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Titel: Lumpentuch
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aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 795, 796
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[795] Lumpentuch. Bis vor Kurzem pflegten, nach dem Gesetze, dem alles Endliche unterworfen ist, unsere Kleider zu Lumpen zu werden, jetzt werden im Gegentheile, und zwar im buchstäblichen Sinne des Wortes, unsere Lumpen zu Kleidern. Der Gebrauch ist von England aus auch zu uns, in unsere Wollindustriegebiete, nach den Rheingegenden, nach der Niederlausitz, nach Mähren und andern Gebieten verpflanzt worden, indeß noch immer wesentlich heimisch in England. Ein großer Theil jener mannigfaltigen, zwar meist nicht sehr geschmackvollen, doch praktischen Zeuge, aus denen unsere gegenwärtig so beliebten und verbreiteten sogenannten Touristenanzüge hergestellt werden, jenes modische Grau in Grau mit allerhand unbestimmten Schattirungen in’s Blaue, Gelbe, Braune, Rothe, Grüne, welches die derzeitige männliche Menschheit wie permanente Wehklagende in Sack und Asche erscheinen läßt, besteht in allem Ernste aus den Lumpen abgetragener Röcke und Hosen, Westen und Halstücher und wird mit dem allgemein angenommenen Ausdrucke Shoddy belegt. Unter dem Worte Shoddy aber versteht der Engländer etwas Unechtes oder Nachgemachtes; so bezeichnet er unter andern mit Shoddy-Aristokratie jene nordamerikanischen Parvenus, die, im Handel mit Petroleum, mit Alteisen, Knochen und dergleichen reich geworden, in New-York, in Baltimore, in Philadelphia und andern großen Städten der Vereinigten Staaten das Leben der vornehmen Welt nachäffen, den Luxus von continentalen Feudalherren zu überbieten suchen, in Manieren und Wissen, in Denk- und Sinnesweise jedoch immer nur das gebildete Hausknechtsthum repräsentiren, wie sich der Berliner treffend ausdrückt. Shoddywolle nun ist einfach schon gebrauchte Wolle; fügt man ihr eine angemessene Portion neuer Wolle hinzu, so können aus dem Gemisch ganz dauerhafte Kleidungsstücke fabricirt werden, die manchen derben Puff vertragen, ohne ihren etwas unappetitlichen Ursprung allzu deutlich zu offenbaren.

Schon zu Anfange dieses Jahrhunderts richtete sich die Aufmerksamkeit der Yorkshirer Tuchfabrikanten in Batley, Bradford, Leeds etc. auf den Gegenstand. Wie allerwärts, so gingen auch in England alte Lumpen, alte Teppiche und Strümpfe ohne Weiteres in die Müllgrube oder in den Müllkasten, bis einige kluge Industrielle auf den Gedanken kamen, daß den Fasern der dergestalt hinweggeworfenen Kleidertrümmer noch etwas von ihrer einstigen Stärke und der eigenthümlichen Filzkraft, welche dem Wollgewebe seine Festigkeit verleiht, innewohnen möchte. Allein wie sollte man diese noch brauchbare Wolle aus den ekelhaften, schmutzigen, fettigen Fragmenten herausziehen, wie Faser von Faser sondern? Man construirte [796] Maschinen und errichtete Fabriken einzig und allein zu diesem Behufe. Die Manipulation mußte aber von allen übrigen Proceduren der betreffenden Etablissements ganz abgetrennt gehalten werden, weil Staub und Unreinlichkeit dieser Lumpen wirklich unbeschreiblich sind und die neue Wolle gefährdet haben würden. Nannte man doch die verworrenen Fasern anfangs nicht anders als Teufelsstaub.

Nehmen wir an, eine sparsame Hausfrau verkauft alle ihre wollenen Lumpen, anstatt sie, wie früher, dem Kehricht zu überantworten. Die verschiedenen Händler, denen sie den Abgang überläßt, finden wieder ihre verschiedenen Abnehmer. Säume und sonstige unregelmäßige Knoten und Erhöhungen werden abgetrennt und entweder zu Flocken für Kissen- und Matratzenfüllung, oder auch zu grobem Pack- und Löschpapier, selbst zur Potaschenbereitung verwandt. Blos die von Knoten und Säumen freien glätteren Stücke wandern in die Fabriken Yorkshires, wo sie zu Shoddy auseinandergezupft werden. Allein wie bei den meisten Dingen, so giebt es auch hier mehrere Grade von Vorzüglichkeit. Die erste Qualität heißt Mungo, die zweite ist unser Shoddy, die dritte und letzte das sogenannte Extract. Das Mungo besteht aus den Resten wirklich guten Wolltuchs; das allerbeste aus eigentlich neuen Lappen selbst, Abfällen vom Schneidertische, welche zu klein sind, um als Proben für die Musterreiter dienen zu können. Shoddy erhält man aus geringeren Zeugen, aus alten Teppichen, Tischdecken, Flanell- und Strumpffetzen, während das Extract der wollene Bestandtheil aus gemischten Stoffen ist, deren Kette von Baumwolle gebildet wird. Diese Wollbestandtheile von den übrigen zu scheiden, muß man die Chemie in Anspruch nehmen. Gewisse Säuren, einige Alkalien und Salze haben die Eigenschaft, die Baumwolle zu zerstören, die Wolle aber unversehrt zu lassen; aus diesem Grunde hat man dem Producte den Namen Extract gegeben.

Die Verarbeitung der Lumpen zu Shoddy und Mungo geschieht auf ziemlich gewaltsamem Wege. Man wirft das Lappenchaos in eine Maschine, deren Inneres mit Tausenden von Zähnen gespickt ist, welche gegen- und ineinander arbeiten und die Lumpen in einzelne Fasern zerreißen, sehr kurze Fäden, die aber doch lang genug sind, die sonstigen Manipulationen auszuhalten. Eine einzige Maschine ist im Stande, im Laufe eines Tages fünfhundert, ja tausend Centner solchen Zeugs zu liefern. Doch welcher Staub dabei! Millionen von Atomen lassen sich auf dem Boden der Maschine nieder, eben so viele Millionen finden indeß durch die Lücken und Spalten des Mechanismus ihren Weg in die Fabrikräume. Was man hiergegen auch bis jetzt versucht hat, es ist unmöglich, dieser entsetzlichen Staubatmosphäre Herr zu werden. Gar viele Fabrikstädte Yorkshires, namentlich Batley, wissen ein Lied davon zu singen, und da die Lumpen in erster Stelle einen höchst übeln Geruch ausathmen, so kann man sich denken, von welchen Düften die Staubluft erfüllt sein mag. Dennoch geht auch dieser widerwärtige Staub nicht verloren; ist er von einerlei Farbe, so wird er, so weit er sich sammeln läßt, zur Fabrikation grober Löschpapiere benutzt. Ist er dagegen gemischt und ungleichartig, so giebt er immer noch ein vortreffliches Düngemittel ab.

Shoddy, Mungo und Extract werden, wie wir wissen, zu Tuch verarbeitet, nicht allein jedoch. Die schon einmal gebrauchte Wolle hat ja so viel von ihrer ursprünglichen Filzkraft eingebüßt, daß ein nur aus ihr bereitetes Stück Tuch binnen Kurzem auseinander fallen würde. Um diesem Uebelstande abzuhelfen, nimmt man einen gewissen Antheil neue Wolle hinzu, und in dieser Mischung liegt das Charakteristische der merkwürdigen Lumpentuchfabrikation. Das Verhältniß zwischen neuem und altem Rohstoffe läßt sich nicht genau reguliren; man kann zehn Theile von ersterem auf nur einen Theil von letzterem verwenden, aber auch zehn Theile von letzterem und blos einen Theil von ersterem, oder gleiche Theile von beiden nehmen, kurz die Mischung völlig nach Gutdünken einrichten. Ueberdies kommt es auch nicht selten vor, daß der Fabrikant nur die Kette aus diesem Gemenge bestehen läßt und zum Einschlag Baumwolle wählt; derart entsteht ein wahres Labyrinth von Stoffen, die sämmtlich nach Qualität und Gattung von einander verschieden sind und eine dem Gedächtniß schwer einzuprägende Menge von Bezeichnungen empfangen haben. Da zählt die britische Wollindustrie Tweeds oder Cheviots auf, aus denen meistens Touristenanzüge angefertigt werden; Bärenfelle oder Hirschhäute, Biber und Petershams für Ueberröcke; Pilots für Schifferjacken; Witneys zu Mänteln und Havelocks; Mohairs und Alpaccas; farbige Decken für Neger und Pelzjäger; Tuche für Sträflinge und Polizisten, für Land- und Seemacht und viele Sorten von Kleiderstoffen sonst noch, und sie alle bestehen mehr oder minder aus Mungo oder Shoddy. Demnach kann man behaupten, daß unser gesammter äußerer Mensch eben so sehr Shoddy ist, wie Ton und Art unserer Gesellschaft, wie das Gebahren von Vornehm und Gering: eitel Schein und Trug.

So lange das Verhältniß von Shoddy und Mungo zur neuen Wolle in gewissen Schranken bleibt, so lange läßt sich gegen die Verwendung dieser schon einmal benützten Wollfasern gewiß nichts einwenden; im Gegentheil ist diese Wiederanwendung ein großer volkswirthschaftlicher Fortschritt. Ueberwiegt aber der Lumpen den neuen Rohstoff in allzu beträchtlichem Maße, so stellt sich die Frage freilich anders. Alsdann wird das Verfahren entschiedene Täuschung oder Fälschung, weil es der Welt Sand in die Augen streut, indem es ihr ein Product liefert, welches sich für Anderes und mehr ausgiebt, als es in Wahrheit ist. Wer sich bei seinem Schneider einen feinen Rock von gutem Tuch bestellt und dafür ein vielleicht äußerlich sehr in’s Auge fallendes, aber bald wie Spinnweben zerflatterndes Dunstgebilde erhält, der ist sicher vollkommen berechtigt, auf Betrug zu klagen. Und in der That ist unter den vielen Fälschungen und Betrügereien, deren sich leider die neuere Industrie schuldig macht, das Shoddy- oder Lumpentuch eine der schlimmsten, weil das Publicum kaum ein Mittel in der Hand hat, sich dagegen zu schützen.

Welche Ausdehnung die Shoddyfabrikation allein in England gewonnen hat, mögen die nachstehenden Ziffern darthun. Vor fünf Jahren bereits verarbeiteten Yorkshirer Tuchmanufacturen jährlich weit über hundert Millionen Pfund Wolllumpen; heute muß das Quantum ein noch weit beträchtlicheres sein. Etwa vier Fünftel dieser Lumpen kommen aus Großbritannien selbst, den Rest schickt Deutschland, Dänemark und Holland. Auf dem Continente hat sich die Shoddyindustrie verhältnißmäßig nur wenig entwickelt, obschon man in den Eingangs erwähnten deutschen Industriebezirken bereits respectable Anfänge darin gemacht hat. Indeß wird die Mehrzahl unserer alten Kleider in Deutschland selbst wohl zu Shoddystoff verarbeitet, aber als solcher nach England verschifft und erst dort in Tuch verwandelt. In den sogenannten Ridings, den Fabrikdistricten Yorkshires, giebt es viele sehr bedeutende Großhandlungshäuser, die sich einzig und allein mit dem Vertriebe wollener Lumpen befassen, diese je nach ihrer Beschaffenheit sortiren lassen und dann an die verschiedenen Shoddyfabriken verkaufen. Uns selbst ist ein solcher Lumpenkönig bekannt, dessen Vermögen sich auf viele Millionen Pfund Sterling beläuft, ein rechtes Shoddy-Vollblut also.