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waren in Lyon 35,000 Seidenwebestühle im Gange, die 180,000 Menschen beschäftigten, und 20,000 ernährte die Fabrikation goldener und silberner Tressen. Die Zahl der Lyoner Einwohner überstieg 300,000. Aber die Veränderung des Geschmacks, mehr noch die Verpflanzung der Lyoner Manufakturen in’s Ausland, (nach der Schweiz, England etc. etc.), brachte diese Gewerbe allmählich und bis zur Zeit der Revolution, gar sehr herab. 1788 beschäftigten 10,000 Stühle nur noch 60,000 Menschen. Während der franz. Revolution war Lyon, als der Heerd des Royalismus (denn ein verschwenderischer Königshof und das Gedeihen der Lyoner Gewerbe waren, im Volksglauben, eins), allen Gräueln des Bürgerkriegs hingegeben und mehr als einmal der Schauplatz von Scenen, welche der Menschenfreund in ewige Nacht hüllen möchte. Tausend und tausend seiner Bürger fraß das Beil der Guillotine, oder die Kartätsche, welche man hier als Henkerwerkzeug gebrauchte, oder verschlangen die Fluthen, oder zehrte in der Belagerung von 1793 der Hunger auf. – 1801 waren nur noch 120,000 Einwohner übrig, und von 9000 Webstühlen ruheten über 6000. Unter Napoleon, welcher den Erzeugnissen der französischen Industrie den ganzen Continent öffnete, nahm der so sehr gesunkene Flor Lyon’s rasch wieder zu und 1814 zählte man in den Seidenfabriken 16,000 Stühle in Thätigkeit und die Einwohnerzahl war bis auf 190,000 gestiegen.

Auf dieser Höhe erhielt es sich nicht. Die Mauthlinien, mit welchen, nach dem Sturze Napoleon’s, die Nachbarstaaten Frankreich umgürteten, beschränkten den Markt für seine Erzeugnisse nothwendig gar sehr; an den überseeischen Plätzen aber fanden sie an englischen und deutschen Seitenfabrikaten Conkurrenten und der dortige Absatz konnte den Ausfall im europäischen nicht ersetzen. So kamen mit der Restauration die Lyoner Fabriken in Abnahme. Das Bestreben der Fabrikanten, trotz der hohen Einfuhrzölle sich auf dem europäischen Continent den Markt zu erhalten, brachte es mit sich, sie darauf denken zu lassen, die Fabrikationskosten zu mindern, und dieß mußte wiederum zu einer fortschreitenden Herabsetzung des Lohns der Arbeiter führen. Aus einem solchen Verhältniß werden sich überall, wo Industrie große kompakte Massen beschäftigt, die nämlichen Folgen und Gefahren entwickeln und es ist die Grundursache jener Arbeiteraufstände, die in unsern Tagen so häufig geworden sind.

Daher sind die Fabrikherren gleichsam in die Rolle der Barone des Mittelalters getreten; sie brauchen nur ihre Werkstätten zu schließen und eine Armee von Heloten ist brodlos und Jedem zu folgen bereit, welcher sie führen will. Je kolossaler sich die Industrie ausbildet, je schneller und gewaltiger sie alle Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Subsistenzmittel des Handwerkers zerstört, je mehr muß sich der Helotismus steigern, desto häufiger wird ihn eine Stockung außer Brod setzen, und desto nöthiger auch wird der festgegliederte Widerstand Derer, welche etwas besitzen, wider Die werden, welche nichts haben und nach Allem gelüsten. Daher ist in unserer Zeit, in Paris wie in Lyon, die Nationalgarde, in England die Yeomanry von so großer Bedeutung geworden. Darum hat auch ein gewisser Pseudo-Republikanismus, welcher unter dem weisen Gewand der Begeisterung für Menschenrechte und

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/160&oldid=- (Version vom 7.10.2024)