Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Naturell“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 12 (1888), Seite 10
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Naturell. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 12, Seite 10. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Naturell (Version vom 02.04.2022)

[10] Naturell (franz. naturel), der Inbegriff der ganzen leiblichen Eigentümlichkeit des Individuums, sofern seine geistige dadurch bleibend beeinflußt wird. Dasselbe unterscheidet sich sowohl von der leiblichen Natur, bei welcher von deren Einfluß auf den Geist abgesehen, als von dem Temperament (s. d.), bei welchem nur der Einfluß des Nervensystems auf denselben berücksichtigt wird. Streng genommen hat jeder Mensch, weil unter besondern äußern physikalischen Einflüssen (Boden, Klima, Nahrungsverhältnissen etc.) und von besondern Eltern (Goethes „Frohnatur“ von der Mutter, „Statur“ und „des Lebens ernste Führung“ vom Vater) geboren, sein eignes N. Wird im weitern Sinn die ganzen Familien, Stämmen, Völkern, die unter gemeinsamem Himmelsstrich und verwandten physischen Bedingungen leben, sowie die Geschlechtern und Lebensaltern allenthalben gemeinschaftliche leibliche Beschaffenheit in Betracht gezogen, so läßt sich von einem Familien-, Stammes-, Volks- sowie von einem Geschlechts- und Altersnaturell sprechen. Südlichen Völkern wird ein hitziges, nördlichen ein kälteres N. beigelegt; gewisse Familien, z. B. die der ersten römischen Cäsaren, zeichneten sich durch ein erbliches N. („Cäsarenwahnsinn“) aus; große Herrscherinnen, wie Elisabeth, Maria Theresia, Katharina II., vermochten doch niemals vollständig das N. des Weibes zu verleugnen; im Knaben, Jüngling, Mann und Greis äußert sich nach der berühmten Schilderung der Lebensalter in Horatius’ „Brief an die Pisonen“ ein verwandeltes N. Da sich die leibliche Konstitution bis zu einem gewissen Grade durch künstliche Mittel (Diät, ausschließlicher Genuß gewisser Nahrungsstoffe, Vegetarismus) bleibend umstimmen läßt, wodurch auch deren Einfluß auf das geistige und Gemütsleben sich ändert, so kann man im Gegensatz zum ursprünglichen (angebornen) auch von einem anerzogenen (erworbenen) N. reden.