Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Temperamént“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 15 (1889), Seite 584
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Temperamént. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 15, Seite 584. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Temperam%C3%A9nt (Version vom 25.04.2024)

[584] Temperamént (lat.), ursprünglich ein gewisser spezifischer Wärmegrad (Temperatur) des Körpers. Man glaubte früher, daß dieser spezifische Wärmegrad abhängig sei von der Mischung der Säfte, und stellte daher so viel Temperamente auf, als man Kardinalsäfte des Körpers (rotes Arterienblut, schwarze Galle, gelbe Galle oder der Schleim und Lymphe) annahm. Je nach dem Vorherrschen des einen oder andern Safts im Körper hat der Mensch ein sanguinisches, melancholisches, cholerisches oder lymphatisches (phlegmatisches) T. Das sanguinische T. hieß auch das warme, das melancholische das kalte, das cholerische das trockne, das phlegmatische auch das feuchte T. Obgleich sich dieser Ideengang keineswegs auf positive Thatsachen gründen läßt und als eine zusammenhängende Reihe von Irrtümern erscheint, so hat sich doch das Wort T. in der Umgangssprache erhalten, weil man das Bedürfnis fühlte, für gewisse Zustände und Erscheinungen am Körper, deren Wesen und innere Bedingungen nicht klar vor uns liegen (wie für andre unbestimmte Begriffe), ein einfaches Wort zur Hand zu haben. Die wissenschaftliche Medizin macht in Deutschland wenigstens keinen Gebrauch mehr von dem Wort und dem Begriff T., wohl aber geschieht dies noch in Frankreich. Um so mehr findet das Wort T. von seiten der Laien Verwendung, und man versteht darunter einen gewissen Teil der Konstitution, nämlich die Stimmung und die Weise der Thätigkeitsäußerung des Gehirns. Man hat die Temperamente folgendermaßen charakterisiert. Das sanguinische, warme T. ist mit Körperfülle, weicher, zarter Haut, angenehmer frischer Gesichtsfarbe, starker Füllung der Blutgefäße verbunden. Die körperlichen wie geistigen Funktionen sind leicht anzuregen; die Individuen von sanguinischem T. sind reizbar und empfindlich, meist heiter und fröhlich, aber veränderlich in ihrer Stimmung. Das melancholische oder sentimentale T. ist gekennzeichnet durch festen, straffen Körperbau, größere oder geringere Magerkeit, durch dicke, trockne, kühle Haut, die mit dunkeln Haaren besetzt ist. In allen Bewegungen und Handlungen zeigt sich eine gewisse Langsamkeit, die aber von großer Ausdauer begleitet ist. Die melancholischen Individuen sind ernst, mehr zu trüber Stimmung geneigt, verfallen verhältnismäßig oft in Geisteskrankheiten. Das cholerische oder trockne T. steht zwischen dem sanguinischen und melancholischen gleichsam in der Mitte. Es zeichnet sich durch einen leichtern und beweglichern Körperbau, durch weniger braune und behaarte Haut und eine lebhaftere Gesichtsfarbe aus, als diese dem melancholischen T. zukommen. Die cholerischen Individuen sind beweglich, erhalten leicht ein wildes Aussehen, sind zum Zorn geneigt, zeigen dabei Stärke und Nachhaltigkeit der Erregungen, Leidenschaftlichkeit. Die Kennzeichen des phlegmatischen, feuchten Temperaments sind: ein schlaffer, weicher Körperbau, weiche, weiße Haut, die wenig Haare zeigt, blondes Kopfhaar, hervorstehende Augen, gleichgültige Gesichtszüge; die geistigen und körperlichen Funktionen gehen träge von statten, geringe und langsame Reaktion gegen geistige Erregungen, geringe Empfindlichkeit gegen eigne und fremde Leiden; die phlegmatischen Individuen neigen zu Fettbildung. Man hat diese Temperamente auch untereinander kombiniert zu einem melancholisch-phlegmatischen etc. T., womit der Willkür in der Anwendung dieses ohnehin unbestimmten Begriffs vollkommene Freiheit gegeben wurde. Auch ein nervöses T. hat man aufgestellt, welches sich durch Muskelschwäche und große Nervenreizbarkeit kennzeichnen soll. Man hat auch versucht, den verschiedenen Temperamenten einen Einfluß auf die Entstehung gewisser Krankheiten zuzuschreiben.