Lord John Russel und das englische Kabinet
Gleich von Beginn des russisch-türkischen Streites an, der jetzt ganz Europa in ängstliche Spannung versetzt, waren Aller Augen erwartungsvoll auf das englische Kabinet gerichtet, von dessen Haltung die Entscheidung der großen durch den Kaiser von Rußland herauf beschworenen Frage abhing. Die Leiter der französischen Politik, so weit es deren neben dem Kaiser Ludwig Napoleon giebt, flößten als politische und diplomatische Parvenus bei weitem nicht das Vertrauen ein, wie die Männer der englischen Regierung. Erstlich ist man bei den Franzosen stets an etwas Abenteuerlichkeit gewöhnt; sodann hat das erst seit wenigen Jahren bestehende und unter außerordentlichen Verhältnissen entstandene Kaiserregiment noch nicht jenen stets fester wurzelnden Bestand für sich, den die Länge der Zeit verleiht; ferner mußte man hier allenfalls Entschlüssen entgegen sehen, die vielleicht nur um des die Franzosen stets blendenden Nationalruhms willen gefaßt werden mochten; so konnte man letzte Zwecke der französischen Kaiserregierung vermuthen, und daher ihren ersten Mitteln gleich mißtrauen.
Bei dem englischen Kabinet war dies ganz anders: in ihm saßen gereifte Männer, Männer, die mehr oder weniger über ein Vierteljahrhundert lang die Zügel der Regierung in Händen gehalten, und eingeweiht in die geheime Politik Europa’s waren. Die Entschlüsse, die sie faßten, wurden nicht ohne schweren Widerstreit gefaßt; es war ein gewissenhaftes Abwägen, ein harter innerer Kampf, ein bedächtiges Zuwerkegehen; und wenn endlich auch sie mit der Erklärung endigten: „Wir können nicht anders!“ so kann dies selbst dem entschiedensten Friedensgesellschaftler eine Garantie sein, daß die durch Rußland herbeigeführte Lage keine andere als gewaltsame Entscheidung mehr übrig ließ.
Als das gegenwärtige englische Kabinet im December 1852 an’s Ruder gelangte, taufte man es das Kabinet der Kapacitäten. Neben Lord John Russel bestand es aus Aberdeen als Premierminister, Gladstone, Graham, Palmerston, Newcastle, Molesworth und andere. Einer bestimmten Parteifarbe, wie dies sonst in England der Brauch ist, entbehrte diese Zusammenstellung: das gemäßigt-conservative, das liberale und selbst das radicale Element (durch Molesworth) fand sich vertreten, die Parteifarbe fehlte diesem Ministerium, alles Andere nicht. Was England an, durch Talent, Genie, Erfahrung, staatsmännische Gelehrsamkeit und Popularität, hervorragende Persönlichkeiten aufzuweisen hatte, erschien in dem Rathe der Krone. Keine Stimme erhob sich gegen die Weisheit und Befähigung der neuen Minister, und doch wurde allgemein an der Dauer dieses Kabinets gezweifelt, weil die verschiedenen Mitglieder sich nicht auf ein und demselben politischen Standpunkte befanden. Jene Befürchtung ist unerfüllt geblieben, gewiß ist aber, daß der Umstand, der sie hervorrief, die Ursache des bedächtigen Vorangehens Englands war.
Lord John Russel erhielt in dem neuen Kabinet das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten und die Führung des Unterhauses. Ersteres, das er überhaupt nur provisorisch übernommen, trat er schon nach sieben Wochen an Lord Clarendon ab, um sich nur mit der letztern Stellung zu begnügen, was, [177] da er nunmehr ohne Portefeuille im Kabinete saß, von seinem uneigennützigen Patriotismus zeigt.
Während seiner langen politischen Laufbahn hat Lord Russel mehr als jeder andere englische Minister in der Politik und Diplomatie die Ehre und Freiheit Altenglands vertreten. Geboren 1792[1], begegnen wir ihm schon 1819 im Unterhause als feurigen Bekämpfer alter Mißbräuche der englischen Verfassung, und in diesem Kampfe für die fortschreitende Entwickelung der Charte ist sich Lord Russel beharrlich treu geblieben, mochte er nun bloßes Parlamentsmitglied sein oder Minister. So oft er in’s Ministerium trat (1830 zum ersten Male), galt es als Zeichen, daß die Principien des Fortschritts gesiegt, und seit der Durchführung der berühmten Reformbill im Jahre 1831 ehrte ihn die Nation mit dem Namen „Vater der Reform.“ In der Beständigkeit der Grundsätze ist John Russel gewissermaßen der Antipode Palmerston’s, den man zu verschiedenen Zeiten die Farben wechseln sah.
Dem ministeriellen Führer des Unterhauses, welchen Amt Lord John Russel gegenwärtig bekleidet, liegt die allgemeine Vorbereitung der Regierungsmaßregeln und ihre Vertheidigung im Parlamente ob. Der Führer muß mithin alle jene Rednergaben besitzen, welche im Stande sind, Eindruck auf eine Versammlung hervorzubringen. Lord John Russel versteht dies. Das Parlament besitzt kaum einen zweiten, ihm ebenbürtigen Redner, der in gleichem Maße Wohllaut des Organs mit Adel der Mimik verbindet, und dabei zugleich in seinen Gründen so klar, in seinen Beweisen so logisch und in seinen Redebildern so anmuthig ist. Um den nicht seltenen Stürmen im Unterhause Trotz zu bieten, bedarf der ministerielle Führer desselben noch der Jugend volle Kraft, und Lord John Russel war der erste in so hohem Alter, der jene schwierige Aufgabe übernahm.
Was die Haltung Lord John Russel’s in dem russisch-türkischen Konflikt anbelangt, so brachte es das ihm im Ministerrathe zugefallene Amt mit sich, daß er auf die Führung der auswärtigen Angelegenheiten in erster Reihe keinen Einfluß hatte. Lord Palmerston, als Minister des Innern, befand sich in derselben Lage. Als jedoch durch Rußlands Beharren auf dem einmal eingeschlagenen Wege die Lage von Woche zu Woche verwickelter wurde, wußte die Fraktion Russel-Palmerston im Kabinet durchzudringen und eine entschiedenere Politik gegen Rußland zur Geltung zu bringen. Den Gang dieser Politik, der endlich mit der Kriegserklärung gegen Rußland endigte, dürfen wir wohl als unseren Lesern aus den öffentlichen Blättern hinlänglich bekannt voraussetzen. Der zweiundsechszigjährige Russel hat das volle Feuer der Jugend wieder gefunden, wenn er im Parlamente die kriegerischen Maßregeln der Regierung ankündigt oder bei antirussischen Banketten den Vorsitz führt. Er auch war es, der mit seinen Freunden im Kabinet die Ernennung Napier’s zum Befehlshaber der Ostseeflotte, ungeachtet lebhaften Widerstandes, durchzusetzen wußte.
- ↑ Die einflußreichsten Mitglieder des englischen Kabinets sind überhaupt respektabeln Alters: Aberdeen ist 60 Jahre alt; Palmerston, unter dem sich viele einen jungen Brausekopf denken, ebenfalls 70; Graham und Russel stehen im 62sten Lebensjahre.