Lyon (Meyer’s Universum)
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In einem von Anhöhen eingeschlossenen fruchtbaren Thale, zum Theil auf jenen Anhöhen selbst, inmitten eines breiten, dichten Kranzes von Gärten und anmuthigen Landhäusern, unfern der Vereinigung zweier schiffbaren Ströme, der Saone und Rhone, liegt Lyon, die zweite Stadt Frankreichs. Von den höhern Stadttheilen schweift der Blick weit über das breite Thal und bis zum Jura hin, ja, bei klarem Himmel sieht man die weiße Kette der Alpen, scheinbar mehr dem Himmel angehörend, als der Erde, am Horizont glänzen, oder sich wiegen auf den Wolken.
Lyon ist das Lugdunum der Römer, und eine Menge Denkmäler erinnern an das klassische Alterthum. Die Stadt hat gegenwärtig an 10,000 Häuser und 200,000 Bewohner. Fast alle Gebäude sind massiv, in den ältern Stadttheilen oft 6 bis 7 Stockwerke hoch, und sie stehen dort in engen, winklichen, immer schmutzigen Straßen dicht bei einander. Desto schöner sind die neuern Theile, mit breiten, schnurgeraden Straßen und regelmäßigen Plätzen. Acht Brücken führen über die Saone, welche Lyon durchströmt und in zwei ungleiche Hälften scheidet. Die merkwürdigsten und schönsten Gebäude sind: das ehemalige Jesuiten-Collegium, der Dom, das Stadthaus, das Zeughaus, das große Hospital (NOTRE DAME DE PITIÉ) und ein sehr geräumiges Theater. Für Wissenschaft und Kunst war in Lyon von jeher ein reger Sinn und Wetteifer mit Paris. Die drei großen öffentlichen Bibliotheken haben zusammen über 500,000 Bände, und das Local der Stadtbibliothek ist vielleicht das schönste in Frankreich. Eine Gemäldegallerie, ein Museum für Alterthümer, zwei naturhistorische Sammlungen, ein großer, botanischer Garten, gehören zu den Jedermann zugänglichen Mitteln, sich zu unterrichten, und eine Menge Vereine (königl. Academie, naturforschende Gesellschaft, und die viel wirkende, literärische Academie für die Provinz), so wie die höhern Lehranstalten (Universität, Lyceum, Thierarznei-Schule, Zeichenacademie etc. etc.), befördern die allgemeine Bildung.
Lyon war, vermöge seiner Lage, am Vereinigungspunkte von zwei großen Wasserstraßen, zu allen Zeiten ein wichtiger Handelsort. Doch die Hauptstütze seiner Größe und seines Reichthums hat es immer in seinen Seidenmanufakturen gefunden, deren mehr oder minderer Flor auch den der Stadt bedingt. Ihre beste Zeit fällt in das Ende der Regierungsperiode Ludwigs XIV., jenes Monarchen, dessen Prachtliebe in der ganzen übrigen Welt übertriebenen Luxus verbreitete, wodurch der Verbrauch der Seidenstoffe in’s Unglaubliche sich steigerte. Damals [90] waren in Lyon 35,000 Seidenwebestühle im Gange, die 180,000 Menschen beschäftigten, und 20,000 ernährte die Fabrikation goldener und silberner Tressen. Die Zahl der Lyoner Einwohner überstieg 300,000. Aber die Veränderung des Geschmacks, mehr noch die Verpflanzung der Lyoner Manufakturen in’s Ausland, (nach der Schweiz, England etc. etc.), brachte diese Gewerbe allmählich und bis zur Zeit der Revolution, gar sehr herab. 1788 beschäftigten 10,000 Stühle nur noch 60,000 Menschen. Während der franz. Revolution war Lyon, als der Heerd des Royalismus (denn ein verschwenderischer Königshof und das Gedeihen der Lyoner Gewerbe waren, im Volksglauben, eins), allen Gräueln des Bürgerkriegs hingegeben und mehr als einmal der Schauplatz von Scenen, welche der Menschenfreund in ewige Nacht hüllen möchte. Tausend und tausend seiner Bürger fraß das Beil der Guillotine, oder die Kartätsche, welche man hier als Henkerwerkzeug gebrauchte, oder verschlangen die Fluthen, oder zehrte in der Belagerung von 1793 der Hunger auf. – 1801 waren nur noch 120,000 Einwohner übrig, und von 9000 Webstühlen ruheten über 6000. Unter Napoleon, welcher den Erzeugnissen der französischen Industrie den ganzen Continent öffnete, nahm der so sehr gesunkene Flor Lyon’s rasch wieder zu und 1814 zählte man in den Seidenfabriken 16,000 Stühle in Thätigkeit und die Einwohnerzahl war bis auf 190,000 gestiegen.
Auf dieser Höhe erhielt es sich nicht. Die Mauthlinien, mit welchen, nach dem Sturze Napoleon’s, die Nachbarstaaten Frankreich umgürteten, beschränkten den Markt für seine Erzeugnisse nothwendig gar sehr; an den überseeischen Plätzen aber fanden sie an englischen und deutschen Seidenfabrikaten Conkurrenten und der dortige Absatz konnte den Ausfall im europäischen nicht ersetzen. So kamen mit der Restauration die Lyoner Fabriken in Abnahme. Das Bestreben der Fabrikanten, trotz der hohen Einfuhrzölle sich auf dem europäischen Continent den Markt zu erhalten, brachte es mit sich, sie darauf denken zu lassen, die Fabrikationskosten zu mindern, und dieß mußte wiederum zu einer fortschreitenden Herabsetzung des Lohns der Arbeiter führen. Aus einem solchen Verhältniß werden sich überall, wo Industrie große kompakte Massen beschäftigt, die nämlichen Folgen und Gefahren entwickeln und es ist die Grundursache jener Arbeiteraufstände, die in unsern Tagen so häufig geworden sind.
Daher sind die Fabrikherren gleichsam in die Rolle der Barone des Mittelalters getreten; sie brauchen nur ihre Werkstätten zu schließen und eine Armee von Heloten ist brodlos und Jedem zu folgen bereit, welcher sie führen will. Je kolossaler sich die Industrie ausbildet, je schneller und gewaltiger sie alle Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Subsistenzmittel des Handwerkers zerstört, je mehr muß sich der Helotismus steigern, desto häufiger wird ihn eine Stockung außer Brod setzen, und desto nöthiger auch wird der festgegliederte Widerstand Derer, welche etwas besitzen, wider Die werden, welche nichts haben und nach Allem gelüsten. Daher ist in unserer Zeit, in Paris wie in Lyon, die Nationalgarde, in England die Yeomanry von so großer Bedeutung geworden. Darum hat auch ein gewisser Pseudo-Republikanismus, welcher unter dem weisen Gewand der Begeisterung für Menschenrechte und [91] Freiheit die Diebsjacke verbirgt, in dem Helotismus ein unverwüstliches Daseyn, denn jener hat einen Zweck, den jeder Helote begreift. Und so werden denn Paris und Lyon immerfort Heerde der Unzufriedenheit bleiben, deren Ausbrüche jeden Augenblick die gesellschaftlichen Verhältnisse Frankreichs, und folglich die Ruhe Europa’s von Grund aus gefährden können. Sahen wir sie ja in unsern Tagen schon dreimal dadurch erschüttert und beide Städte in Schlachtfelder verwandelt, auf welchen mitten im Frieden die Dämonen des Kriegs blutige Gräuel trieben.
Bedenke man, um die Größe der Gefahr ganz zu begreifen, noch ferner, daß die Mehrzahl dieser Arbeiter gedient hat und fertig mit den Waffen umgehen kann, folglich sich einem tüchtigen Führer sogleich militärisch unterzuordnen versteht, und daß nirgends in der Welt so sehr als in jenen Städten durch den Unflath einer sittenlosen Unterhaltungsliteratur das Gift der Demoralisation, des Atheismus und der Mißachtung von Tugend und Recht die untersten Klassen angesteckt und durchdrungen hat. „Die Gesellschaft in Paris und Lyon ist eine Bande von Spitzbuben; der ehrliche Mann kommt da in’s Narrenhaus, die Dummheit aber an den Galgen!“ – urtheilte Börne; hart zwar, aber gewiß mit etwas mehr Wahrheit als Lüge.
Noch ist der Abgrund der Revolution nirgends ein geschlossener; am wenigsten aber ist er’s in Frankreich. Helotismus an dem einen, und Treulosigkeit an dem andern Ende der Gesellschaft halten ihn offen. Wir haben es im Juliaufstande gesehen, wer die Factoren waren. Wer sie damals erblickt hat, dem werden sie bei jeder Veranlassung vor die Seele treten, und die Ueberzeugung wird nimmer von ihm weichen, daß der Helotismus in Frankreich berufen sey, zur geeigneten Stunde an den höhern Klassen eine Vergeltung zu üben, welche sie schon dadurch verdient haben, daß sie durch ihr Beispiel stets hinwirkten, die Hefe der Gesellschaft in fauler Gährung zu erhalten; daß sie solche weder vernünftig erzogen, noch nützlich unterrichteten, noch ihr Achtung vor den Gesetzen einflößten; vielmehr sie stets als ein feiles, niedriges Werkzeug behandelten, das man kauft, braucht und abnutzt, und nach Gefallen bald hätschelt, bald höhnt, oder mit Kartätschenfeuer regalirt. – TANGERE ULCUS. –