MKL1888:Brüdergemeinde

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Brüdergemeinde“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 3 (1886), Seite 503504
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Brüdergemeinde. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 3, Seite 503–504. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Br%C3%BCdergemeinde (Version vom 23.03.2023)

[503] Brüdergemeinde (Brüderunität, Herrnhuter), die von den Nachkommen der Böhmischen und Mährischen Brüder gestiftete Religionsgesellschaft, deren Hauptsitz und Mittelpunkt Herrnhut ist. Steter Druck veranlaßte den Rest der Mährischen Brüder (s. d.) zu Anfang des 18. Jahrh., ihr Vaterland zu verlassen. Sie fanden Aufnahme bei dem Grafen Ludwig Nikolaus [504] v. Zinzendorf (s. d.) und ließen sich mit dessen Erlaubnis 17. Juni 1722 auf seinem Rittergut Berthelsdorf in der Nähe des Hutbergs nieder, wo nunmehr der Ort Herrnhut entstand. Das Wachsen der Kolonie bewog den Grafen, sein Amt an der Regierung in Dresden aufzugeben und sich zugleich mit Friedrich v. Watteville aus Bern und dem von ihm berufenen Pfarrer Rothe in Berthelsdorf der Leitung der jungen Gemeinde anzunehmen, in welcher Zwistigkeiten mancherlei Art, Lehrstreitigkeiten und religiöse Schwärmerei eingerissen waren. Am 12. Mai 1727 verband sich die Gemeinde, etwa 300 Seelen stark, zu einer selbständigen, freien christlichen Societät auf Grundlage der mährischen Brüderordnung und hielt ihre erste abgesonderte Abendmahlsfeier in der Kirche zu Berthelsdorf 13. Aug. 1727 (Stiftungstag). Das einzige Band der Gemeinschaft sollte die persönliche Liebe zu Jesus, das dankbar freudige Gefühl der Erlösung durch sein Blut sein. Dagegen sollten die Lehrmeinungen keine Scheidung bilden und die lutherische, reformierte und die mährische Richtung als drei „Tropen“ friedlich nebeneinander bestehen. Vorzugsweise war man bedacht auf Heiligung des Lebens und Ernst des christlichen Wandels. Im übrigen wollte die neue Gemeinde im Verband der sächsischen lutherischen Landeskirche verbleiben, und es wußte weder eine von Dresden gesandte Kommission noch ein Gutachten der Tübinger Fakultät etwas Erhebliches an ihr auszusetzen. Zinzendorf gründete zunächst in Hessen die Pilgergemeinden Herrenhaag und Marienborn. Dann wirkte er in Livland und Preußen für die Zwecke der B. und gründete in Schlesien die Gemeinden Gnadenberg und Gnadenfrei, später Gnadenfeld. Die diesen Gemeinden erteilte Generalkonzession (1742), die Anerkennung der Gemeinde in Sachsen (1748) und England (1749) erhoben sie um so mehr zu einer selbständigen Kirchengemeinschaft, als ihr Vorsteher Zinzendorf schon 1737 in Berlin die Weihe als Bischof der mährischen Kirche durch Jablonski erhalten hatte. Die Organisation der neuen Gemeinschaft der Brüderunität wurde auf mehreren Synoden (die erste allgemeine 1756 zu Herrnhut) fortgesetzt und auch innere Krisen überwunden, die zum Teil durch eine zu schwärmerische Richtung, zum Teil auch durch ökonomische Unternehmungen der Gemeinschaft veranlaßt waren. Ihre innerliche Ausbildung und Befähigung verdankt die B. nächst Zinzendorf dem rastlosen, umsichtigen Wirken von Johann v. Watteville und besonders Spangenbergs langjähriger ausgezeichneter Thätigkeit, durch welche sich die B. seitdem nicht nur immer weiter verbreitet, sondern auch von vielen Auswüchsen gereinigt hat.

Die Verfassung der B. ist eine durchaus synodale und presbyteriale. Die Bischöfe haben mit dem Kirchenregiment nichts zu thun und sind nur für den Kirchendienst berufen. Die Leitung des Ganzen hat das aus neun Mitgliedern bestehende „Unitätsdirektorium“ oder die „Ältestenkonferenz der Unität“, deren Sitz seit 1789 in Berthelsdorf ist. Über ihr steht die aus den Abgeordneten der drei Provinzen Amerika, England, Europa-Festland zusammengesetzte Synode, die alle 7–12 Jahre zusammentritt. Die 29. dieser Generalsynoden tagte vom 26. Mai bis 3. Juli 1879 und war von 54 Teilnehmern besucht, darunter 20 Engländer und Amerikaner. Sie erhob die westindische Missionsprovinz zu einer neuen (vierten) Provinz der Unität. Als das eigentliche Haupt der B. gilt „der liebe Heiland“, dessen Willen man daher bei wichtigen Entscheidungen selbst durch das Los zu erforschen sucht, und mit dem schon 1741 ein „Spezialbund“ geschlossen ward, der Christum verpflichtete, ganz besonders über die Gemeinde und jeden Herrnhuter zu wachen. Eigentümlich ist der B. die Einteilung der Gemeinden in „Chöre“, d. h. nach Alter, Geschlecht und Lebensverhältnis zu asketischen Zwecken vereinigte Gruppen, daher man in jeder Gemeinde einen Chor der Kinder, Knaben, Mädchen, ledigen Brüder, ledigen Schwestern, Witwer und Witwen findet. Die ledigen Brüder wohnen in dem Brüderhaus, wo sie mit Kunst- und Handwerksarbeiten beschäftigt und zu gemeinschaftlichen Andachtsübungen angehalten werden. Ebenso wohnen die ledigen Schwestern zusammen in dem Schwesternhaus, mit Ausnahme derjenigen, welche Familienglieder sind oder in Gemeindefamilien dienen.

Da nur Wert auf die persönliche Erweckung und Heilsgewißheit gelegt wird, so ist die B. gegen das Dogma ziemlich indifferent. Nur Spangenberg hat in der „Idea fidei fratrum“ (1779) eine Darstellung der Lehre in ihrer Übereinstimmung mit der evangelischen Kirche gegeben. Der Kultus hat den allgemein evangelischen Charakter, aber mit täglichen Morgen- und Abendversammlungen. Neben dem Abendmahl feiert man zuweilen das Liebesmahl mit Thee und Backwerk. Eine besondere Festfeier findet am Ostermorgen auf dem Gottesacker statt. In Niesky hat die Unität ein eignes Pädagogium. Der Einfluß der B. auf das christliche Leben in Deutschland, seine Belebung und seine Gestaltung ist nicht gering anzuschlagen; die „Täglichen Losungen und Lehrtexte“ sind weit verbreitet, ebenso ihre Lieder und Gebete. Durch Schleiermacher, der bei den Herrnhutern empfangene Eindrücke bewahrt hat, ist ein berechtigtes Element bleibend in die deutsche Theologie aufgenommen worden. Großartig ist die Wirksamkeit der B. für die Ausbreitung des Christentums unter den Heiden; in diesem Glanzpunkt der Gesellschaft beruht ihre welthistorische Bedeutung. Ihre Missionsthätigkeit begann fast unmittelbar nach Stiftung der Gemeinde und richtete sich zuerst nach St. Thomas, dann nach Lappland, Grönland, Guinea, Kapland, Amerika u. Ostindien, nach Australien (Victoria, Südaustralien, Queensland), immer an die versunkensten und verlorensten Stämme. Von den zum Dienst unter den Heiden sich Meldenden verlangt man weniger Gelehrsamkeit als die Gabe, die Wahrheiten und Segnungen des Evangeliums klar und liebreich durch Wort und That darzustellen. Der Kern der Heilsverkündigung unter den Heiden ist „die Botschaft von dem blutigen Versöhnungstod Jesu“. Das ganze Missionswesen steht unter der speziellen Aufsicht des Missionsdepartements der Unitätsdirektion. Die Gesamtzahl der Mitglieder der B. beträgt gegenwärtig 31,000, wozu noch im Missionsgebiet etwa 70,000 Heidenchristen kommen. Vgl. Cranz, Alte und neue Brüderhistorie (Barby 1773; fortgesetzt von Hegner, das. 1791–1804, 3 Bde.; Gnadau 1816); Spangenberg, Historische Nachrichten von der gegenwärtigen Verfassung der evangelischen Brüderunität (6. Aufl., das. 1847); Schrautenbach, Zinzendorf und die B. seiner Zeit (2. Aufl., das. 1872); Cröger, Geschichte der alten Brüderkirche 1457–1722 (das. 1865–66, 2 Tle.); Derselbe, Geschichte der erneuten Brüderkirche (das. 1852–54, 3 Bde.); Plitt, Zinzendorfs Theologie (Gotha 1869–74, 3 Bde.).