Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Charakter“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Charakter“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 3 (1886), Seite 943944
Mehr zum Thema bei
Wikisource-Logo
Wikisource: [[{{{Wikisource}}}]]
Wikipedia-Logo
Wikipedia: Charakter
Wiktionary-Logo
Wiktionary: Charakter
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Indexseite
Empfohlene Zitierweise
Charakter. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 3, Seite 943–944. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Charakter (Version vom 29.10.2021)

[943] Charakter (griech., ursprünglich ein eingegrabenes oder eingeprägtes Zeichen), das bleibende Gepräge, die dauernde Eigentümlichkeit eines Dinges, wodurch sich dasselbe von andern unterscheidet, und welche daher zu dessen (ausschließender) Bezeichnung dienen können. In diesem Sinn läßt sich jedem leblosen und lebendigen Objekt, Natur- und Kunstgegenstand (Berg, Pflanze, Tier, menschlichem Wesen) C. beilegen. Im besondern wird das Wort nur auf diejenige Eigentümlichkeit angewandt, welche deren Träger nicht von andern (aus der Hand der Natur oder des Künstlers) empfangen, sondern sich selbst gegeben hat, für welche er andern gegenüber daher auch allein verantwortlich erscheint. In diesem Sinn kann unter allen Naturwesen nur bei dem Menschen und auch bei diesem nur in Bezug auf dasjenige, was an ihm nicht als Werk natürlicher Anlage, des Naturells (s. d.) oder Temperaments (s. d.), oder äußerer Umstände, sondern seines persönlichen Wollens gilt, von C. die Rede sein. C. in dieser Bedeutung bezeichnet die dauernde, selbsterworbene Eigentümlichkeit des gesamten Wollens (und Thuns) einer gewissen Persönlichkeit, welche, einmal erkannt, einen Wahrscheinlichkeitsschluß gestattet darauf, wie sich dieselbe auf gebotene Veranlassungen verhalten werde. Damit eine solche vorhanden sei, muß nicht nur das gesamte Wollen unter der Herrschaft von praktischen Grundsätzen (Maximen), wodurch Freiheit, sondern müssen die letztern selbst unter der Leitung eines obersten Grundsatzes stehen, wodurch Einheit in das gesamte Wollen (und Handeln) kommt. Fehlt es an Grundsätzen, oder mangelt den vorhandenen der Einfluß auf das Wollen, so findet Charakterlosigkeit, dagegen, wenn zwei herrschende Maximen (Charakterzüge) vorhanden sind, dieselben aber untereinander im Widerstreit stehen, Widerspruch im C. statt. Der C. läßt sich daher mit einem Kunstwerk vergleichen, dessen Material das Wollen, dessen Künstler der Wollende und dessen Idee der leitende praktische Grundsatz (das Ideal des Wollenden) ist. Die Herrschaft, welche der Wollende über sein Wollen besitzt, und die innere Konsequenz und Folgerichtigkeit, die dem C. innewohnt, werden auch dann noch Interesse, ja, wenn sie in seltenem Grad auftreten, Bewunderung einflößen, wenn der Inhalt der obersten leitenden Maxime (wie dies bei Charakteren der Geschichte und der Dichtung oft genug eintritt, z. B. bei Richard III., Karl Moor u. a.) von dem sittlichen Urteil verworfen werden muß. Der Besitz eines Charakters ist daher keineswegs schon mit jenem der Sittlichkeit gleichbedeutend, wenn auch wahre Sittlichkeit ohne C. nicht denkbar ist. Letzterer bildet die Form, welche je nach der Beschaffenheit des obersten praktischen Grundsatzes ebensogut mit einem sittlichen wie mit einem unsittlichen Inhalt erfüllt werden kann (sittlicher, unsittlicher C.). Da der C. nach obigem eine selbsterworbene Eigentümlichkeit des Wollens sein soll, so kann es (zwar ein angeerbtes Naturell oder Temperament, aber) nicht einen angeerbten C. geben. Auch kann, da nur das einzelne Individuum, nicht aber eine Mehrheit von solchen (ein Stand, Volk, Zeitalter) ein „Selbst“ im strengern Sinn des Worts besitzt, von dem C. eines Standes, einer Nation, eines Zeitalters nur in uneigentlicher Bedeutung gesprochen werden. Als erworbener Seelenzustand endlich darf der C. zwar als (vorläufig) beharrend, aber er muß nicht als unvergänglich angesehen werden. Vielmehr ist er wie der Herausbildung (aus einem Zustand, in welchem entweder keine Maximen vorhanden oder die vorhandenen noch ohnmächtig sind), so der Umbildung (wenn an die Stelle der bisherigen leitenden Grundsätze andre treten) und des allmählichen (oder plötzlichen) Verfalles fähig (wenn Affekte, Gemüts- oder körperliche Krankheiten die Beherrschung des Wollens durch praktische Urteile unmöglich machen). Unvergänglichkeit sowohl als zeitlose Entstehung, beide mit dem Zeugnis der Erfahrung unverträglich, sind daher von Kant sowohl als von Schopenhauer nur dem sogen. intelligibeln, d. h. jenseit der Erfahrungswelt gelegenen, C. beigelegt worden. Die Bildsamkeit des Charakters sowohl im psychologischen (zur Beherrschung des Wollens durch praktische Grundsätze, psychische Freiheit) als im ethischen Sinn (zur Beherrschung des Wollens durch die zu Maximen erhobenen sittlichen Ideen, sittliche Freiheit, Tugend) macht die notwendige Voraussetzung, die wirkliche Ausbildung desselben den einzig menschenwürdigen Zweck aller privaten und [944] öffentlichen Erziehung aus. – In der Ästhetik bezeichnet C. die Übereinstimmung des Kunstwerks entweder mit seinem (wirklichen oder erfundenen) Vorbild, oder mit den Gesetzen und Grenzen seiner Kunst und Kunstgattung, oder mit den Bedingungen seines Materials. Damit dieselbe vorhanden sei, müssen die wesentlichen Merkmale des darzustellenden Gegenstandes, oder der besondern Kunst oder Kunstgattung, oder des technischen Materials der Darstellung aufgeprägt sein. So hat ein Drama C., wenn es, wie Schillers „Wallenstein“, die Eigentümlichkeit der Zeit, welcher sein Stoff angehört, aber auch, wenn es, wie dieser, in Bau, Stil und Haltung das Wesen seiner Kunstgattung, der dramatischen, scharf hervortreten läßt. Im dritten Sinn kommt einem Bau-, Bild- oder Schnitzwerk C. zu, wenn in demselben die spezifische Natur des verwendeten Materials (Back- oder Haustein, Erz oder Marmor, Holz oder Elfenbein) zum Ausdruck kommt. Verwischung des Eigentümlichen in jeder der obigen Bedeutungen ist (ästhetische) Charakterlosigkeit. – C. ist auch s. v. w. Titel, Würde, Stand.