Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Aberglaube“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 33
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Aberglaube. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 33. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Aberglaube (Version vom 15.05.2021)

[33] Aberglaube (Afterglaube, lat. Superstitio), diejenige Gestaltung des Glaubens an übernatürliche Vorgänge, welche nicht oder nicht mehr dem herrschenden Glauben der Mehrheit entspricht oder über denselben hinausgeht. Vielfach handelt es sich dabei um Phantasievorstellungen des Volks, die einer primitiven Kulturstufe überhaupt entsprechen, weshalb der Volksaberglaube in den verschiedenen Weltteilen mannigfache Übereinstimmung zeigt, vielfach aber auch um sogen. Überlebsel aus einem ältern, durch neuere Formen ersetzten Volksglauben, z. B. aus dem alten Heidentum oder auch nur aus einer frühern Epoche der noch jetzt herrschenden Religionsform, wie z. B. der Hexenglaube. Psychologisch betrachtet, ergibt sich als Urquell der meisten Aberglaubensformen das Personifikationsbestreben des menschlichen Intellekts, welches allen ihm unerklärlichen Naturvorgängen ähnliche Ursachen unterlegt wie diejenigen, welche sein eignes Thun und Handeln regieren, d. h. also einer Individualität, mit der man Verbindungen anknüpfen und unterhandeln kann. Furcht und Eigennutz sind die beiden hauptsächlichsten Ursachen einer abergläubischen Disposition des Gemüts, indem durch sie die Phantasie verleitet und der Verstand gefangen genommen wird. Seinem Wesen nach ist der A. entweder theoretisch oder praktisch; jener besteht in der bloßen Vorstellung, dieser wirkt auf den Willen und dadurch auf das Handeln. Seinen Objekten nach ist er religiöser oder physikalischer A. Ersterer bezieht sich auf die Geisterwelt und hegt von ihrer Beschaffenheit wie von ihrer Verbindung mit der sinnlichen Welt Vorstellungen, welche der Vernunft und Erfahrung widerstreiten; aus ihm entstehen Abgötterei, Theosophie, Werkheiligkeit, Reliquiendienst, Glaube an die magische Kraft gewisser Zeremonien, durch welche die vorausgesetzten übernatürlichen Mächte zu Hilfsleistungen bewogen werden sollen (s. Magie), und ein großer Teil des Gespensterglaubens. Der physikalische A. bezieht sich auf das Wirken geheimer Zeichen und Naturkräfte und hat unter anderm die Astrologie, Chiromantie und Zauberei hervorgebracht. Hierher gehört natürlich auch der A. an Wunderdoktoren, Amulette u. dgl. Geschichtlich endlich unterscheidet man natürlichen und philosophischen oder gelehrten Aberglauben. Jener ist bei allen rohen, ungebildeten Völkern heimisch, dieser wirft dem rohen Irrwahn ein wissenschaftliches Gewand um. Abergläubische Meinungen sind oft harmlos, selbst nicht ohne poetischen Reiz, oft aber auch gefährlich. Sie machen furchtsam, unduldsam, bisweilen fanatisch. Das sicherste Mittel dagegen ist ein guter Volksunterricht durch Schulen und Schriften. Vgl. Schindler, Der A. des Mittelalters (Bresl. 1858); Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart (2. Bearb., Berl. 1869); Pfleiderer, Die Theorie des Aberglaubens (das. 1872); Meyer, Der A. des Mittelalters (Bas. 1884); über die psychologische Seite: Vignoli, Mythus und Wissenschaft (Leipz. 1880).