Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Alchimie“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 304306
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Alchimie. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 304–306. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Alchimie (Version vom 10.04.2022)

[304] Alchimie (Alchymie), ein aus dem arab. Artikel al und dem Wort Chemie zusammengesetztes Wort, heißt eigentlich bloß „die Chemie“; man bezeichnet aber mit diesem Wort nur die chemischen Bestrebungen der frühern Zeit und zwar vorzugsweise die auf die Verwandlung der Metalle, auf das Goldmachen, gerichteten Arbeiten. Die Geschichte der A. ist mithin ein Teil der Geschichte der Chemie bis dahin, wo Aberglaube und Betrügerei eine Afterwissenschaft schufen, mit welcher die Chemie nichts mehr zu thun hatte.

Über die Entstehung und das Alter der A. existieren eine große Menge von Sagen, welche die ersten Anfänge dieser Kunst in die ältesten Zeiten unsrer Geschichte zurückversetzen: Moses, seine Schwester Mirjam (genannt Maria Prophetissa), Hiob und aus späterer Zeit auch Kleopatra und Johannes der Täufer werden von den Alchimisten ihrer Zunft, den Adepten (s. d.), zugezählt, und die Entstehung des ältesten schriftlichen Zeugnisses der Goldmacherkunst, der „Tabula smaragdina“, wird von den Alchimisten in das 3. Jahrtausend vor Christi Geburt zurückdatiert. Dies hat nun allerdings keine Berechtigung, denn der Verfasser dieses genauen Rezepts zum Goldmachen, welches freilich absolut unverständlich ist, Hermes Trismegistos (der Dreimalgrößte), ist höchst wahrscheinlich der Priester Hermon, welcher 100 n. Chr. in Ägypten lebte; gleichwohl ist die Entstehung der A. wohl in die Zeit zurückzudatieren, als bei den Phönikern die Metallbearbeitung in Blüte stand. Die Gewinnung der Metalle aus den Erzen, deren Bestandteile man nicht zu erforschen vermochte, und die allgemeine Ähnlichkeit der Metalle untereinander führten naturgemäß die unter dem Einfluß der Lehren des Aristoteles (s. Chemie) stehenden Forscher, welche die Gewinnung der Metalle nicht als eine Abscheidung aus den Erzen, sondern als eine Umwandlung der letztern in Metalle betrachteten, auf den Gedanken, auch das edelste und kostbarste der Metalle, das Gold, durch Umwandlung irgend eines Körpers zu erzeugen. Das Streben, Gold zu machen, hatte in jener Zeit mithin durchaus nichts Unwissenschaftliches oder gar Betrügerisches. Zufällige, falsch gedeutete Beobachtungen, welche bei den zahlreichen Versuchen nicht ausbleiben konnten, ließen dann wahrscheinlich bald die Darstellung des Goldes als möglich erscheinen; ja, vielleicht glaubten einige Forscher, wenn sie ein hellgelbes, goldähnliches Produkt erhielten, das gesuchte Geheimnis gefunden zu haben, und das Gerücht eines einzigen gelungenen Versuchs mußte dann stets die Zahl derer, welche sich mit der Sache beschäftigten, erheblich vermehren. Diese erste Periode der A. schließt mit der Vernichtung der alexandrinischen Bibliothek ab, und als man 100 Jahre nach jenem Werk des rohesten Zerstörungstriebs wieder zu den chemischen Arbeiten zurückkehrte, waren nur noch durch mündliche Überlieferungen Einzelheiten über die Arbeiten der vorarabischen Zeit bekannt, [305] welche, phantastisch ausgeschmückt, Wünsche als Thatsachen hinstellten und so die Versuche, dasselbe Ziel zu erreichen, gerechtfertigt erscheinen ließen. Hierin und in der fortdauernden Herrschaft der Aristotelischen Lehren haben wir den einfachen Schlüssel zu der auffallenden Thatsache, daß sich mehrere Jahrhunderte hindurch die erleuchtetsten Geister sämtlicher Nationen mit der Aufgabe, Gold zu machen, beschäftigten.

Die unwissenschaftliche Richtung kam zuerst in die A. durch die Anschauung, es gebe einen Stoff, welcher alle Körper in Gold verwandle. Diesen Stoff nannten die Alchimisten Magisterium, während Geber, der größte Chemiker seiner Zeit, einen Stoff, der alle Krankheiten heilen sollte, Magisterium nannte. Diese Übereinstimmung des Namens führte zu der Annahme, daß ein Stoff beide Eigenschaften vereinige, daß er alle Körper in Gold verwandle, und daß er alle Krankheiten heile. Auch die bilderreiche Sprache, deren sich Geber, wie alle Alchimisten, bediente, gab Anlaß zu dem gleichen Irrtum. Er will an einer Stelle sagen: „Gebt mir die sechs unvollkommenen Metalle (Silber, Quecksilber, Blei, Kupfer, Eisen und Zinn), damit ich sie in das vollkommene Metall (Gold) verwandle“, und drückt dies aus: „Bringt mir die sechs Aussätzigen, daß ich sie heile“. Diese Worte konnten leicht mißverstanden werden, ebenso wie die oft vorkommende Bestimmung späterer Alchimisten, daß man ein, zwei, sechs oder mehr Vaterunser beten solle, den Wahn hervorrief, daß die Anrufung Gottes bei diesen Arbeiten notwendig sei, während doch in Wahrheit jene Bestimmung nur die Zeitdauer der Operation angeben sollte. Wie der Stoff, den jene Alchimisten suchten, beschaffen sei, darüber waren die Meinungen sehr geteilt; der eine sagt, er sei ein rotes, der andre, er sei ein safrangelbes Pulver, der dritte bezeichnet ihn als eine biegsame, der vierte als eine spröde Substanz etc.; darin aber stimmten alle Alchimisten überein, daß diese Substanz, wenn man sie auf schmelzendes Metall werfe, dasselbe in Gold verwandle. In der quantitativen Wirkung gehen aber wieder die Meinungen auseinander; der eine meint, man könne das 10–100fache Gewicht der Substanz in Gold verwandeln, ein zweiter, das 1000fache etc., ja Raimundus Lullus (gest. 1315) geht so weit, daß er sagt, wenn das Meer von Quecksilber wäre, so wolle er es in Gold verwandeln. Geber war der Repräsentant der A., wie sie sich unter den Arabern bis zum 9.[WS 1] Jahrh. ausgebildet hatte; von jener Zeit an verbreitete sich das Studium der A. über alle Länder, und die Geschichte nennt viele Namen, welche für die Entwickelung der Chemie von Bedeutung waren, aber sämtlich unter dem Bann der alchimistischen Anschauungen standen. Zu ihnen gehört Raimundus Lullus, welcher die wunderbarsten Resultate erhalten haben wollte, was nicht in Erstaunen setzen kann, wenn man bedenkt, daß er ein Fanatiker im höchsten Sinn des Worts war, der nur deshalb Gold machen wollte, um es zu einem Kreuzzug gegen die Ungläubigen zu verwenden; dann der berühmte deutsche Bischof Albert von Bollstädt, genannt Albertus Magnus, welcher in seinem Werk über A. deutlich sagt, er habe gefunden, daß die Verwandlung in Gold und Silber möglich sei, und gleichzeitig mit ihm Arnold Bachuone, genannt Arnoldus Villanovus, und Roger Baco. Villanovus unterscheidet übrigens ausdrücklich das philosophische Gold von dem natürlichen, denn er sagt: „Wenn auch die Alchimisten die Substanz und die Farbe nachmachen können, so geben sie demselben doch nicht die früher aufgezählten guten Eigenschaften desselben“. Aus späterer Zeit sind bemerkenswert Nikolaus Flamel, von welchem eine angeblich genaue Beschreibung seiner Arbeiten existiert, die aber in so bilderreicher Sprache geschrieben ist, daß auch die erfahrensten Deuter der alchimistischen Schriften niemals eine Spur zum Entziffern gefunden haben, und die beiden holländischen Ärzte Isaak und Johann Hollandus. Diese beiden sind besonders bemerkenswert, weil man auf ihre Autorität dem Stein der Weisen (dies war schon damals die allgemeine Bezeichnung für das Goldpulver) die Kraft zuschrieb, das ewige Leben zu geben. Sie selbst haben nicht an solche Wirkung gedacht, im Gegenteil, die betreffende Stelle in der Schrift des Isaak Hollandus sagt ausdrücklich, man werde gesund bleiben bis zu der Stunde, welche Gott gesetzt hat; aber man hat den Schlußsatz unbeachtet gelassen und so das Unwissenschaftliche des alchimistischen Strebens gesteigert. An die Genannten reiht sich im 15. Jahrh. Basilius Valentinus, welcher behauptete, der Stein der Weisen könne 10–30 Teile unedlen Metalls in Gold verwandeln, und, um den ersten wissentlichen Fälscher unter den Alchimisten nicht zu vergessen, der Franzose Le Cor, welcher, als Goldmacher vom König von Frankreich zum Finanzminister und Münzmeister erwählt, ganz einfach seine Goldmacherei in der Weise betrieb, daß er mit dem Stempel des Königs falsche Münzen schlug und in Umlauf setzte. Das 15. Jahrh. bezeichnet die Grenze, wo die Betrügerei anfängt, in der A. eine hervorragende Rolle zu spielen, und es folgt jetzt eine Reihe von Alchimisten, welche man nicht mehr zu den Männern der Wissenschaft zählen kann. Den Reigen eröffnet Le Cor; dann kommt die Kaiserin Barbara, Witwe des Kaisers Siegmund, welche Kupfer und Arsenik zusammenschmolz und die so erhaltene weiße Legierung als Silber verkaufte; später in England eine Reihe von Personen, welche sich auf den Wunsch des Königs Heinrich VI. mit der A. beschäftigten; dann in Deutschland Sebald Schwarzer, welcher schließlich aber die A. aufgab und als Berghauptmann in Joachimsthal starb; ferner ein Schotte, Kelley, welcher in Prag im Gefängnis starb, u. v. a. Zu erwähnen sind noch der Pole Sendivogus, der Schotte Alexander Setonius, der Grieche Laskaris, der Hamburger Brandt, welcher bei seinen Arbeiten die Darstellung des Phosphors entdeckte, Böttger, welcher als Gefangener in Sachsen die Darstellung des Porzellans fand, und Philaletha, welcher dem bekannten holländischen Arzt Helvetius ein Stück von der goldmachenden Substanz gab, mit welcher dieser, der bis dahin ein heftiger Gegner der A. war, eine Projektion ausführte, welche angeblich gelang. Im 17. Jahrh. nahm jedoch das Treiben der Alchimisten allmählich ab; Spuren finden sich noch vereinzelt, so im Anfang des 18. Jahrh. die Gesellschaft der Buccinatoren, die ihren Zentralpunkt in Nürnberg hatte, und am Ende desselben Jahrhunderts die Hermetische Gesellschaft, an deren Spitze Kortum in Bochum, der Verfasser der „Jobsiade“, stand. In der neuesten Zeit tauchen nur noch sporadisch Alchimisten auf, z. B. der Franzose Javary, dessen sogar Baudrimont in seinem „Handwörterbuch der Chemie“ mit der Bemerkung erwähnt, er habe Hoffnung, derselbe werde das große Werk vollbringen. Gegenwärtig hat die A. allen Boden verloren, und solange nicht nachgewiesen ist, daß die chemischen Elemente keine einfachen Stoffe, sondern Verbindungen uns bis jetzt noch nicht bekannter Körper sind, kann von künstlicher Erzeugung von Gold keine Rede sein. [306] Allerdings mehren sich die Anzeichen, daß die jetzigen Elemente nicht die höchste Stufe chemischer Erkenntnis darstellen; doch haben wir noch gar keinen Anhalt, auf welchem Weg es gelingen möchte, dieselben zu zerlegen. Mit dem Nachweis, daß Gold ein zusammengesetzter Körper ist, würde freilich auch die Möglichkeit gegeben sein, es aus seinen Bestandteilen zusammenzusetzen. Jedenfalls würde man zu solchem Ziel nicht durch vereinzelte planlose Versuche, sondern nur auf streng wissenschaftlichem Wege gelangen. Was die Frage anlangt, ob schon jemals Gold gemacht worden ist, so müssen wir sie trotz aller beglaubigten Zeugnisse, welche darüber existieren, entschieden verneinen; wir können in vielen Fällen die Täuschung, welche vorgenommen wurde, genau konstatieren, in andern Fällen läßt sie sich mit ziemlicher Gewißheit nachweisen, und in den wenigen Fällen, wo uns jede Erklärung fehlt, müssen wir annehmen, daß die Vorbereitungen so geschickt getroffen waren, daß sich heute nicht mehr der Weg bestimmen läßt, auf welchem das Gold in den Schmelztiegel gekommen ist. Vgl. Kopp, Geschichte der Chemie (Braunschw. 1843–47, 4 Bde.); Derselbe, Beiträge zur Geschichte der Chemie (das. 1869–75, 3 Stück); Schmieder, Geschichte der A. (Halle 1832); Lewinstein, Die A. und die Alchimisten (Berl. 1870).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: 19.