Luther auf der Wartburg
Luther’s letztes Wort auf dem Wormser Reichstage „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir; Amen!“ hatte jeden ferneren Versuch, ihn in Worms zum Widerruf zu bewegen, vereitelt. Dafür sollte er zum Schweigen gebracht werden, vor Allem wo möglich nicht wieder nach Wittenberg gelangen. Bei solchen Anschlägen von Seiten seiner Feinde mußten seine Freunde um so mehr darauf bedacht sein, ihn bei Zeiten der Gefahr zu entrücken, aber die Macht und Entschlossenheit dazu besaß allein sein hoher Beschützer, der weise Kurfürst Friedrich von Sachsen, doch war dieser viel zu gewissenhaft, sich der Verlegenheit auszusetzen, dem Kaiser gegenüber den Ort zu kennen, wo er Luther etwa geborgen habe. Er besprach daher den Plan mit seinem Hofprediger und Geheimschreiber Spalatin und überließ diesem die weitern Maßnahmen. Jedenfalls hatte Spalatin als solches Asyl die kurfürstliche Wartburg fern von Wittenberg im Auge, überließ aber die weitere Ausführung des kühnen Planes lieber der Uebung eines starken Haudegens in Abenteuern, als den er wohl den Schloßhauptmann der Burg, Hans v. Berlepsch, kannte, denn noch blühte das goldene Zeitalter, in welchem feindlicher Angriff mit gespannter Armbrust oder eingelegter Lanze dem Reisenden häufig die Straße verlegte. Den vertrauten Boten Spalatin’s an den Hauptmann verschweigt uns die Geschichte; ihn selbst, als den Geheimsecretair des Kurfürsten, hielten noch wichtige Geschäfte in weltlichen Angelegenheiten am Reichstag zu Worms zurück. Luther selbst erfuhr nur im Allgemeinen, daß man damit umgehe, ihn der Macht seiner Feinde zu entrücken; wie seine Sicherung bewerkstelligt werden sollte, war ihm dagegen nicht bekannt. Daß Berlepsch von Spalatin’s Idee, Luther auf der Rückreise einen Ausflug zu seinen Verwandten in Möhra machen zu lassen und auf diesem Abstecher in Sicherheit zu bringen, unterrichtet wurde, ist natürlich, vielleicht rieth er selbst dazu, da es ihm wohl bedenklich erschien, Luther schon von Eisenach aus zu entführen. Allein auch der Umweg über Möhra und Altenstein war durchaus nicht ohne Gefahr, wenn ein Fanatiker zu einem Ueberfall einen Umstand benutzte, ohne welchen die Gefangennahme auch in friedlicher Absicht unmöglich war, nämlich die gelegentliche Entfernung des kaiserlichen Heroldes, denn der Weg zog sich zum Theil durch das Gebiet der streng katholischen Grafen Wilhelm und Heinrich v. Henneberg, ehe er in das des sächsischen Ritters Burkhard Hund v. Wenkheim zum Altenstein überführte. Da nun schon in Worms durch Spalatin Anstalt getroffen worden war, den Geleitsmann zur rechten Zeit zu Gunsten des Wartburg-Hauptmanns zu beseitigen, so blieb dem Ritter noch die Aufgabe, auch den Nachbar des hennebergischen Gebietes, Burkhard Hund auf Altenstein, in das Geheimniß zu ziehen, damit dieser jenes so lange als nöthig überwachte. Der Ritter war zur Unterstützung um so leichter zu gewinnen, als er sein Besitzthum dem Kurfürsten zu danken hatte. Sein älterer Bruder, Hans Hund von Wenkheim bei Lauringen in Baiern, war aus einem jetzt unbekannten Grunde in Friedrich’s des Weisen Dienste getreten und später mit Schloß und Herrschaft Altenstein belehnt worden, weil er mit anderen Rittern den Fürsten 1493 auf seiner Pilgerfahrt zum heiligen Grabe begleitet, dabei aber einen großen Theil seines Vermögens eingebüßt hatte. Ueberdies war Burkhard Hund auch eher im Stande, den geeignetsten Platz zur Aufhebung in der dortigen Gegend ausfindig zu machen, als der Hauptmann der fernen Wartburg selbst.
Man erkor daher zu diesem Platze den zwischen waldigen Höhen versteckten Hohlweg, jene Strecke der Straße von Franken nach Thüringen, die sich unterhalb einer verfallenen Capelle, zum Glisbach genannt, in etwas gebogener Richtung hinzog und in die [615] der Weg von Möhra über Altenstein einmündete. Wir wissen nicht, wie weit alle diese Anstalten schon gediehen waren, als Luther am Vormittag des 26. April mit seinen früheren Begleitern von Worms wieder abreiste, um über Oppenheim zurückzukehren, wo ihn erst nach zwei Stunden der kaiserliche Herold, Caspar Sturm, einholte und über Frankfurt bis Friedberg in der Wetterau geleitete. Von hier aus wurde der Herold, um ihn für den verabredeten Handstreich unschädlich zu machen, wieder zurück nach Worms mit Briefen an den Kaiser und an Spalatin geschickt, nachdem ein Ritter des jungen Landgrafen Philipp v. Hessen, der bereits für die neue Lehre sich begeisterte, das Geleit übernommen hatte.
Der starke Glaubensheld, der unerschrocken vor Kaiser und Papst stand und lieber mit dem Leben sein Wort besiegelt hätte, überließ sich jetzt ruhig der liebenden Sorgfalt seines Beschützers. Schon bei seiner Einkehr in Frankfurt schrieb er dem berühmten Maler Lucas Cranach nach Wittenberg, um ihn über sein Schicksal zu beruhigen: „Lieber Gevatter Lucas, ich segne und befehle Euch Gott; ich lasse mich einthun und verbergen, weiß selbst nicht wo, wie wohl ich lieber den Tod erlitten, muß aber doch guter Freunde Rath nicht verachten bis zu seiner Zeit. Es muß eine kleine Weile geschwiegen und gelitten sein. Ein Wenig sehet Ihr mich nicht und aber über ein Wenig sehet Ihr mich, spricht Christus. Ich hoffe, es soll jetzt auch so gehen.“
Noch war die Acht gegen Luther nicht öffentlich verkündet, aber der Ruf war ihm bereits von Worms aus wie ein geflügelter Bote mit der frohen Kunde von seinem mannhaften Auftreten auf dem Reichstage vorausgeeilt. Seine Rückkehr glich einem Triumphzug, denn die, welche ihm bei seiner Hinreise als einem gewissen Opfer des Priesterhasses nachgeschaut hatten, frohlockten jetzt ihm und seinen Freunden entgegen, ja sogar von mancher Seite, von welcher es im höchsten Grade unvorsichtig erschien. Vor Hersfeld nämlich begrüßte ihn der Abt mit einem Ehrengeleite von Rittern und Mitgliedern des Stadtraths, nachdem für eine treffliche Bewirthung im Kloster gesorgt war, denn von Grünberg aus, wo Luther übernachtet hatte, war die Kunde von seinem Eintreffen vorhergegangen, und trotz des kaiserlichen Verbots, nirgends zu predigen, sah sich doch Luther auf dringendes Bitten des Abtes dazu genöthigt. Bei seinem Weggang gab ihm dieser das Geleit, nachdem er seinem Kanzler abermals geboten hatte, den gefeierten Gast durch eine feine Mahlzeit in Berka an der Werra zu bewirthen. Vor Eisenach holte ihn ein ähnlicher Ehrenzug von Bürgern ein, und während er hier in seiner „lieben Stadt“ ruhig schlief, erhob sich in derselben Nacht zu Erfurt ein tobender Haufen seiner jugendlichen Verehrer, größtentheils Studenten, weil der Dechant des Severistiftes einen Anhänger der neuen Lehre, den Docenten der Universität Dr. Joh. Drach, bei einer gottesdienstlichen Handlung von den Stufen des Hochaltars gestoßen hatte. So drückte sich allenthalben die öffentliche Stimmung über den großen Mann in der verschiedensten Weise aus.
Den folgenden Tag (2. Mai) verweilte er in Eisenach, predigte daselbst noch in Gegenwart seiner Reisegefährten, die ihn nun bis auf den Professor der Theologie Nicolaus von Amsdorf verließen, um über Gotha nach Wittenberg zurückzukehren, während er, wie erwähnt, seitwärts nach Möhra[2] bei Salzungen zum Besuch seiner Verwandten fuhr, denn noch lebte hier seine alte Großmutter bei seinem Oheim Heinz Luther, einem schlichten Bauer, bei dem er selbst zu dem kurzen Aufenthalt einkehrte. Seine Großmutter sollte er zum letzten Male in seine Arme schließen; sie starb schon nach einem halben Jahr am 21. September. Auch seinen Bruder Jacob traf er da, doch läßt sich nicht angeben, in welcher Absicht derselbe von Mansfeld, wo er Bergmann war, dahin kam. Des anderen Tages (am 4. Mai) reiste er, nachdem er, der Sage nach, unter einer Linde vor den Bewohnern des Dorfes gepredigt hatte, unter Begleitung einer großen Anzahl derselben sowie seines Bruders Jacob, der über Waltershausen in seiner Gesellschaft nach Hause zurückkehren wollte, ab. Nach einer Lesart war auch der bekannte Myconius, Pfarrer zu Gotha, dabei. Das Fuhrwerk, einen schlichten Stuhlwagen, hatte der Stadtrath zu Wittenberg zur Reise nach Worms mitgegeben und jetzt ein Verwandter zu Möhra zwei frische Pferde vorgelegt. So ging die Reise durch das kleine Dorf Waldfisch, dann das größere Schweina, das man zwischen vier und fünf Uhr Nachmittags durchzog. Der steile Berg nach Altenstein, wo er seine Möhraer Verwandten zurückzukehren bat, erheischte, langsam zu fahren, deshalb war es schon etwas spät am Tage geworden, als man den Hohlweg unterhalb der Capelle erreichte. Hier sollte ihm plötzlich das Geheimniß, in das er noch nicht ganz eingeweiht war, gelöst werden, denn auf einmal sprengte aus dem Walde ein Reiter mit herabgelassenem Visir an der Spitze einer Schaar von vier Reisigen zu einem Angriff heran. Das Eintreffen des Wagens unterhalb der Capelle war also das verabredete Zeichen zu diesem Ueberfall gewesen. Ob ihn Berlepsch oder Burkhard Hund leitete, ist nicht bekannt, die Uebrigen waren nur reisige Knechte, Alle zusammen jedoch durch die Visire unkenntlich. Bruder Jacob sprang beim Anblick der Männer sofort vom Wagen und entlief. Der eine der Angreifer fällt darauf den Pferden in die Zügel, während er den Fuhrmann barsch anläßt, was er für Leute da führe; indem er ihm gebietet, stille zu halten, schlägt er ihn mit der Armbrust so, daß er unter ein Pferd herab rollt. Währenddem drängen sich die beiden Ritter an den Wagen mit der Frage, wer von den Reisenden der Luther sei, und als sich dieser zu erkennen giebt, hält ihm der eine die gespannte Armbrust mit dem Verlangen entgegen, sich zu ergeben. Seine Begleiter Amsdorf und Myconius bitten um Schonung, aber Luther, das Ereigniß sogleich würdigend, raunte dem Ersteren zur Beruhigung die Worte zu: „Confide, amici nostri sunt“ (sei gutes Muthes, es sind unsere Freunde). Darauf wird Luther vom Wagen gezogen, sein Priestergewand mit einem Gepner (Reitermantel) vertauscht und er in den Wald geführt und auf ein Pferd gesetzt.
Während die Angst um den theuren Bruder Jacob’s Schritte beflügelte, damit er so schnell als möglich die Trauerbotschaft von dem Ueberfall nach Waltershausen bringe, und Amsdorf und Myconius beruhigt über die Dörfer Schmerbach und Langenheim dem Städtchen zufuhren, zogen die Ritter Luthern tiefer in den Wald hinein und banden einen Mann auf ein zweites Pferd, als hätten sie auf einem Streifzug einen Verbrecher gefangen. Nun galt es überdies, da es noch nicht dunkel geworden war, sich den Anschein zu geben, als sei ihr Ziel nicht die Wartburg, denn sonst hätten sie die Richtung nach Ruhla oder Etterwinden einschlagen müssen, sondern sie nahmen die Direction nach dem Inselsberg zu, um den Wanderer oder Waldarbeiter, der ihnen aufstoßen könnte, über ihre Absicht zu täuschen; deshalb zogen sie über den sogen. Reiterstieg den Weg seitwärts nach Brotterode zu und kamen im Dunkel der Nacht durch Wald und Berg gegen elf Uhr auf die Wartburg.
Es waren vier bis fünf Stunden Weges, die sie seit der Aufhebung zurückgelegt hatten, so daß Luther, der schon seit den Tagen in Worms sich unwohl fühlte, müde und marode, wie er später Amsdorf selbst schrieb, vom Pferde stieg. Die Ritter schlossen darauf den gefangenen Doctor „auf’s Härteste mit Ungestüm“ in ein Gemach, daß der Thorwart nicht anders glaubte, als daß sie einen Verbrecher auf der Straße ergriffen und zur Haft gebracht hätten.
Von der glücklichen Ausführung des Anschlages rühmt Myconius selbst: „Es ist nie erhöret worden, daß ein Sach so heimlich hätte können gehalten werden, als diese, wer doch den Luther gefangen und hinweggeführt hätte. Es wurde von viel Leuten, auch am Reichstag, geglaubt, es wäre ein ernst Gefängniß gewesen, so recht heimlich wurde es verhalten.“ Indessen war die Gefangennahme, wenn auch nicht der Einzug in die Wartburg, doch verrathen und in Möhra bekannt geworden, denn Luther’s Oheim meldet dem Canonicus Georg König in Eisenach die Entführung seines Vetters mit dem Bemerken, die Reiter hätten ihren Hufschlag nach Brotterode genommen. Auch später kam die Erzählung davon vielleicht durch einen der Reitersknechte unter das Volk, in dessen Munde sie fortlebte, bis sie nach etwa einhundert Jahren von dem Pfarrer Hattenbach zu Schweina in das Kirchenbuch daselbst aufgezeichnet wurde, so wie wir sie, der Hauptsache nach, berichteten. Es war in der Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag, als der Glaubensheld in der Geisterstunde sein Zimmer auf der Wartburg betrat, nach dem Erlebniß vielleicht mit einigem Schauer, denn er war ja von dem Aberglauben seiner Zeit nicht ganz frei und wappnete sich durch Gebet, so oft er sich durch Anfechtungen von unsichtbaren Feinden bedroht glaubte. Mit stiller Resignation sah er wohl am andern Morgen, als ringsum die Glocken den Tag des Herrn verkündeten, den Priester der Burg [616] zur Capelle schreiten, ohne ihm zu folgen, denn er vermuthete, wie er später an Spalatin schrieb, jener stecke noch tief in der alten Finsterniß; er hielt sich also lieber fern von der geweihten Stätte, um sich durch den Drang seines Herzens nicht zu verrathen, und als er demselben später folgte, so waren seine Predigten durchaus keine öffentlichen, wie man fälschlich annimmt, sondern er sprach an Sonn- und Festtagen nur vor dem Hauptmann und eingeweihten Freunden, wie ein Zeitgenosse und Schüler von ihm (Matthesius) ganz einfach erzählt.
Das Verhältniß zu seinem Wirth, dem Burghauptmann, gestaltete sich trotz der durchaus verschiedenen Standesverhältnisse der beiden Männer auf’s Beste. Luther hätte durch seine literarische Thätigkeit sowie durch seine Collegia an der Universität ein reichliches Einkommen haben können, allein er kümmerte sich so wenig um irdischen Gewinn und war dabei so freigebig gegen Arme, daß er, damals achtunddreißig Jahre alt, in solcher Dürftigkeit lebte, daß er Scheuerlin offen gestand: „Noch kenne ich Keinen, der ärmer wäre, als ich selbst.“
Was für ein ganz anderer Herr war dagegen sein Wirth, reich an Ahnen, Gut und Würden, der höchste Beamte des weiten Bezirks, Hauptmann von Eisenach und Quedlinburg, Herr zu Seebach und des Schlosses Heldrungen, vermögend genug, den Bruder des Kurfürsten, den Herzog Johann von Sachsen, aus Geldverlegenheit zu reißen! Die meisten Amtleute waren damals hochfahrende Ritter, aber unwiderstehlich beugte sich des Hauptmanns adliger Sinn vor dem lichten Geiste des gefeierten Mannes, dessen Falkenauge, wie es Erasmus von Rotterdam nannte, seinem ahnenstolzen Blick begegnete, dessen bezaubernde Rede mit klangvoller Stimme sein Herz gewann, dessen scharfes Urtheil und schlagender Witz die Unterhaltung würzten. Dagegen bemühte sich Luther, der ausgesuchten Gastfreundlichkeit, die dem Hausverwalter sogar auffiel, mit den bescheidensten Ansprüchen, an die er überdies gewöhnt war, zu begegnen, aus Besorgniß, der Familie lästig zu werden. Von seiner äußeren Erscheinung aus jener Altersperiode macht man sich überhaupt ein sehr falsches Bild, wenn man sich dasselbe so vorstellt, wie es in späterer Zeit von Lucas Cranach gemalt wurde, als er ziemlich wohlbeleibt geworden war; bedenkt man aber, daß er nach einer getreuen Schilderung, die ihn auf dem Colloquium zu Leipzig mit Dr. Eck (1519) darstellt, bei mittler Statur „wegen vielen Studirens so mager war, daß man an ihm fast alle Knochen zählen konnte“, und daß er in den zwei Jahren unter gleicher Arbeit und Mühe leben mußte, so wird die Gestalt eine ganz andere. Bekanntlich nannte ihn der Hauptmann den übrigen Bewohnern gegenüber Junker Görg und gab ihm zur alleinigen Bedienung zwei Edelknaben. Außer diesen und der Familie des Hauptmanns bildeten das Personal der Burg: zwei reisige Knechte, ein Gerichtsschreiber, der Caplan, der nach damaliger Sitte jedenfalls auch als Schreiber im Amt mit beschäftigt war, ein Koch, Kellner, d. h. Hausverwalter, ein Thorwärter, zwei Wächter und ein Eselstreiber, endlich der Schulmeister am Frauenberg als Vicarius an einem Altar der Capelle. Der neue Junker ließ sich, um die Täuschung zu vollenden, Bart und Haupthaar länger wachsen, trug ein rothes Barett, einen Wappenrock, zuweilen ein Reiterschwert und wohl auch seinen Gepner gegen Wind und Wetter. Nach längerer Zeit war er wirklich so unkenntlich geworden, daß er Spalatin schreiben konnte, er würde ihn schwerlich wieder erkennen, da er sich – setzte er scherzhaft hinzu – selbst nicht mehr kenne.
Luther’s plötzliches Verschwinden erregte allgemeines Staunen, sowohl unter seinen Anhängern als unter den Päpstlern, ja diese zogen, da alle Nachforschungen vergeblich waren, sogar Wahrsager und Zauberer zu Rathe. In Eisenach ging das Gerücht, Freunde aus Franken hätten ihn in Sicherheit gebracht; ein anderes verbreitete sich, einer der beiden Grafen von Henneberg hätte ihn eingefangen, allein der Beschuldigte wies den Vorwurf entrüstet von sich. Voller Angst sendete noch von Worms aus der Straßburger Jurist Gerbell dem Freunde durch Spalatin einen Brief, in dem derselbe um die Nachricht fleht, ob er noch lebe, da die verschiedensten Gerüchte über sein Geschick sich kreuzten. Nur Amsdorf und Spalatin kannten den Aufenthalt, jener erst durch Luther, als der vorsichtige Hauptmann diesem nach ein paar Wochen gestattet hatte, zu schreiben, denn er hatte ihn sogar genöthigt, einige Briefe an Wittenberger Freunde wieder zu zerreißen, da es ihm noch zu früh dünkte, dieselben zu befördern; und wie glücklich war Melanchthon, als er dem gemeinschaftlichen Freunde Wenzel Linke in Nürnberg die frohe Kunde senden konnte: „unser allerliebster Vater lebt!“
In seinen Briefen bezeichnete Luther die Wartburg allegorisch, um dieselben nicht zu Verräthern werden zu lassen, am liebsten nannte er sie sein Patmos, jene Insel, auf welche der Evangelist Johannes verbannt worden war. Bei seinem so lebhaften Temperament gewöhnte er sich nur allmählich an die Vereinsamung, aber das machte nach mehreren Monaten seiner Gewissenhaftigkeit Sorge, auf wessen Kosten er eigentlich hier lebe, bis ihn der Hauptmann versicherte, daß sie der Kurfürst bestreite. Die Eintheilung der Zeit verursachte ihm ebenfalls viel Sorge, da dieselbe auf die verschiedenste Weise in Anspruch genommen wurde. Die erste Periode erfüllte die Beantwortung einer Menge Briefe an Freunde, Widerlegungen von Streitschriften verschiedener Feinde und Bekämpfung von Mißbräuchen der Kirche, um auch hier bei dem Arbeitsdrang seines Riesengeistes für seine Lehre rastlos zu wirken, denn ringsum bestürmten Widersacher das begonnene Werk. Bei aller Schärfe seiner Feder leuchtet aber überall sein Edelmuth hervor, mit dem er gern zu vergelten sucht. Schon 1520 hatte ihn nämlich der kriegerische Franz von Sickingen am Rhein auf seine feste Ebernburg eingeladen, um ihm gleich anderen Lichtfreunden Schutz zu gewähren, Luther jedoch den Antrag abgelehnt. Jetzt suchte er seine Dankbarkeit gegen den Ritter dadurch an den Tag zu legen, daß er ihm eine der ersten Schriften seiner Muse hier oben am 1. Juni dedicirte: das Büchlein von der Beichte, in welchem er das Verwerfliche der Ohrenbeichte und des Abendmahlzwanges geißelte. Schon am 26. Mai hatte er an Melanchthon die Auslegung des achtundsechszigsten Psalms geschickt, denn lange vorher lag ihm die Erklärung der Psalmen in der alten prophetischen Sprache, in der sie ursprünglich gedichtet sind, am Herzen.
Nach und nach schienen trotz aller Vorsicht seiner Freunde seine Feinde jedoch auf die Spur seines Verstecks gekommen zu sein. Als ihm dies der Hauptmann voll Sorge mittheilte, erklärte Luther seine Bereitwilligkeit, sein Asyl mit einem anderen zu vertauschen, und meldete dies auch Spalatin. Endlich schloß er diesem einen Brief von irgend einem Ort her datirt bei, damit das Schreiben, als sei es verloren, in Feindes Hände gespielt werde. Dieses Mittel scheint gute Wirkung gethan zu haben; er blieb ruhig hier, wenn auch ferner nicht unangetastet, doch gerieth das ganze Wesen des stürmischen Mannes theils von der ungewohnten guten Kost, theils durch die Vereinsamung in Unordnung; durch die Schleier seines Unmuthes erblickte er in dem bösen Feind den Störer seiner Ruhe und suchte sich der Sage nach durch den Wurf mit dem Tintenfaß seiner zu entledigen. Er meldete endlich über den gestörten Gesundheitszustand seinem Berather Spalatin, daß er in Erfurt ärztliche Hülfe suchen wolle, doch verbot ihm dieser die Reise, um nicht erkannt zu werden, und sie unterblieb schon darum, weil unterdeß dort die Pest ausgebrochen war. Berlepsch rieth ihm daher in freier Luft seinen Körper durch Bewegung zu stärken, auszureiten und mit auf die Jagd zu gehen. Allein diese behagte ihm bald so wenig, daß er sie in einem Brief an Spalatin eine saure Ergötzung großer Herren und ein treffliches Geschäft für müßige Leute nannte. Für seine Ausflüge zu Pferde gab ihm sein Wirth einen treuen Knappen mit, der ihn eines Tages nach einem Ritt in’s Kloster Reinhardtsbrunn, wo ihn über den Büchern ein Mönch erkannte, großer Gefahr dadurch entriß, daß er ihn rasch mit sich fortzog.
Um auch seinem lieben Vater einen Beweis seiner Thätigkeit zu geben, dedicirte er ihm in einem Brief vom 21. November die Schrift über die Verderblichkeit der Klostergelübde. Am meisten aber erfüllte sein Herz jetzt die Sehnsucht nach Wittenberg, so daß er, nicht länger widerstehend, zu Ende des Monats sich auf ein paar Tage heimlich dorthin in Amsdorf’s Haus begab, um mit den Freunden zu verkehren.
Als er nach seiner Rückkehr endlich an die Uebersetzung der Bibel ging, sah er erst die Schwierigkeit ein und beschränkte sich nur auf die Uebertragung des Neuen Testamentes, weil er – wie er am 14. Januar 1522 an Amsdorf schrieb – ohne dessen Hülfe das Alte nicht angreifen könne. Welche Epoche aber sein Bibelwerk überhaupt machte, geht aus den Worten eines Zeitgenossen, Erasmus Alber, hervor: „Dr. Martinus ist ein rechter deutscher Cicero, er hat uns nicht allein die wahre Religion gezeigt, sondern [617] auch die deutsche Sprache reformirt und ist kein Schreiber auf Erden, der es ihm gleich thun kann.“ Unser eigenes Staunen wächst aber noch mehr, wenn wir bedenken, daß er das neue Testament in kaum zwei Monaten übersetzte, da man von Wittenberg seine Vermittlung in den durch Carlstadt’s Vorwitz, mit einem Male durch den Bildersturm den Gottesdienst reinigen zu wollen, hervorgerufenen Vorgängen häufig in Anspruch nahm, bis er, um persönlich dem Unwesen zu steuern, aller Einreden des Kurfürsten ungeachtet, am 3. März in seiner ritterlichen Verkleidung die Burg verließ.