener Basen ermittelt, welche sich mit derselben Menge einer gewissen Säure zu vereinigen vermögen. Proust (1755–1826) wies dann nach, daß in jeder Verbindung die Bestandteile nach einem bestimmten Gewichtsverhältnis vorhanden sind, und daß, wenn zwei Körper mehrere Verbindungen eingehen, auch in diesen die Bestandteile stets in festen Verhältnissen zusammentreten, daß nicht alle Mischungsverhältnisse zwischen zwei Körpern möglich sind, sondern daß die Mengen stets sprungweise größer oder kleiner werden. Zur Feststellung allgemeiner Gesetze erhob sich Proust aber noch nicht. Dagegen sprach Richter (1762–1807) zuerst das Neutralitätsgesetz aus und wußte richtige Folgerungen aus demselben zu ziehen. Er bestimmte die Mengen der Metalle, wie sie sich gegenseitig aus ihren Lösungen niederschlagen, und entwarf die ersten stöchiometrischen Tafeln. Kann Richter als der Entdecker des Gesetzes von den konstanten Proportionen angesehen werden, so haben wir in Dalton (1766–1844) den Begründer des Gesetzes von den multiplen Proportionen und der Atomtheorie zu erkennen. Gay-Lussac (1778–1840) fand dann weiter, daß sich die Gase nach einfachen Volumverhältnissen miteinander verbinden, und Berzelius (1779–1848) stellte die Beziehungen zwischen den Volumen und Gewichten der gasförmigen Körper fest. Gay-Lussac war von der mit A. v. Humboldt festgestellten Thatsache ausgegangen, daß sich zwei Raumteile Wasserstoff stets mit einem Raumteil Sauerstoff zu Wasser verbinden, eine wichtige Bestätigung und Ergänzung der Daltonschen Gesetze. Seine Volumtheorie machte es möglich, aus dem spezifischen Gewicht der Bestandteile und der Raumverminderung, welche bei der Verbindung vor sich geht, das spezifische Gewicht einer Verbindung sicherer zu bestimmen als durch den unmittelbaren Versuch und umgekehrt aus der Vergleichung des spezifischen Gewichts einer Verbindung und den spezifischen Gewichten ihrer Bestandteile auf die Zusammensetzung der erstern zu schließen. Davy (1778–1829) wandte 1807 den Strom einer mächtigen galvanischen Batterie zur Zersetzung der Alkalien und alkalischen Erden an und schied aus ihnen Kalium, Natrium, Baryum, Strontium, Calcium und Magnesium ab. Gay-Lussac und Thénard stellten Kalium und Natrium in größern Mengen dar, wodurch die C. die kräftigsten Reduktionsmittel erhielt, denen bei zweckmäßiger Anwendung nichts widerstand. Die nächsten Jahre brachten Aufschluß über die Haloidkörper: Chlor, Brom, Jod und Fluor. Das Chlor hatte sein Entdecker Scheele dephlogistisierte Salzsäure genannt; die antiphlogistischen Chemiker sahen es aber als die Verbindung eines noch unbekannten Elements an, und erst Davy wies nach, daß Chlor ein Element, Salzsäure eine Verbindung desselben mit Wasserstoff und daß die salzsauren Salze eine eigentümliche Klasse von sauerstofffreien Salzen (Haloidsalze nach Berzelius), bestehend aus Chlor und dem betreffenden Metall, sind. 1811 entdeckte Courtois das Jod. Die Anwendung des galvanischen Stroms für chemische Zersetzung hatte Davy zu genialen Hypothesen geführt; aber Berzelius schuf in seiner elektrochemischen Theorie ein einheitliches System, welches auf alle bekannten Thatsachen anwendbar war. Er nahm an, daß die Elektrizität eine Eigenschaft der Materie sei, daß zwar in jedem Atom zwei entgegengesetzte elektrische Pole vorhanden seien, der eine von diesen aber bedeutend vorherrsche und mithin jedes Atom, also auch jedes Element, entweder elektropositiv oder elektronegativ erscheine. Aus der Nebeneinanderlagerung der Atome entstehen Verbindungen erster Ordnung, welche ihrerseits wieder zu Verbindungen zweiter Ordnung führen, etc. Diese Theorie wurde die Basis der dualistischen Anschauungsweise, nach welcher jeder zusammengesetzte Körper, welches auch die Anzahl seiner Bestandteile sein mag, in zwei Teile zerlegt werden kann, von denen der eine positiv, der andre negativ elektrisch ist. Von hoher Bedeutung waren auch Berzelius’ Bestimmungen der in einer Verbindung enthaltenen Anzahl Atome, indem er bei diesen Arbeiten rein chemischen Verhältnissen Rechnung trug. Er brachte das Lötrohr zur verdienten Anerkennung in der qualitativen Analyse, gab zweckmäßige Scheidungsmethoden für die quantitative Analyse an und erleichterte das Verständnis der chemischen Vorgänge durch Aufstellung der chemischen Formeln als Ausdruck für die Atomzusammensetzung der Verbindungen, die ihm zuerst zum Prüfstein für die Angaben der Analysen dienten. Seit er 1814 der Kieselerde ihre richtige Stelle unter den Säuren angewiesen und die Kieselverbindungen als kieselsaure Salze erkannt hatte, unterwarf er das große Gebiet der natürlichen Silikate den Gesetzen, welche für die übrigen Sauerstoffsalze gelten; später unterschied er unter den Schwefelmetallen Sulfobasen und Sulfosäuren und wies deren Zusammentreten zu Sulfosalzen nach. 1830 entdeckte er in der Trauben- und Weinsäure den ersten Fall von Isomerie. Für das Verständnis der verwickelten Mineralverbindungen war von Wichtigkeit Mitscherlichs (1794–1863) Aufstellung der Lehre vom Isomorphismus, von nicht geringerer seine Entdeckung des Dimorphismus, [985] d. h. der Eigenschaft gewisser Körper, ohne Änderung der chemischen Beschaffenheit in zwei verschiedenen, nicht auf dieselbe Grundform zurückführbaren Kristallformen aufzutreten. Mitscherlich war auch der erste, welcher im Laboratorium natürliche Mineralkörper aus ihren Bestandteilen künstlich zusammensetzte. Eine wichtige Erweiterung erfuhr aber 1840 die C. durch den Nachweis der sogen. allotropischen Zustände der Körper, indem Schönbein das Ozon entdeckte, welches sich später als ein und derselbe elementare Körper wie der Sauerstoff erwies, aber in einem verschiedenartigen Zustand, begabt mit wesentlich verschiedenen Eigenschaften. Die Untersuchung der anorganischen Körper hat in dieser Zeit die Zahl der Elemente außerordentlich vermehrt; die Mehrzahl wurde in dem Stockholmer Laboratorium entdeckt, 1817 durch Berzelius das Selen, durch Arfedson das Lithion, durch Stromeyr und Hermann das Kadmium; 1823 gewann Berzelius aus Fluorkieselkalium mittels Kaliums das Silicium, 1824 derselbe aus Fluorzirkon das Zirkonium, 1828 Wöhler aus den wasserfreien Chlormetallen das Aluminium, Beryllium, Yttrium. Durch das Zusammenwirken dieser Chemiker, vor allen aber durch Berzelius, der alles Bekanntwerdende zusammenfaßte und systematisch ordnete, wurde die anorganische C. zu dem in sich abgeschlossenen Ganzen entwickelt, als das sie gegenwärtig unsre Lehrbücher mitteilen.

Weitere Förderung hat die C. ganz besonders durch das Studium der organischen oder Kohlenstoffverbindungen gefunden, welches erst nach der Verbesserung der Elementaranalyse durch Gay-Lussac und Thénard und der dadurch ermöglichten Anwendung der stöchiometrischen Gesetze auf organische Verbindungen, die zuerst 1814 durch Berzelius versucht ward, erfolgreich werden konnte. Anfänglich schien es unmöglich, die Ansichten, welche die Grundlage der anorganischen C. bildeten, auch auf die organische anzuwenden. Indes hatte doch schon Lavoisier ausgesprochen, daß sich der Sauerstoff mit einem Element zu einer anorganischen, mit einem „zusammengesetzten Radikal“ zu einer organischen Verbindung verbinde. Gay-Lussacs Arbeit über das Cyan gab dem Begriff des Radikals eine bestimmtere Bedeutung, und dann versuchte man mehr und mehr, den Dualismus auch auf die Kohlenstoffverbindungen anzuwenden. Die organische C. ward jetzt die C. der zusammengesetzten Radikale; aber erst durch Liebigs und Wöhlers glänzende Untersuchungen über das Bittermandelöl und die damit verwandten Verbindungen wurde die Lehre vom Radikal vollkommener ausgebildet. Unter Radikal verstand man nun eine Atomgruppe, welche als nicht wechselnder Bestandteil in einer Reihe von Verbindungen auftritt, sich wie ein Element mit andern Elementen verbindet, in diesen Verbindungen sich ersetzen läßt durch andre einfache Körper und ohne Zersetzung übertragbar ist in andre Verbindungen. Durch diese Arbeiten wurde der organischen C. die gebührende Selbständigkeit gesichert. Die Entdeckung des Dimorphismus, der Isomerie, Metamerie und Polymerie regte zu weitern Studien über die Konstitution der Körper an, und besonders wurden die Äthylverbindungen Gegenstand lebhafter Debatten im Sinn der Radikaltheorie. Dumas (1800–1884), Liebig (1803–73) und Wöhler (1800–1882) führten seit 1823 die organische C. zur glänzendsten Entwickelung; Liebig vor allen beherrschte als die erste Autorität und als der größte Chemiker seiner Zeit die ganze geistige Strömung, sein Laboratorium in Gießen war der Anziehungspunkt für die strebsamsten Chemiker des In- und Auslandes, und zahlreiche Untersuchungen der wichtigsten Art, welche aus diesem Laboratorium hervorgingen, bekunden die fruchtbare Anregung, welche Liebig nach allen Seiten hin zu geben verstand. Die Anschauungen in der organischen C. gewannen nun zunächst eine wesentliche Wandlung durch die Entdeckung des Substitutionsprozesses, welche besonders durch Dumas, Peligot, Regnault, Malaguti und Laurent verfolgt wurde. Laurent knüpfte daran seine Kerntheorie, welche Gmelin seinem großen Lehrbuch zu Grunde legte; Liebigs und Grahams Arbeiten über die mehrbasischen Säuren wurden aber die Basis, auf welcher Dumas, der inzwischen auch die Chloressigsäure entdeckt hatte, seine Typentheorie errichtete. Durch diese Theorie vollzog sich der Bruch mit der von Berzelius aufgestellten dualistischen Anschauungsweise. Man hatte erkannt, daß in einer organischen Verbindung elektropositiver Wasserstoff durch elektronegatives Chlor vertreten werden kann, ohne daß die Natur der Verbindung dadurch wesentlich verändert wird, und somit ergab sich, daß die Eigenschaften der Körper weit mehr durch die eigentümliche Lagerung der Atome als durch deren Natur bedingt werden. Die Typentheorie fand in der Folge mehrfach weitere Ausbildung und beherrschte eine Reihe von Jahren hindurch die gesamte Forschung, welche durch sie in der fruchtbarsten Weise geleitet wurde. Der nächste große Fortschritt wurde aber durch die von Laurent und Gerhardt veranlaßte Revision der Atomgewichte herbeigeführt. Der Begriff des Atoms war in der letzten Zeit ein sehr unsicherer geworden, und die Gmelinsche Schule nahm stöchiometrische Zahl, Äquivalent, Mischungsgewicht und Atomgewicht für gleichbedeutend. Laurent unterschied aber in scharfer Weise Atom, Molekül und Äquivalent, und als man dann erkannte, daß die Atome nicht äquivalent, sondern verschiedenwertig sind, gelangte man zur Atomizitätstheorie und zur Bestimmung der rationellen Konstitution der Körper in dem heutigen Sinn. Die Arbeiten von Kekulé, Frankland, Berthelot, Hofmann, Wurtz und zahlreichen jüngern Chemikern haben zum Ausbau dieser Theorien mächtig beigetragen, und wir sehen gegenwärtig die C. in einem Fortschritt begriffen, welchem auf allen Gebieten gleichmäßig zu folgen selbst dem Fachmann schwer wird. Einen der glänzendsten Punkte der neuern C. bildet die von Kekulé 1867 begründete Theorie der aromatischen Verbindungen, welche das vorhandene Material systematisch zu ordnen erlaubte und eine Fülle neuer Thatsachen brachte, welche zum Teil durch die Theorie vorhergesehen waren. Wie weit Übereinstimmung zwischen Theorie und Thatsachen hier vorhanden ist, zeigt sich z. B. daran, daß gerade und nur die zwölf vorhergesehenen Chlorbenzole haben dargestellt werden können. Für die Technik wurde die Theorie insofern höchst bedeutungsvoll, als sie auf die Entwickelung der Teerfarbenindustrie unverkennbaren Einfluß ausübte. Die überwiegende Zahl der Chemiker widmete sich in der neuesten Zeit der Erforschung der Konstitution der Körper und wurde hierin nicht nur durch die fortgeschrittene theoretische Erkenntnis, sondern auch durch die Anwendung der Synthese wesentlich gefördert, deren Bedeutung für die organische C. Berthelot nachdrücklich betont hatte. Er gewann durch Synthese Ameisensäure, Alkohol und Benzol, Kolbe die Essigsäure, Volhard das Kreatin, Zinin das Senföl, Haarmann und Tiemann das Vanillin, Baeyer das Pikolin und den Indigo, und von andern wurden Methoden ausgearbeitet, welche die Synthese ganzer [986] Körpergruppen, wie der Kohlenwasserstoffe, der Alkohole, Phenole, Säuren und Basen, gestatten. Die in der organischen C. gewonnenen Anschauungen sind in den letzten Jahren auch auf die anorganische C. übertragen worden, und so ist nun endlich wieder eine einheitliche Auffassung hergestellt. Die bedeutsamste Entdeckung der neuesten Zeit, die der Spektralanalyse durch Kirchhoff und Bunsen, wirkte in vielen Gebieten fördernd und aufklärend und führte zur Auffindung mehrerer neuer Elemente, von der die des Galliums durch Lecoq de Boisbaudran 1875 insofern von besonderer Bedeutung war, als dieselbe durch Spekulation vorhergesehen war. Mendelejew hatte alle Elemente nach ihren Atomgewichten in eine Reihe gebracht und gezeigt, daß die Eigenschaften der Elemente sich periodisch mit den Atomgewichten ändern, d. h. mit denselben zu- resp. abnehmen, bis sie, nachdem das Atomgewicht um eine gewisse Größe gewachsen ist, etwa zum ursprünglichen Wert zurückkehren. Die Regelmäßigkeiten in dieser Beziehung waren so groß, daß Mendelejew, durch dieselben geleitet, manche Atomgewichte verändern und sogar unbekannte Elemente vorhersagen konnte. Eine solche Vorhersage wurde durch die Auffindung des Galliums bestätigt. Von allgemeinster Bedeutung ist auch die Auffassung des Zusammenhanges der verschiedenen Aggregatzustände, in welcher Beziehung namentlich die Untersuchungen von Andrews (1869) fördernd wirkten und unter anderm die Verdichtung der bis dahin für permanent gehaltenen Gase zu Flüssigkeiten durch Cailletet und Pictet herbeiführten. Einen großen Einfluß auf die allgemeinen Anschauungen in der C. gewannen die Arbeiten über die Zersetzungen unter dem Einfluß der Wärme, die von Sainte-Claire Deville entdeckten Dissociationserscheinungen, und ebenso beachtenswert sind die Arbeiten über die Verbindungswärmen, wie solche von Fabre und Silbermann, Berthelot und besonders von Thomsen ausgeführt wurden. Allgemein hegt man die Überzeugung, daß die theoretische C. durch den weitern Ausbau der mechanischen Wärmetheorie eine wesentliche Umgestaltung erfahren werde.

Litteratur.

Lehrbücher: Berzelius, Lärebok i kemien (Stockh. 1808–18, 3 Bde.; 2. Aufl. 1817–30, 6 Bde.; 5. Aufl., deutsch, Leipz. 1843–48, 5 Bde.); Gmelin, Handbuch der anorganischen C. (6. Aufl. von Kraut u. a., Heidelb. 1874 ff., 3 Bde.) und „Handbuch der organischen C.“ (4. Aufl., das., vollständig bis 1872, 6 Bde.); Graham-Otto, Ausführliches Lehrbuch der C. (4. Aufl., Braunschw.; Bd. 1: Physikalische und theoretische C. von Buff, Kopp und Zamminer, 2. Aufl. 1863; Bd. 2: Anorganische C. von Michaelis, 5. Aufl., 3 Tle., 1878–84; Bd. 3: Organische C., 2. Aufl. von Kolbe, Meyer u. a., 3 Tle., 1880 ff.); Hofmann, Einleitung in die moderne C. (6. Aufl., das. 1877); Gorup-Besanez, Lehrbuch der C. (6. Aufl., das. 1876 ff., 3 Bde.); Regnault-Strecker, Kurzes Lehrbuch der C. (9. Aufl. von Wislicenus, das. 1877 ff., 2 Bde.); Pelouze und Frémy, Traité de chimie générale (Par. 1862–65, 7 Bde.); Sell-Naquet, Grundzüge der modernen C. (Berl. 1868–70, 2 Bde.); Wöhler, Grundriß der C. (1. Bd., 15. Aufl., das. 1873; 2. Bd. von Fittig, 10. Aufl. 1877); Kolbe, Kurzes Lehrbuch der anorganischen und organischen C. (2. Aufl., Braunschw. 1884, 2 Bde.); Pinner, Repetitorium (Berl. 1872–73, 2 Bde.); Wagner, Die C., faßlich dargestellt (6. Aufl., Leipz. 1873); Liebig, Chemische Briefe (6. Aufl., das. 1878); Bär, C. des gewöhnlichen Lebens (2. Aufl., das. 1861, 2 Bde.); Johnston, C. des täglichen Lebens (a. d. Engl., Berl. 1869); Stöckhardt, Schule der C. (19. Aufl., Braunschweig 1881); Emsmann und Dammer, Experimentierbuch (4. Aufl., Leipz. 1884).

Anorganische C.: Buff, Kurzes Lehrbuch der anorganischen C. (Erlang. 1868); Arendt, Lehrbuch der anorganischen C. (3. Aufl., Leipz. 1874); Rammelsberg, Grundriß der C. (5. Aufl., Berl. 1881); Büchner, Lehrbuch der anorganischen C. (2. Aufl., Braunschw. 1878); Roscoe, Lehrbuch der C. (a. d. Engl. von Schorlemmer, 6. Aufl., das. 1878); Roscoe u. Schorlemmer, Ausführliches Lehrbuch der C., Bd. 1 u. 2 (das. 1877–79); Lorscheid, Lehrbuch der anorganischen C. (10. Aufl., Freiburg 1884). – Organische C.: Kekulé, Lehrbuch der organischen C. (Erlang. 1861 bis 1866, Bd. 1–3); Erlenmayer, Lehrbuch der organischen C. (Leipz. 1867); Schorlemmer, Lehrbuch der Kohlenstoffverbindungen (2. Aufl., Braunschw. 1874); Beilstein, Handbuch der organischen C. (2. Aufl., Leipz. 1884, 3 Bde.). – Theoretische C.: Buff, Grundlehren der theoretischen C. (Erlang. 1866); Loth. Meyer, Die modernen Theorien (5. Aufl., Bresl. 1884).

Experimentalchemie: Heumann, Anleitung zum Experimentieren (Braunschw. 1878); Arendt, Technik der Experimentalchemie (Leipz. 1881). – Litteratur über die chemischen Laboratorien, s. Laboratorium.

Encyklopädien: Liebig, Poggendorff, Wöhler, Handwörterbuch der reinen und angewandten C. (Bd. 1 u. 2, 2. Aufl., Braunschw. 1857–63; Bd. 3–9, 1848–64); Fehling, Neues Handwörterbuch der C. (das. 1871 ff.); Ladenburg, Handwörterbuch der C. (Bresl. 1883 ff.); Watts, Dictionary of chemistry (Lond. 1863–68, 5 Bde.; Supplem. 1872); Wurtz, Dictionnaire de chimie pure et appliquée (Par. 1869 ff., 5 Bde. und Supplemente); Dammer, Kurzes chemisches Handwörterbuch (2. Aufl., Stuttg. 1885); Derselbe, Lexikon der angewandten C. (Leipz. 1882, populär).

Geschichte: Schmieder, Geschichte der Alchimie (Halle 1832); Gmelin, Geschichte der C. (Götting. 1797–99, 3 Bde.); Kopp, Geschichte der C. (Braunschweig 1843–47, 4 Bde.); Derselbe, Beiträge zur Geschichte der C. (das. 1869–75, 3 Tle.); Derselbe, Die Entwickelung der C. in der neuern Zeit (Münch. 1871); Dumas, Die Philosophie der C. (deutsch von Rammelsberg, Berl. 1839); Wagner, Geschichte der C. (2. Aufl., Leipz. 1855); Chevreul, Histoire des connaissances chimiques (Par. 1866, Bd. 1); Derselbe, Histoire des principales opinions, etc. (das, 1869); Kekulé, Geschichte der organischen C. (Erlang. 1867); Buff, Ein Blick auf die Geschichte der C. (das. 1866); Wurtz, Geschichte der chemischen Theorien seit Lavoisier (a. d. Franz. von Oppenheim, Berl. 1870); Ladenburg, Vorträge über die Entwickelungsgeschichte der C. in den letzten 100 Jahren (Braunschw. 1869); Rau, Die Entwickelung der modernen C. (das. 1879); Poggendorff, Biogr.-litterarisches Handwörterbuch zur Geschichte der exakten Wissenschaften (Leipz. 1863, 2 Bde.).

Zeitschriften: Liebigs und Wöhlers „Annalen der C. und Pharmacie“ (Leipz. u. Heidelb.); Poggendorffs „Annalen der Physik“ (Leipz.); „Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft“ (Berl.); Arendts „Chemisches Zentralblatt“ (Leipz.); Kolbes „Journal für praktische C.“ (das.); „Zeitschrift für C.“ (das.); „Jahresbericht über die Fortschritte der C.“ (Gieß.). – Bibliographie: Zuchold, Bibliotheca chemica 1840–58 (Götting. 1859); Ruprecht, Bibliotheca chemica 1858–70 (das. 1872).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: 16681–738