Textdaten
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Autor: Ernst Fritze
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Titel: Lord Felix
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 32–34, S. 449–452, 466–468, 481–486
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[449]
Lord Felix.
Eine Lebensskizze von Ernst Fritze.
I.

In der kleinen, sehr hübschen Residenz S. fiel jedem Reisenden ein Haus auf, das, in einer breiten Seitenstraße belegen, durch seine höchst elegante Bauart sich auszeichnete. Es war einstöckig auf hohem Souterrain, und einige Treppenstufen führten auf eine breite Steinplatte, die, mit eisernem Geländer umhegt, von einer Menge der schönsten exotischen Gewächse geschmückt wurde. Eine Marquise, reich mit Purpureinfassungen und Troddeln verziert, spannte sich über dieses reizende Plätzchen, das außerdem mit kleinen Gartentischen und Sesseln besetzt war. Von der Treppe aus trat man sogleich in einen Vorflur, der von oben herab sein Licht empfing. Rechts und links führten die Thüren zu den verschiedenen Gemächern, und hinten schloß eine Glasthür die Wirthschaftsräumlichkeiten gänzlich ab. Eine kleine Seitenpforte im freistehenden Giebel des Hauses diente dem Gesinde zum Eingange und dieser Umstand vervollständigte die noble Ausstattung des Gebäudes.

Rechts lagen die prächtig ausgestatteten Gemächer, die in ihrer unveränderten Eleganz der Stolz der Hausfrau waren, während links in den Zimmern eine behäbigere Reinlichkeit herrschte, die im Verbande mit einem merkbaren Cigarrenrauche sich sogleich in ihrer Bestimmung als Herrenwohnung geltend machten.

Hier wohnte der Doctor Strodtmann, der Sohn der Hausbesitzerin. Unbeirrt von dem sehr ausgedehnten Reinlichkeitssinne seiner Frau Mama, die mit dem englischen Comfort ihrer häuslichen Einrichtung eine holländische Scheuerpassion verknüpfte, residirte er als unumschränkter Herr in seinen vier Pfählen und jagte gelegentlich in gemüthlichster Laune eine Magd mit Scheuerbesen und Bürsten aus dem Zimmer wieder hinaus, wenn der dämonische Trieb der Madame Strodtmann sie hineinbefohlen hatte.

Herr Doctor Matthias Strodtmann war der einzige Sohn seiner verwittweten Mutter. Eine jüngere Schwester, „Elisabeth“ getauft, in jüngeren Jahren und noch jetzt in besonders guter Stimmung „Elsi“ genannt, war früherhin stets der Gegenstand seiner Neckereien gewesen, wurde aber nach und nach seine treue Verbündete, als es darauf ankam, den jungen Arzt in seinem schweren Berufe aufrecht zu erhalten. Eine Nervenkrankheit grassirte in der Zeit, wo er sich habilitirte. In dieser furchtbaren Periode bewies Elisabeth die Tüchtigkeit ihres Charakters und bewährte die Güte ihres Herzens. Seitdem neckte Doctor Matthias seine Schwester nicht mehr auf verletzende Weise, sondern nahm sich mit väterlich weiser Miene ihrer an, wenn ihre Interessen unter der Leitung einer sehr eigenwilligen Mutter bedroht erschienen.

Doctor Strodtmann zögerte sonderbarer Weise von Jahr zu Jahr, sich zu verheirathen, obwohl er eine Gattin standesgemäß ernähren konnte.

Das Publicum der kleinen Residenz machte natürlich seine Randglossen darüber. Ein Theil desselben meinte, „der Herr Doctor sei von der noblen Lebensweise seiner Mutter und von der Klugheit und Bildung seiner Schwester zu verwöhnt, um eine Wahl treffen zu können.“ Die Leute irrten. Ausgeartete Tugenden sind nur Quälgeister der Menschheit, und in dem, was man an Frau und Fräulein Strodtmann zu preisen geneigt war, fand sich eine gewisse Ausartung vor.

Elisabeth hatte schon ihr dreiundzwanzigstes Lebensjahr erreicht, war ein sehr reizendes Mädchen, von tadellosem Rufe, vielseitiger Bildung und bedeutendem Talente, allein dessen ungeachtet fiel es keinem jungen Manne ein, sich ihr mit dem Wunsche zu nähern, sie als Gattin heimführen zu dürfen. Woran lag dies? Sie galt für gelehrt! Im Grunde mochte dies Urtheil richtig sein. Aber schloß ihre überwiegende Bildung denn die Eigenschaften aus, die zu einem glücklichen Familienleben nothwendig erscheinen?

Elisabeth Strodtmann war von ihrer Mutter, gegen ihren eigenen Willen, einer auswärtigen Erziehungsanstalt anvertraut, wo sie spielend gelernt, was Anderen furchtbare Anstrengungen verursachte. Sie las und schrieb und sprach englisch und französisch, wie deutsch. Unerhört für einen Bewerber, der das nicht konnte. Natürlich wich man von ihr zurück, weil man sich nicht zu blamiren wünschte. Elisabeth Strodtmann war mit einer schönen Stimme begabt, und sie erlernte spielend, wozu selbst Sängerinnen von Fach Monate gebrauchen. Natürlich ließ sie sich bei ihrer Zurückkunft in die Heimath nicht vergeblich um ein Lied bitten, und sie sang es so gut, wie die Primadonna vom Hoftheater. Eine Frau, die singt, ist aber einem nichtmusikalischen Manne ein Gräuel. Also applaudirte man und zog sich dann in seine Schranken zurück.

Hätte freilich Elisabeth Strodtmann ein Capital von zwanzigtausend Thalern als Mitgift gehabt, so würde man diese Bildung göttergleich gefunden und ihr Altäre gebaut haben, allein Elisabeth besaß gar kein Vermögen, denn die Einnahmen ihrer Mutter waren eine Rente, die mit deren Tode erlosch.

Das wußten alle heirathsfähigen Männer in der kleinen Residenz und deshalb konnten sie es nicht begreifen, wie Fräulein Elisabeth dazu kam, „die Welt etwas von oben herab, mit halb zugemachten Augen zu betrachten“, eine leidige Manier, die das junge Mädchen aus der Pension mit heimgebracht hatte.

[450] Ihre Art, sich zu bewegen, gab ihr allerdings den Anschein des Stolzes, aber hätte sich nur Jemand die Mühe genommen und durch diese halb verschleierten Augen hindurch in ihr Inneres geblickt, so würde sich sicher aus der kühlen Anerkennung ein so heißes Gefühl entsponnen haben, wie es Elisabeth als genügend zu ihrem Lebensglück für nothwendig hielt.

Es war an einem schwülen, von Regenschauern unterbrochenen Sommertage, als Elisabeth mit einem Anfluge von Ungeduld die Zimmer verließ, wo unter den Gesetzgebungen ihrer Mutter die Fußböden polirt wurden. Der Dunst war ihr unerträglich. Sie faßte zuerst versuchsweise an die Thür ihres Bruders und eilte, als sie diese verschlossen fand, unter die Marquise, die ihr selbst bei stärkerem Regen einen hinreichenden Schutz verhieß.

Hier traf sie ihr Bruder, der bald darauf heimkehrte. Er begrüßte sie lachend als eine „von der holländischen Nationaltugend in’s Exil“ Getriebene und nahm sie seltsam willfährig und eilig sogleich mit in sein Zimmer, das er hartnäckig gegen alle Polirversuche abschloß.

Draußen strömte gleich darauf der Regen vom Himmel hernieder, gleichsam, als habe er nur gewartet, bis die junge Dame unter Dach und Fach sei. Sie äußerte dies und rückte sich ganz behaglich am Fenster zurecht mit den Worten:

„Wie hübsch ist es bei Dir, Matthias! Heute wirst Du mich nicht wieder los!“

„Zugegeben,“ scherzte der Doctor, der sich die Maxime angeeignet hatte, niemals mit ernster Weisheit das zu behandeln, was mit Humor zu erlangen war. „Aber eine Hand wäscht die andere, Elsi!“

Elisabeth, von der anmuthigen Kinderbenennung süß bewegt, hob ihr schönes braunes Augenpaar, leuchtend in voller Theilnahme, zu ihrem Bruder auf und entgegnete:

„Nur heraus mit Deinen Bedingungen! Ich merke schon, es gibt wieder eine Kranke, die außer Doctorhülfe Frauentrost gebraucht. Was ist’s, Matthias? Du siehst seltsam aus – Du wirst roth – Bruderherz, hat Dich die Liebe vom Krankenbette aus getroffen?“

Der junge Arzt schüttelte hastig den Kopf. „Nichts dergleichen! Aber Du sollst eine arme junge Frau aufsuchen, die mir sehr hülflos erscheint –“

„Wer ist es, Matthias? Kenne ich sie? Von Stande?“ fragte das junge Mädchen hastig.

„Vielleicht hast Du schon von ihr gehört,“ antwortete er zögernd und nahm ein Buch zur Hand, augenscheinlich, um sich den scharfsichtigen Blicken seiner klugen Schwester zu entziehen. „Sie ist die Gattin des Regierungsassessors von Dahlhorst –“

„Die ist aber nicht krank, lieber Matthias,“ fiel Elisabeth rasch ein. „Ich habe sie vor einer Stunde hier vorbeigehen sehen und mich über ihr frisches, liebreizendes Wesen gefreut.“

„Nicht sie, aber der Mann ist krank, gefährlich krank, seltsam krank – ich weiß nicht, wie ich mich darüber ausdrücken soll,“ stammelte verlegen der Doctor, der für den Augenblick die Scharfsinnigkeit seiner Schwester sehr unbequem fand.

„Rede offen, Matthias,“ bat sie, ruhig den Blick senkend; „Du weißt, mir kannst Du vertrauen.“

„Gut! Elsi, die Sache steht dort traurig! Ich glaube, sie hungert und dürstet, um auszukommen und ihrem siechen Manne Leckereien zu schaffen.“

Elisabeth sprang entsetzt auf.

„Und ihr lebensfrohes Lächeln?“ fragte sie athemlos.

„Ist Maske! Es fehlen Sachen. Ich habe den Executor von der gerichtlichen Behörde gesehen. Ich weiß nicht Bestimmtes, Elsi, aber die arme junge Dame dauert mich unbeschreiblich!“

„Wie ist ihr Verhältniß zu ihrem Manne?“ forschte das Fräulein etwas mißtrauisch.

„Engelhaft gut! Er ist ein Kind ihr gegenüber – mir scheint, als beuge ihn Schuld unter ihren Willen oder Schwachheit – ich begreife es nicht! Gehe Du hin, meine liebe Elsi, ja?“

Er hielt ihr die Hand hin, sie schlug tapfer ein, aber mit bedenklichem Blicke betrachtete sie den glänzenden Tropfen, der unter seiner Wimper zitterte. Was war das? Sie kannte in dieser unerhörten Weichheit ihren Bruder nicht.

„Geduld! Es wird mir schon offenbar werden,“ dachte sie und fragte nicht weiter.

Eine kleine Weile verstrich unter dem gewichtigen Schweigen, das tiefes Nachdenken verräth. Dann begann der Doctor lachend:

„Weißt Du, wem ich heute meine Visite abstatten werde?“

Elisabeth, ordentlich erschreckt von dem schnellen Wechsel seiner Stimmung, fuhr auf und sah ihn fragend an.

„Ich muß noch hinaus nach Wolfenberg.“ Ein Purpurschein überflog Elisabeths Gesicht. Der Doctor gewahrte es und hielt verwundert inne. „Ah, Du weißt?“ fragte er gezogen.

„Was denn?“ entgegnete sie ungeduldig und nahm ihre Stickerei zur Hand, augenscheinlich, um sich jetzt den scharfsichtigen Blicken ihres klugen Bruders zu entziehen.

„Daß unser Lenchen dort in Wolfenberg beim Lord Felix ist?“

Elisabeth ließ ihre Hände mit der Arbeit sinken, wurde sehr bleich und sagte fest und gelassen:

„Nein, dies wußte ich nicht! Lenchen ist sehr klug! Dort wird sie durch ihre Schauspielertalente das gewiß erlangen, was ihr hier verunglückte!“

„Lord Felix ist natürlich entzückt von ihr,“ berichtete der Doctor weiter, ohne zu ahnen, daß jeder Buchstabe wie mit Widerhaken in das Herz seiner Schwester schlug.

„Und der alte, halb taube, halb irre und gelähmte Papa Mettling kann gar nicht fertig werden, sie zu loben und zu preisen,“ fügte er hinzu.

Ein bitteres Gefühl schien Elisabeth zu durchzittern.

„Lenchen hat ein gutes Herz,“ entgegnete sie dann still und resignirt. „Herr Felix Mettling wird leichter hingerissen werden, als Du – die Verhältnisse werden das Uebrige thun, Lenchen’s hübsches Aeußere wird den Ausschlag geben –“

„Aber Elsi, liebe Elsi, was träumst Du denn?“ unterbrach Matthias die junge Dame, die wie abwesend vor sich hin blickte und Visionen zu haben schien. „Denkst Du, der junge Mettling hätte nicht längst ein so hübsches Mädchen unter seinen Standesgenossen finden können, wenn er nur gewollt hätte?“

„O, daran zweifle ich nicht,“ lächelte Elisabeth bedeutsam und verrätherisch. „Aber Felix Mettling will erobert sein!“ setzte sie hinzu.

„Dann freilich ist Lenchen an ihrem Platze!“ rief der Doctor, laut lachend. „Wenn ich an die Komödien denke, die dies Mädchen zu meiner Eroberung aufgeführt hat, so möchte ich mich ausschütten vor Lachen. Sage nur, Elsi, wie mag die Thörin zu der Idee gekommen sein, mich zu lieben, oder vielmehr, mich heirathen zu wollen?“

„Durch Lectüre!“ antwortete Elisabeth sichtlich traurig. „Sie hat mir gestanden, daß sie niemals an eine Heirath über ihren Stand hinaus gedacht habe, bis sie eines Tages ein Buch gelesen, worin ein armes Mädchen, auch eines Proletariers Kind, mir nichts, dir nichts von einem Grafen geliebt und zur Gräfin erhoben worden wäre. Darauf hat sie sich vorgenommen, ihre eben so großen Verdienste richtig zu verwerthen und wenigstens Frau Doctorin zu werden, weil sich nicht gerade ein halb verrückter Graf zu ihrem Zwecke dargeboten hat.“

„Ich habe niemals ein größeres Erstaunen empfunden,“ rief der Doctor, indem er sich zum Fortgehen rüstete, „als in dem Momente, wo Lenchen, Mama’s Hausmamsell, wie eine Dame geputzt vor mir erschien und mir die Proposition machte, während Eurer Abwesenheit zu „repräsentiren“.

Ein Lächeln glitt über Elisabeths ernste Mienen.

„Es war eine Verirrung ihrer Phantasie,“ entschuldigte sie, „und Du hättest wohl etwas glimpflicher mit ihr umgehen können in Rücksicht darauf, daß sie als ein Zögling unserer Mama zu betrachten war.“

„Sollte ich das Mädchen etwa bei mir behalten und „repräsentiren“ lassen während der zwei Monate, daß Ihr im Bade weiltet?“ fragte Matthias ziemlich schroff, „Sollte ich, der unverheirathete Arzt, einen Funken glimmen lassen, der, vom Leumund zur Flamme angefacht, meinen Ruf für immer in ein zweideutiges Licht zu setzen verhieß? Nein, Elisabeth, die Stelle, wo ich stehe, muß selbst vom medisanten Lächeln verschont bleiben. Da ich mich nicht entschließen konnte, ein Mädchen von untergeordneter Bildung als Gattin zu wählen, so mußte sie auf der Stelle das Haus verlassen, in welchem sie diesen Rang zu usurpiren gedachte. Ich gehöre nicht zu den Männern, die eine Gattin neben sich haben, mögen, in deren Gegenwart sie sich ihren Geistesergießungen überlassen können, ohne eine Kritik zu fürchten. Die Bildung meines Fräulein Schwester hat wenigstens so viel gewirkt,“ fügte er scherzhaft hinzu, „daß ich eine Geistesebenbürtigkeit mit meiner Frau ganz [451] hübsch finde, Lenchen füllte ihre Stelle bei der Mama vortrefflich aus, aber meinen Ansprüchen genügte sie nicht!“

„Gottlob,“ flüsterte Elisabeth zufrieden vor sich hin, denn bei der Charakterfestigkeit des Doctors war zu erwarten gewesen, daß das thörichte Frauenzimmer, welches in unverstandener Gefühlsaufregung Pläne auf die Wirkungen ihrer Schönheit gebaut hatte, wirklich zu ihrer Schwägerin erhoben sein würde, sowie ihres Bruders Interesse geweckt wäre. Der Gedanke an diese Möglichkeit bewegte sie fast zum Zorne. Hier fand sich die Ader des Stolzes, welcher ihr Wesen charakterisirte. Eine Heirath von Gründen rein sinnlicher, erbärmlicher Art geschlossen war eine Erniedrigung für sie, und sie würde in festgehaltener Consequenz die Häuslichkeit ihres Bruders gemieden haben, wenn dort ein Wesen gewaltet, das sich aus untergeordneten Regionen, sowohl des Geistes, als des Standes, zu der Würde einer Hausfrau emporgearbeitet hätte.

„Seit wann ist Lenchen beim alten Herrn Mettling?“ fragte das Fräulein sehr ruhig.

„Genau weiß ich es nicht,“ erwiderte Matthias, der inzwischen Hut und Regenschirm ergriffen hatte und zum Fenster getreten war, um nach dem Wetter zu sehen.

„Wahrscheinlich vierzehn Tage,“ sprach sie eben so ruhig und fädelte ihre Nähnadel mit fester Hand ein.

„Warum? Wie kommst Du darauf?“

„Weil Felix Mettling seit vierzehn Tagen unser Haus nicht betreten hat!“

Der Doctor sah überrascht zu ihr hin, konnte aber nur ihre wolkenlos heitere Stirn sehen, da sie das Gesicht emsig thätig auf ihre Stickerei niedergesenkt hielt, vielleicht tiefer, als eigentlich nöthig war.

„Du magst Recht haben!“ erklärte er. „Vierzehn Tage lang bin ich nicht beim alten Herrn gewesen.“

„Mußt Du heute hinaus?“ forschte sie. -

„Ja, der Alte ist unwirsch. Sein Blut muß gesänftigt werden. Ich habe Senfteig dazu besorgt, Felix schickte zu mir auf’s Hospital –“

Elisabeth hob in voller Ueberraschung ihren Kopf.

„Dorthin? Sonderbar! Du wirst mir wahrscheinlich eine Verlobungserklärung des jungen Herrn mit Lenchen zu überbringen haben. Ich bin darauf gefaßt!“

„Ihr Frauen seid doch wahre Phantastinnen!“ rief Matthias heiter. „Eure Folgerungen streifen an Irrsinn. Höre, Du weise Philosophin – weil also Lord Felix zu mir nicht in’s Haus, sondern in das Hospital gesendet hat, um mich nach Wolfenberg zu citiren, so muß er sich mit Lenchen, unserer ehemaligen Hausmamsell, verlobt haben! Eine prächtige Logik, die Deinem Verstande alle Ehre macht!“

Er stellte sich mit dem besten Willen zu einer gründlichen Neckerei vor ihr auf, und wartete ihrer Antwort. Diese blieb aus. Nicht Elisabeth’s Verstand, sondern ihr Herz hatte gefolgert, und das Herz eines Mädchens zeigt sich bisweilen unglaublich schlau.

„Oder hast Du noch andere Gründe für Deine Vermuthung?“ fragte der Doctor etwas betroffen über die Schatten, die wie Wolken über das reizende Gesicht seiner Schwester flogen, jedoch muthig von ihr bekämpft wurden.

„Nein, Matthias! Aber wenn Du aus eigener Erfahrung weißt, daß wir den gewöhnlichen Weg zu vermeiden pflegen, wenn er uns beschämende Erinnerungen bietet, so wirst Du meinen Ausspruch nicht ganz verwerfen können,“ entgegnete das junge Mädchen sehr ernst.

Der Doctor bewegte spottlächelnd seinen Kopf hin und her, schritt mit einem „Adieu“ zur Thür, und verließ unter der Ermahnung, um Gottes Willen Mama’s Putz- und Scheuertücher nicht einzulassen, sein Zimmer.

Der Regen hatte bis auf ein leichtes, kaum bemerkbares Sprühen aufgehört. Doctor Strodtmann schlenderte sacht und gemüthlich den Weg nach Wolfenberg dahin, der durch Gebüsch neben einem sprudelnden Gebirgsbache entlang lief. Er selbst hielt keine Equipage, und er hatte die des Herrn Mettling bestimmt abgelehnt, weil der Fußweg nach Wolfenberg ein sehr anmuthiger Spaziergang war, während der Chausseeweg unendlich lang und schattenlos sich ausdehnte. Einem Eingeborenen des Gebirges sind aber glatte Wege das langweiligste Vergnügen, daher zog Herr Doctor Matthias Strodtmann den auf und ab gewundenen, durch Baumwurzeln und Felsstückchen vielfach uneben gemachten Fußsteig, zwischen Haselstauden und uralten Buchenstämmen fortlaufend, bei weitem der bequemen Landstraße vor, und wenn er sie auch zu Wagen passiren konnte.

Seine Gedanken irrten unter seiner einsamen Wanderung zu den letzten Worten seiner Schwester zurück, und ein blendender Lichtstrahl erhellte ihm plötzlich den Theil ihres innersten Wesens, woraus ihm eine Erklärung dieser Worte erwachsen konnte.

Der junge Herr Mettling, welchen der Witz des Publicums sehr bezeichnend mit dem Titel „Lord Felix“ beehrt hatte, gehörte zu seinen liebsten Bekannten, obwohl er nicht umhin konnte, manches an ihm wegzuwünschen, was seine wirklich edle Natur verunstaltete. Es waren dies nur Auswüchse eines männlichen, ungezügelten Uebermuthes, die ganz gewöhnlich in einem soliden Eheleben von selbst verschwinden und sich unter der sorgsamen Obhut einer vernünftigen Frau zu Liebenswürdigkeiten gestalten können.

Lord Felix liebte Wein, Weib und Gesang gleich dem besten Jünger des respectablen Doctor Martin Luther, der sich einen ewigen Ruhm durch den Ausspruch erworben hat: „Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang!“

Aber den Gesang, welchem der Lord Felix seine Huldigungen darbrachte, den trennte er, als ein höchst unmusikalischer Mann, gänzlich vom Weibe und fand, gelinde gesagt, „singende Damen unerträglich“.

Von diesem Gesichtspunkte aus erkannte der lustwandelnde, über Baumwurzeln und Felsblöcke dahin schreitende Doctor Strodtmann plötzlich den Theil in Elisabeth’s Brust, welcher ihm ein weites Feld theils beglückender, theils beängstigender Vermuthungen darlegte. Er erinnerte sich mit Schrecken, daß seine Schwester seit einiger Zeit die Eitelkeit auf ihre hübsche Stimme verloren habe, und zwar, wie er ganz genau berechnete, seit dem Tage, wo er ihr die offenherzige, harte Kritik seines übermüthigen Freundes Felix Mettling mitgetheilt hatte.

Er erkannte gründlich, wie die Sachen standen, und es begann ihn zu ärgern, daß besagtes Lenchen – ci-devant Hausmamsell seiner Mama und von Geburt einer Waschfrau Kind, das Madam Strodtmann sich herangebildet und zur Hand gezogen – das Glück seiner Schwester zu beeinträchtigen drohe.

Fiel der heißblütige, leichtsinnige Lord Felix in die Garne dieses hübschen, etwas dreisten, keck der Welt trotzenden Mädchens, das es vollkommen auf eine Heirath in höheren Kreisen abgesehen zu haben schien, so war er mit allen seinen Anlagen zum Guten für diese Welt verloren. Nur einer Frau von gewiegtem Wesen konnte es gelingen, den jungen Lebemann aus seinem Wuste von Irrthümern heraus zu arbeiten und seiner Seele den nöthigen Firniß zu verleihen. Bei besagtem Lenchen war ein gänzliches Versinken in gemeine Alltäglichkeit vorauszusehen, und das wäre in allen Fällen Schade gewesen, gereichte aber speciell in diesem Augenblicke dem lustwandelnden Doctor Strodtmann zur wahren Betrübniß.

Der junge Herr übersah nämlich, praktisch genugsam geübt, keineswegs, was für eine glänzende Lage des Lebens Lord Felix seiner künftigen Gattin darzubieten habe, und er war schon zu sehr im Lebensgenuß gereift, um dies nicht, im Hinblick auf Elisabeth, so hoch anzuschlagen, wie es verdiente.

Die Meinung der Welt hatte wenigstens darin Recht, daß sie dem seinen, comfortabeln Leben im Hause der Madam Strodtmann eine gewisse Einwirkung bei allen Lebensplänen des jungen Arztes zuschrieb, wenn sie auch darin irrte, daß er Gesetze danach entwerfen solle, die seine Heirathsgedanken zu regeln vermochten. Eine befriedigende Häuslichkeit war das Ideal seiner Zukunft, und er machte dies nicht von einer reichen Mitgift, sondern von einer erprobten Herzensgüte und überwältigenden Liebenswürdigkeit abhängig.

Während er im stillen Nachsinnen über die sonderbare Herzensregung Elisabeth’s sich Wolfenberg nach und nach näherte, erheiterte sich auch sein Mienenspiel nachgerade, und er beschloß, im Einklange mit seinen Principien, die schöne Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen, um ein kaltes Sturzbad über die lodernde Gluth seines Freundes, von der ihm der alte Bediente Friedrich kopfschüttelnd erzählt hatte, zu schütten. Er mußte versuchen, die Macht der kleinen, verführerischen und dabei muthvollen Hausmamsell seiner Mama dadurch zu beschränken.

Daß dies zu spät kommen könnte, fiel ihm gar nicht ein. Es hätte in seinen Augen die Thorheit eines Mannes auf die höchste Spitze gehoben, wenn er innerhalb vierzehn Tage sein ganzes zeitliches Wohl einer Circe von so unbedenklich ordinärem Werthe geopfert. Denn wie weit verlockende Blicke das Blut, diesen Urquell [452] aller organischen Bewegung, in Allarm bringen und wie leicht ein einsames Beisammenleben in romantischer Gegend unter der Mitwirkung eines wilden, schönen Sommerabends männliche Uebereilung wecken kann, davon wußte der gute, etwas phlegmatische Doctor Strodtmann trotz aller medicinischen Kenntnisse und aller ärztlichen Erfahrungen doch nicht hinlänglich Bescheid, um das Aergste zu erwarten.


II.

Wolfenberg war ein Dorf ganz in der Nähe der Residenz, das sich zwischen zwei waldigen Hügelketten als eine einzige lang ausgedehnte Straße bis zu einigen grotesken Felsengebilden hinanzog. Durch die Lage begünstigt, hatte sich der Wohlstand der Dorfbewohner in den letzten Jahrzehnten bedeutend gehoben, als es Mode wurde, einen Theil des Sommers in frischer, freier Luft zuzubringen. Auch einige Herrschaften in der kleinen, frei und schön gelegenen Residenz fanden die Luft in Wolfenberg für ihre Athmungswerkzeuge zweckdienlicher, und baueten sich kleine Villen voll prunkhafter Ländlichkeit in dem geräumigen Thale, um nicht immer in der Residenz und doch auch nicht allzufern davon zu sein.

Etwas ab vom gewöhnlichen Straßendamme, aber doch nicht aus der Gesichtsweite desselben hatte der Großhändler Mettling, der Vater des Lord Felix, ein Häuschen erbaut, das klein, aber im höchsten Grade bequem und zum Sommervergnügen geeignet war.

So lange der Großhändler Mettling gesund gewesen war und eine Gattin besessen hatte, wurde dies Gartenhaus nie bewohnt, sondern nur als Ziel einer Spazierfahrt, eventualiter Spaziergang, benutzt. Jetzt, wo der alte Herr Wittwer und ein hülfloser, vom Nervenschlage reducirter Krüppel war, nahm er seinen Sommeraufenthalt dort, um ungenirter in seinem Rollstuhle spazieren fahren zu können.

Sein Sohn Felix, gutmüthig und immer heiter, besuchte ihn täglich. Seitdem aber Lenchen, der Madame Strodtmann Hausmamsell, zur Pflege des alten Herrn engagirt worden war, da hatten sich diese täglichen Besuche bedenklich geändert.

Lord Felix fand die Residenzluft plötzlich nicht zuträglich für seine Luftröhre, und zog es vor, sein brillantes, fürstlich decorirtes Schlafgemach gegen das kleine winzige Schlafcabinet in Wolfenberg zu vertauschen.

Vierzehn Tage hatten hingereicht, den jungen Mann in Ketten zu schmieden, die er in bewußtlosem Behagen sehr hübsch fand.

An dem Tage, wo er auf ausdrücklichen Befehl des alten Herrn den Doctor Strodtmann zu einem Besuche in Wolfenberg auffordern ließ, war seine Stimmung ein wenig gestörter als sonst, was jedoch dem hübschen Lenchen keineswegs zum Nachtheil zu gereichen schien. Mittag war vorüber. Der alte Herr, reizbar und mürrisch, zänkisch und verdrießlich, hatte sich zu seinem Mittagsschläfchen in sein Zimmer führen lassen.

Der Regen verscheuchte Herrn Felix aus der Veranda, woselbst er mit Paschaeleganz seinen Mocca zu trinken beliebte. Er verfügte sich in das sogenannte Gesellschaftszimmer, und rief bei seiner Flucht vor dem stark herniederauschenden Regen heiter in den Hintergrund des Häuschens hinein:

„Helene – ich bin im Salon, wenn Sie mich suchen sollten.“

Gleich darauf erschien das in Helene metamorphosirte Lenchen melodisch kichernd auf der Schwelle des Salons, und schwebte mit der Grazie einer – Kammerzofe, trippelnd und gaukelnd, wie eine Tänzerin vom Fach, auf den jungen Herrn zu, der ihr mit Sultansfreundlichkeit den schönen, äußerst weit entblößten runden Arm klopfte. Lenchen war unbestritten ganz allerliebst und mit ungewöhnlichen Reizen geschmückt. Wenn solche Vorzüge ausreichend sind, ein Mädchen aus dem Volke zu der Stellung höheren Ranges würdig zu machen, so hatte Lenchen Anwartschaft darauf. Schöne, funkelnde Augen, rosige Wangen, weiße Zähne, blondes reiches Haar und ein üppiges Lippenpaar. Auf allen diesen Reizen lag aber der Stempel der Gewöhnlichkeit. Es war ein Kuchengesicht in aller Form. Eben so wenig anziehend erschien einem reinen Blicke die Ueppigkeit ihres Wuchses, dem sie durch eine gewagte Indecence Anziehungskraft verleihen zu wollen schien. Die Hitze des Sommers mußte die Entschuldigung für weitentblößte Schultern herleihen, und die Art, wie Lenchen bisweilen Athem schöpfte, ließ eben so gut eine innere als äußere Wärme erwarten.

Lord Felix war niemals ein Kostverächter gewesen. Seine Augen zeigten also ein stilles, glimmendes Feuer, als das junge Mädchen ihm schnell nahe trat und mit verführerischer Demuth seine Liebkosung hinnahm, die er ihrem hübschen Arme angedeihen ließ.

Er sah sie, in seiner behaglichen Stellung verbleibend, mit warmen Blicken an, und sie blickte mit eben so warmen, aber etwas listigern Augen zu ihm nieder. Dabei verirrte sich ihre geliebkosete Hand zuerst auf seine Schulter, als er den Arm um ihre Hüfte schlang, und machte Miene, einen Kreislauf um seinen Hals zu wagen.

„Was wird denn aus uns?“ fragte der junge Herr mit einer Manier, die viel von Herablassung in sich trug, aber auch eben so gut einen schon gereiften Entschluß zu verrathen Miene machte. Er liebte es überhaupt, sich nicht bestimmt auszudrücken, und fand grundsätzlich stets das einfachste Wort für erhabene und edele Gedanken.

„O – ich weiß, daß ich einem edlen Männerherzen trauen kann!“ flüsterte Lenchen schmachtend. „Was Sie beschließen, ist – mein Himmel!“

Der junge Mann lächelte. Der „Himmel“ war etwas unpassend angebracht. Aber es schadete nichts.

„Mit dem Papa ist trotz seiner Hinfälligkeit nicht zu spaßen – außerdem ist mir Scandal im Hause unangenehm. Aber die Trennung von meiner hübschen Helene würde mir nichts weniger als angenehm sein –“

„Häuser trennen ja nicht, so lange noch Thüren darin sind –“ schmachtete das schöne Mädchen in lächerlicher Naivetät, und neigte sich etwas gewagt zu ihm nieder.

„Ach, das wäre unbequem. Nein, mein süßes Helenchen muß hierbleiben, bis –“

Lenchens ganzer Körper erzitterte vor Wonne bei diesem „bis“. Unschuldige Thränen lösten sich von ihren holdgesenkten Wimpern – sie ahmte ganz gewiß jene Heldin nach, die das Glück gehabt hatte, einen Grafen zu begeistern. Aber „mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten“ – ein Schatten verdunkelte in diesem schicksalsschweren Augenblicke das niedrige Fenster, das schwarze, wassergetränkte Zelt eines Regenschirmes glitt daran vorüber, und Lord Felix sah zu seinem grenzenlosen Erstaunen eine leichte, elegante Frauengestalt in der Veranda erscheinen, die für den ersten Moment nur mit dem Schließen ihres triefenden Schirmes beschäftigt war.

Als würde er von einem bösen Geiste gejagt, so gewaltsam erhob sich der junge Herr von seinem gefährlichen Sitze, den Lenchen zu theilen Anstalten traf, und flüchtete mit den leisen Worten:

„Lassen Sie die Dame eintreten – ich komme sogleich zurück –“ durch eine Seitenthür in sein Schlafcabinet.

Rasch gefaßt, trat Lenchen nach der Veranda hinaus und hieß die Dame, in der sie sogleich die Assessorin von Dahlhorst erkannte, willkommen.

Frau von Dahlhorst wendete sich mit einigen Entschuldigungen zu ihr, überließ ihr aber Mit der Gelassenheit der Dame einer Dienerin gegenüber willig und gern die weitere Sorge für ihren Schirm. Das holde, blasse Gesicht der zarten Frau färbte sich mit einer ganz absonderlichen Röthe, als sie dabei fragte, ob sie Herrn Felix Mettling in Wolfenberg anträfe und ob sie ihn nicht sogleich allein sprechen könne.

Lenchen richtete sich mit einer gewissen Würde empor und bat sie, nur näher zu treten.

„Melden Sie mich,“ bat die junge Dame leise und richtete ihren Blick, in dem Wolken schwebten, suchend in dem Salon umher, der offen stand.

„Das ist nicht nöthig, gnädige Frau,“ antwortete Lenchen geziert. „Er hat sie gesehen, und wird sogleich wiederkommen!“

Nach einem ziemlich verwunderten Blicke über das „Er“ ließ sich Frau von Dahlhorst in einem der Fauteuils nieder, und dabei trat eine sichtliche Erschöpfung hervor, die sie auch zwang, ihre Stirn auf einige kurze Momente in die Hand zu stützen.

Natürlich sprach sie darüber nicht, und da Lenchen in der Voraussicht ihrer baldigen Ebenbürtigkeit sich nichts vergeben wollte, so fragte diese auch nicht darnach.

[466] Der Anfall[WS 1] von Schwäche war soeben überwunden, und Frau von Dahlhorst richtete lebensfrisch und hoffnungsreich ihr Gesicht wieder empor, als Herr Felix in rasch veränderter Toilette eintrat. Lenchen verschwand nun aus dem Zimmer.

„Wie komme ich zu dieser unverhofften Ehre, gnädigste Frau?“ rief der junge Mann der Dame entgegen, und er bediente sich auch jetzt mit Geflissentlichkeit eines Jargons, der bieder und aufrichtig, aber fern von aller Hofartigkeit sein sollte.

Frau von Dahlhorst legte kein Gewicht auf diese Manier, welche nicht dem feinen Ton gleichkam, den sie gewohnt war. Ihr Geist war mit zu abstracten Dingen beschäftigt, um den Gehalt gewöhnlicher Artigkeitsfloskeln controliren zu können.

„Mich führt eine Bitte in geschäftlicher Beziehung zu Ihnen,“ entgegnete sie mit der liebenswürdigen Freundlichkeit, die ihr ganzes Wesen immer durchdrang. „Ich war in Ihrem Comptoir, und man sagte mir, daß Sie schwerlich vor morgen dort erscheinen würden. Mein Gesuch leidet aber keinen Aufschub.“

Der junge Mann schaute mit Verwunderung auf die zarte Gestalt, die gegen seinen athletischen Wuchs winzig klein erschien, ohne es zu sein. Er konnte durchaus nicht errathen, was für Gesuche eine Beziehung zwischen ihm und dieser Dame, um die er vor Jahren etwas Schmerz, Verdruß und Aerger getragen hatte, herbeizuführen vermöchten.

„Wollen und können Sie mir auf der Stelle eine Summe von zwölfhundertzweiundsechzig Thalern verschaffen, Herr Mettling?“ fügte Frau von Dahlhorst entschlossen hinzu.

„Ich? Ihnen? Zwölfhundertzweiundsechzig Thaler?“ wiederholte Herr Felix mit unverstelltem Erstaunen. „Wie käme ich dazu? Sie scherzen wohl nur?“

„Das wäre ein Scherz mit blutendem Herzen,“ versetzte Frau von Dahlhorst, und ihr Lächeln erstarb für einen Augenblick auf ihren Lippen.

„Aber warum wendeten Sie sich mit dieser Bitte gerade an mich, Gnädigste?“

„Weil ich Vertrauen zu Ihnen habe –“

„Das haben Sie mir vor sechs Jahren eben nicht bewiesen, als Sie meine Bewerbung rundweg ablehnten,“ fiel der junge Mann etwas brüsk ein.

„Damals war nicht von Vertrauen, sondern von Liebe die Rede,“ war ihre schnelle Antwort, die sie mit einem schönen, innig zufriedenen Lächeln begleitete, das jedenfalls der Rückerinnerung galt. „Außer dem Vertrauen, das ich zu Ihnen habe, leitete mich auch der Umstand, mein Herr, daß Sie meine Familienverhältnisse am besten kennen, daß ich nicht nöthig haben würde, hier im Orte von Dingen zu reden und Verlegenheiten zu erörtern, die nur ganz vorübergehend sein werden. Sie wissen, daß ich die einzige Erbin meiner Großmutter bin, und daß deren Nachlaß hinreichen wird, meine Schuld bei Ihnen vollständig zu decken –“

„Gnädige Frau, auf solche faule Speculationen lasse ich mich nicht ein,“ unterbrach der Kaufherr sie lachend.

Verletzt von einer heitern Laune, die ihrem stockenden Athem die letzte Kraft raubte, sah die junge Dame unsäglich betrübt zu dem jungen Manne empor. Felix fühlte sich nicht aufgelegt, diesen Blick zu beachten.

„Ueberdies sollten Sie sich nicht um Angelegenheiten bemühen, die Ihr Herr Gemahl so weit –“

„Mein Mann ist krank,“ fiel sie hastig dazwischen.

„Ja – ja. Will krank sein – muß krank sein –“ sprach Herr Mettling mit hohnvoller Geringschätzung.

„Nein, er ist krank!“ erklärte die Dame fest?

„Nun, so hat er es glücklicher Weise dahin gebracht, krank zu sein,“ behauptete hartnäckig Herr Mettling.

Eine Pause folgte diesem Ausspruche. Frau von Dahlhorst erhob sich, Herr Felix blieb sitzen. Sein Auge musterte das bleiche, verfallene Gesicht mit dem tiefen, kummervollen Schatten um Augen und Mund – sechs Jahre waren verflossen, seit er dies Gesicht nicht in der Nähe betrachtet hatte – sechs Jahre, ein langer Zeitraum, und dann in der Stunde, wo die breit ausgedehnte Vergangenheit zusammenfällt, ein so kurzer Abschnitt des Menschenlebens! Sechs Jahre! Er hatte sie ruhig in schwelgerischem Treiben verbracht – sie war von Sorgen, Schmerzen und Entbehrungen heimgesucht worden; sie hatte zwei Kinder begraben lassen müssen – o, was sie aber jetzt zu begraben begann, das griff härter an ihr Leben, das erschütterte das Mark ihres Herzens.

Aber sie verlor ihr liebliches, zufriedenes Lächeln nicht. „Sie haben also nicht Lust, mir zu helfen?“ fragte sie engelsmilde. „Sie tragen Bedenken, meiner Ehrlichkeit diese Summe anzuvertrauen? Die Sicherheit meines Wortes genügt Ihnen nicht?“

„Thut mir leid, Gnädigste!“ rief Herr Felix in munterem Tone. „Thut mir leid, – Ich zweifle nicht an Ihrer Ehrlichkeit und würde mir die Sicherheit Ihres Wortes wohl genug sein lassen, allein wer steht mir denn dafür, daß Sie nicht eher sterben, als Ihre sehr gut conservirte Großmama? Dann ist mein Anspruch „futsch!“

Frau von Dahlhorst sah ihn höchst betroffen an.

„Daran habe ich freilich nicht gedacht –“ stammelte sie. „Es wäre Unrecht, wollte ich Sie ferner mit meinen Bitten belästigen!“

„Es ist mir äußerst angenehm, daß Sie dies selbst einsehen, Gnädige,“ meinte der Herr sich erhebend. „Ihr Herr Gemahl ist als kinderloser Vater ausgeschlossen von der Erbschaft Ihrer Großmama, und wenn er auch erbte, so würde er mich dennoch nie bezahlen – das ist seine Mode nicht!“

Frau von Dahlhorst verbeugte sich abschiednehmend – Herr Felix that desgleichen und war dann schnell allein.

Frohlockend die Hände reibend, ging er zwei Mal hastig in dem kleinen Salon hin und her; frohlockend über die Niederlage, die er einer Dame bereitet, welche ihm ein Stein des Anstoßes in seinem Lebenswege gewesen war. Nicht, daß er sich einstmals so sehr um sie gegrämt hätte, oder daß er überhaupt noch irgend ein Gefühl für sie in der Brust gehegt, sondern lediglich frohlockend in dem schön menschlichen Vergnügen, sich rächen zu können. Er glaubte eine Heldenthat verrichtet zu haben, indem er den Zufall benutzte, der ihm die einzige Person in der ganzen weiten Welt bittend entgegenführte, welche ihn seiner rohen Außenseite wegen verworfen hatte. Zwar liebte sie damals schon den jungen Gerichtsassessor von Dahlhorst, der aristokratisch fein in allen Manieren, auch aristokratisch fein in andern Rücksichten sie blendete, aber für Lord Felix blieb es eine Blamage, daß das Publicum seine Bewerbung um diese reizende Adeline gesehen und daß es aus der Verlobung mit dem Assessor von Dahlhorst den zartgeflochtenen Korb für ihn errathen hatte.

Frohlockend schritt er also zwei Mal hin und her – er hätte tanzen mögen – da tönte es, wie eine Stimme in ihm und wie eine Stimme außer ihm: „Pfui, Felix – pfui! pfui!“ Er stand still. Sein starker Nacken beugte sich ein wenig. Seine großen blauen Augen glänzten nicht mehr. Wie Nebel zog es über seine breite Stirn. Er stand still. Sein guter Geist rauschte durch das Gemach.

„Was würde Elisabeth sagen?“ murmelte er, wie aus einem Traume erwachend.

Da hüpfte Lenchen herein, im neuen Putze, mit komischer Eleganz geschmückt, und fragte ihn nach Bestellungen, da sie wegen häuslicher Bedürfnisse nach der Stadt müsse. Zerstreut nickte er, und strich über ihre sammetweichen Wangen, die sie ihm geflissentlich nahe brachte.

„Das Wetter ist so mißlich,“ plauderte das hübsche Mädchen, „Wenn ich doch den Wagen nehmen dürfte –!“

„Warum nicht?“ erwiderte Lord Felix im gütigsten Tone. „Lassen Sie anspannen.“ –

„Befehlen Sie es dem alten Friedrich,“ bat Lenchen kluger Weise. „Von mir klänge es für jetzt noch unbescheiden. Ich bin zu kurze Zeit –“

„Pah! Friedrich muß Ihnen wie mir gehorchen,“ fiel Felix ein, als sie den Satz zu vollenden zögerte.

Der Befehl wurde gegeben, und Fräulein Lenchen machte in der Stille einen sehr zufriedenstellenden Vergleich zwischen sich und der gnädigen Frau von Dahlhorst, die im strömenden Regen zu Fuß gekommen war.


[467]
III.

Mittlerweile hatte sich Doctor Strodtmann der Mettling’schen Villa in Wolfenberg so weit genähert, daß er von dem Felsenabhange, an dessen Rande der Fußweg entlang lief, abwärts steigen mußte, um das Thal zu gewinnen.

Bekannt mit allen Schleichwegen im Gehölz wählte der junge, rüstige Mann den schmälsten und dabei steilsten Pfad, der kaum bemerkbar im Moosgrunde, endlich an dem gewöhnlichen breiten Fußsteige unweit des Waldbaches ausmündete.

Schon im Begriffe aus dem Dickicht in die freiere Lichtung zu treten, stutzte der Doctor plötzlich beim Anblicke einer weiblichen Gestalt, die sich dicht an dem Bache, der hier eine Cascade bildete und, vom Regen angeschwollen, mit betäubendem Rauschen über Steingeröll hinwegbrausete, auf einen bemoosten Stein niedergelassen und den Stamm eines jungen Tannenbaumes, wie des Haltes bedürftig, fest umschlungen hatte.

Es war Adeline von Dahlhorst, die arme, unglückliche junge Frau, die, unter einem fürchterlichen Kampfe mit ihren Gefühlen, hier allein mit Gott, dem sie sich gläubig und vertrauend unterwarf, „die Achtung für ihren Gatten begrub“.

Was ahnungsschwer seit kurzer Zeit in ihr aufgetaucht war, was, von dem Siegel eines unbedingten Zutrauens gelöst, schleichend in ihre Träume verpflanzt und von dort vernichtend in die Wirklichkeit gedrungen war, das hatte Bestätigung in der schonungslosen Behandlung durch den jungen Kaufherrn Mettling erlangt. Ja – das Leben und Dasein ihres Gatten war Lug und Trug! Sie erkannte es und sie fühlte, daß es eine Wohlthat sei, mit seinen unverschuldeten Leiden, mit seinen Demüthigungen, mit seinen Kränkungen und mit dem ganzen Trübsal eines verfehlten Lebens zu dem höchsten Wesen fliehen zu können, dem man Alles in vollster Hingebung klagen konnte.

Sie begrub in diesem schweren Momente das ganze Glück ihres Daseins, aber ihr Blick suchte dennoch nicht in grimmiger Verzweiflung, gefüllt von bittern, anklagenden Thränen, den Himmel, von dem sie Trost und Beruhigung erwartete, sondern mit jener geduldigen Trauer, die stets der Gewohnheit einen Scepter in die Hand drückt und sich freiwillig den Gesetzen der Nothwendigkeit beugt.

Sie wußte jetzt, daß ihr Lebensschiff nicht blos leck sei, sondern daß es an der Inconsequenz ihres Mannes gescheitert war. Zahlungen, die restirten, Wechsel, die fällig waren, wurden bis dahin leichtfertig von ihm gehandhabt – ein dunkles Schicksal war schon vor Jahresfrist drohend an sie herangetreten, aber seine fix fertigen Lügen, seine abweichenden Antworten, die sich bis zu heftigen Befehlen verstiegen hatten, scheuchten das Gespenst der Cassation, wie sie die plötzliche Verabschiedung ihres Gatten nennen zu müssen glaubte, wieder in den Winkel zurück, woraus es entstanden war. Die Besorgniß ihres Gemüthes stieg immer wieder von Neuem auf, als er, fast zu hastig für eine gewöhnliche Abreise, den Ort zu verlassen eilte, wo er bis dahin gelebt. Allein von der ganzen tiefen Verkettung seiner Schuld mit einem bösen Verhängnisse hatte sie keinen Begriff, weil Niemand auf der weiten Welt lebte, der es für angemessen fand, den Schleier zu lüften, welchen ihre Unerfahrenheit um sie wob.

Sie begrub die „Achtung“ vor dem Manne, den sie geliebt hatte, den sie trotz seiner Mängel noch liebte. Als sie gegangen war, eine Summe aufzunehmen, die als Wechselschuld seine Freiheit gefährdete, da hatte sie seiner Versicherung geglaubt, daß es eine zufällige Schuld sei, weder durch Leichtsinn verschuldet, noch einen Schatten auf ihn werfend.

Sie hatte geglaubt, was er betheuerte, daß nur dieses Geld nöthig sei, um ihn ganz zu retten. Jetzt wußte sie, daß er dennoch verloren war. Die Verurtheilung der Welt war zu ihr gedrungen in den wenigen Worten Mettling’s: „so würde er mich dennoch nie bezahlen, denn das ist seine Mode nicht!“

Sie unterschrieb mit vollem Bewußtsein dies Urtheil, aber die Liebe zu ihm senkte trotzdem die Flügel nicht. Ein himmlisches Lächeln verscheuchte nach und nach den Schatten des Grames, der auf ihrem zarten Gesichte lagerte – sie faltete ihre Finger in einander und hob mit der Kraft der Ergebung ihr Herz zu dem Lenker ihres Geschickes auf. Der Weg, den sie zu betreten beschloß, führte ab von dem, welchen sie bis dahin an der Seite ihres Gatten gewandelt hatte. Selbstständig erwerben und selbstständig bestehen, hieß die Losung ihrer Zukunft, und sie wußte schon, was zu thun sei, um dies in’s Werk zu setzen.

Die Gewitterwolken an ihrem Lebenshimmel verzogen sich vor ihren innern Blicken, Eine Seelenfreudigkeit neuer Art beherrschte sie plötzlich. Sie blickte in die leise bewegten Wipfel der Bäume, blickte auf das schäumend dahinfließende Wasser, lehnte ihr Haupt gegen den wankenden Stamm des jungen, zarten Bäumchens und stand dann rasch und muthig auf. Ehe sie fortging, tauchte sie, wie in einer schwärmerischen Eingebung, den Zipfel ihres Taschentuches in’s Wasser und netzte sich nach katholischem Ritus die Stirn damit. Dann mochte sie fühlen, wie erschöpft und durstig sie sei. Graziös kniete sie am Bache nieder, schöpfte mit der kleinen Hand das klare Wasser und trank es.

In allen bissen Bewegungen lag eine so bezaubernde Anmuth, daß dem unberufenen Lauscher das Herz immer mächtiger schlug und er endlich froh war, sie verschwinden zu sehen.

Es war wohl nur Zufall, daß der Doctor Strodtmann plötzlich eine gewaltige Müdigkeit verspürte und ganz genau denselben Stamm zum Ruheorte wählte, der dieser lieblichen Frau dazu gedient hatte. Er ließ sich nieder, lehnte sein schweres Haupt ebenfalls an den schlankgewachsenen Tannenbaum, der sich unwillig gegen diese neue Last zu bäumen begann, und träumte eine volle Minute einen hübschen Traum, der aber, das sah er beim jähen Erwachen sogleich ein, niemals im Leben in Erfüllung gehen konnte.

Gleich darauf sprang Herr Doctor Matthias Strodtmann auf und kam dann noch gerade zur rechten Zeit, um „seiner Mama Hausmamsell“ mit stolzer Würde in die schaukelnde Equipage steigen zu sehen.

Laut lachend eilte er in die Veranda, wo Lord Felix in behaglicher Stellung höchst unbehagliche Rückerinnerungen pflegte, und rief in ungebundener Laune:

„Bei Ihnen fährt das Frauenzimmer, das bei mir zu „repräsentiren“ sich anmaßen wollte, sogar schon im Triumphwagen? – das ist doch eine köstliche Personnage –!“

Felix, der nichts so tief haßte, als lächerlich zu erscheinen, fuhr wie von einem Natterbisse getroffen in die Höhe. Er zwang sich auch zum Lachen, weil es dem Doctor beliebte fortzulachen, und fragte dann abweichend, ob er naß geworden sei.

So leichten Kaufes gedachte ihn aber der Doctor nicht loszulassen. Er setzte sich vielmehr ganz ordentlich zurecht und erzählte ihm von den Antecedentien des albernen sich weit überschätzenden Lenchens das, was ihm zu wissen sehr noth that, allein vollkommen mit dem Anscheine, als begegne er auf dem Wege seiner bittern Persiflage nur Lenchen und Niemand anders, der sich damit betheiligt haben könne.

Er säete seine Saat ganz gehörig. Ob sie auf guten Boden fiel, konnte er nicht wissen, und ob sie zum Glücke der Menschen im Allgemeinen aufgehen würde, mußte abgewartet werden.

Der Doctor wußte jedoch ganz genau, wie viel spröder Stoff in der Natur des jungen Kaufherrn lag, und er berechnete, daß der Trotz, welcher biegen oder brechen liebte, nicht geweckt werden durfte. „Lenchen ist übrigens ein außerordentlich hübsches Mädchen,“ fügte er deshalb sehr freundlich und anerkennend hinzu, als er genug persiflirt hatte.

„Passabel – Doctor – passabel,“ kritisirte Felix etwas gleichgültiger, als er vor einer Stunde gethan haben würde.

„Und dabei brauchbar,“ fuhr der Doctor mit schlauen Seitenblicken fort. „Meine Schwester lobt sogar ihre Herzensgüte und meint, daß der alte Herr Mettling eine prächtige Pflegerin an ihr gewonnen haben würde.“

Das helle Roth, das bei diesen Worten den jungen Kaufherrn überstürzte, wußte er sich nicht recht zu deuten. Deshalb übersah er es und griff nach dem Glase Wein, welches ihm gerade vom alten Friedrich servirt wurde.

In natürlicher Gedankenverbindung flogen die Minuten, welche er lauschend am Bache verlebt hatte, jetzt an seiner Seele vorüber, als er seine durstigen Lippen in das köstlich duftende Naß des Rheinweinglases senkte. „Wenn sie doch einen Tropfen davon gehabt hätte, als ihr diese Stärkung so nöthig zu sein schien –“ dachte er. Dieser Gedanke löschte die Heiterkeit von seinen Mienen und machte, daß er tiefsinnig in die goldreine Flüssigkeit hineinschauete.

„Was haben Sie, Doctor?“ fragte Felix. „Ist der Wein nicht klar?“

Strodtmann schüttelte wehmüthig den Kopf. „Klar, wie Gold, Felix – aber ich dachte darüber nach, daß von diesem wunderbaren [468] Labsal, welches die Natur dem Menschen beut, so wenig dem wirklichen Bedürfnisse geopfert wird. Wie viele gesunkene Kräfte könnte dies verschwenderisch von mir verbrauchte Glas Wein erheben!“

„Philanthropische Träumereien eines dreißigjährigen Arztes bei einem Glase Rüdersheimer!“ rief Felix mit Humor und hielt ihm sein Glas zum Anstoßen entgegen. Die Gläser klangen wunderbar hell und harmonisch zusammen. Ganz verwundert sahen sich beide junge Männer an.

„Was sind das für Gläser?“ fragte der Doctor, das seinige prüfend emporhebend.

„Die alten, schon oft von uns zusammengestoßenen,“ erklärte Felix.

„Es war wie ein Geisterhauch, wie ein Engelston dazwischen –“ meinte der Doctor nachdenklich.

„Vielleicht daß der Engel der Philanthropie seine Fittiche regte,“ spottete Felix gutmüthig.

Der Doctor lächelte und trank. „Hätten Sie, wie ich, eine Frau belauscht, die zu Gott betete und dann den Durst mit einigen klaren Tropfen Gebirgswasser löschte, so würden Sie mich besser verstehen.“

„Eine Frau?“ wiederholte Felix betroffen, sein Glas niedersetzend. „Vielleicht eine Dame?“

„Ja, eine Dame, die wahrscheinlich erschöpfter vom harten Leben war, als wir Schwelger.“

„Doch nicht Frau von Dahlhorst?“ forschte Felix fast schüchtern. Als der Doctor bejahte, fuhr er flüsternd fort: „Und sie betete? Und sie dürstete? Bei Gott, Doctor, daran habe ich nicht gedacht – denken Sie nicht, daß ich ganz unmenschlich bin?“

„Wie so?“ fuhr Strodtmann ahnungsvoll auf. „War sie hier gewesen?“

„Ja,“ beichtete Felix ehrlich, und sein ganzes Bereuen leuchtete in seinen großen blauen Augen. „Sie war hier und wollte zwölfhundert zwei und sechszig Thaler von mir borgen, um den Wechsel zu decken, der morgen Abend ihren Mann in’s Schuldgefängniß liefert.“

„Natürlich weigerte sich der reiche Kaufherr Felix Mettling, der Lord unserer Residenz, dies Lumpengeld zu borgen?“ fragte Strodtmann bitter dazwischen.

„Ja,“ gab Felix kleinlaut zu. „Aber es war auch sonderbar von ihr – Sie hat mir nämlich vor sechs Jahren, als ich als Volontair in ihrer Vaterstadt mich aufhielt, ihres Mannes wegen einen Korb gegeben –“

„Und deswegen mußten Sie, natürlich ihres Mannes wegen, der Dame die Bitte abschlagen?“

„Der Kerl ist es nicht werth –“ entschuldigte sich Felix.

„Ist es die Dame werth?“ warf der Doctor ein.

„O, sehr werth! Adeline war immer das freundlichste und reizendste Wesen – sie war immer der Blitzableiter aller Stürme im Leben ihrer Angehörigen, Ich könnte Ihnen Geschichten von dieser engelhaften Frau erzählen –“

„Und dennoch konnten Sie es über’s Herz bringen, sie zu kränken?“ fuhr der Doctor auf.

„Der Mann soll gestraft werden. Er hat sich stets der Haft durch Lügen von Krankheit entzogen, und dann wird es auch für Adelinen gut sein, daß ihr die Augen geöffnet werden. Sehen Sie, Doctor,“ setzte er muthiger hinzu, „die kleine Lehre kann ihr und ihm nicht schaden. Nachher will ich helfen, so wahr Gott lebt.“

„Hülfe zu rechter Zeit ist wahre Christenbarmherzigkeit,“ murmelte Strodtmann vor sich hin. „Die Thränen zu trocknen, die vor dem Herzensjammer fließen, das Herz zu beruhigen, bevor Verzweiflung es bricht –“

Felix rückte unruhig hin und her auf seinem weichen Sessel.

„Sie betete, aber sie weinte nicht – geduldig netzte sie ihre trockenen Lippen mit dem Wasser, das sie mit der Hand erreichen konnte,“ phantasirte der junge Arzt in seltsamer Aufregung weiter.

„Mein Wort darauf, Doctor, daß ich ihr helfen will! Aber morgen soll und muß der Schuft, den sie Mann nennt, in’s Schuldgefängniß, und wenn er sich todkrank stellt.“

„Er ist wirklich krank!“ betheuerte der Doctor.

„Ja, ja! Wir wissen recht gut wovon. Er nimmt etwas ein, um krank zu scheinen – wir sind unterrichtet, wie er es dort in seiner Heimath gemacht –“

Der Doctor sah starr und erschrocken zu Felix auf.

„Was nimmt er ein?“ fragte er ängstlich.

„Irgend ein Gift, sagt man.“

„Allmächtiger Gott – der unsinnige Mensch!“

„Sind Sie sein Doctor?“ fragte Felix jetzt aufmerksam.

„Man hat mich vorgestern rufen lassen.“

„Damit Sie ein Krankenattest liefern sollen?“

„Ich habe versprochen, heute ein solches auszustellen.“

„Sehen Sie –“ triumphirte Felix.

„Und die Frau weiß von diesen widernatürlichen Experimenten?“ fragte der Doctor entrüstet,

„Die Frau? Du lieber Gott! Sie soll ihren kranken Mann in Baumwolle wickeln. Sie würde niemals gestatten, daß er seine Gesundheit auf’s Spiel setzte. Ich habe ihr einen Wink gegeben.“

„Sagen Sie nicht: seine Gesundheit, sondern: sein Leben auf’s Spiel setzt,“ sprach der Doctor mit tiefem, traurigem Ernste. „Ich muß fort – ich muß zu ihm! Lassen Sie mich jetzt schnell Ihren Vater sehen. Was war es mit ihm?“

Wieder flog ein unnatürlich scharfes Roth über des jungen Kaufherrn Gesicht.

„Er ist eigentlich mehr unwirsch, als krank,“ entgegnete er zögernd. „Ich wollte nicht zu Ihnen schicken, weil ich glaubte, mit der Entfernung des aufregenden Gegenstandes würde sich das Uebel beseitigen, aber der alte Papa verlangte bestimmt nach Ihnen.“

Der Doctor erhob sich und ging schnell, von Empfindungen zur Eile getrieben, die ein Gemisch von Angst, Zorn und Sorge waren, nach dem Zimmer des alten Herrn hinüber, der sich bei seinem Eintritte mit jugendlicher Elasticität erhob und ihm klar in’s Auge blickte. Der alte Herr Mettling war ein großer, schöner alter Mann, dem selbst die Krankheit nichts von seiner imponirenden Stattlichkeit geraubt hatte. So lange er saß, präsentirte er sich königlich, wenn er aber aufstand, so fiel die ganze Hülflosigkeit seines Körpers schmerzlich in’s Auge. Sein Sohn Felix war ihm sehr ähnlich, nur verlieh dem alten Herrn die Ruhe seines Innern eine Würde, die dem jungen Manne zur Zeit noch sehr mangelte. Aber alle diese Vorzüge wurden seit mehrern Monaten von einem Uebel beeinträchtigt, das ihm zeitweise das Aussehen eines Irren gab. Eine rastlose Unruhe, worin er sich vergeblich anstrengte, seine Lähmung der Füße zu bewältigen, und ein geistiges Abspringen von einem Gegenstande zum andern, verbunden mit Verwechselungen der Begriffe sowohl, als der Zeitperioden, ließ befürchten, daß wirklich sein Verstand ebenfalls bei dem Nervenschlage gelitten haben möge. Solche Unfälle gingen aber nach leichten Beruhigungsmitteln vorüber, und wenn auch danach im Allgemeinen eine gewisse Lethargie eintrat, die den alten Herrn an specieller Theilnahme bei geselligen Zusammenkünften verhinderte, so verrieth doch ein gewisses Behagen, daß er nicht ohne Genuß dabei sei. Es war noch Niemand eingefallen, eine Hebung dieses letztern Zustandes dadurch zu versuchen, daß man ihn sanft und freundlich anregte. Man begnügte sich damit, ihn mit dem zu versehen, was ihn erquicken und erfreuen konnte, und überließ ihn dann mit aller Freudigkeit Gott und seiner Natur.

Der Doctor erstaunte nicht wenig, als ihm jetzt der alte Herr mit den Kennzeichen geistiger und leiblicher Veränderung entgegenschaute und in allem Ernste Anstalten traf, sich allein aus seinem Schlafsessel zu erheben.

„Ho – ho!“ scherzte er mit der gewinnenden Jovialität, die ihn seinen Patienten so sehr angenehm machte. „Wenn der Kranke mit solchem Wesen seinem Arzte entgegenstrebt, so kann der Doctor wegbleiben. Wie geht’s, alter Herr? Vortrefflich, wie ich sehe! Und ich habe ein halb Pfund Senfteig und ein Dutzend Blutegel im Sacke! Was heißt denn das? Warum mußte ich denn heraus kommen? Etwa um Ihnen zu gratuliren zur Genesung?“

Herr Mettling lächelte und reichte ihm beide Hände. Der Doctor setzte ihn dann in eine bequeme Stellung und sah mit ärztlicher Aufmerksamkeit in die Augen, die gewöhnlich lebhaft zu rollen begannen, wenn Unruhe in ihm herrschte. Die Augen aber sahen so mild und so gütig aus, wie Gottes Augen. Er richtete sie ganz ruhig in die Höhe, als er gutmüthig entgegnete: „Sie sollen mir vor allen Dingen ein Attest der Zurechnungsfähigkeit ausstellen, bester Doctor!“

„Das thue ich sogleich in bester, vollgültigster Form!“ rief Strodtmann hastig und sehr munter.

„Dann aber sollen Sie mir Rath geben, und dann sollen Sie mir eine Bitte erfüllen oder vielmehr einen Wunsch meines Herzens erfüllen helfen!“

[481] Der Doctor sah ihn immer verwunderter an. Er begriff, daß im alten Papa Mettling mehr Verstand zurückgeblieben war, als man anzunehmen sich bewogen gefühlt hatte. Gespannt hing sein prüfender, scharfer Blick immerfort an den Augen und an dem Mienenspiele des alten Herrn.

„Zuerst eine Frage. Was halten Sie von der Person, die jetzt hier im Hause ist?“

„Von Lenchen?“ fragte der Doctor ahnungsvoll.

Der alte Mann lächelte wieder. „Ja, von der Helene!“ sprach er bedeutungsvoll.

Blitzschnell durchfuhr den jungen Mann der Gedanke, daß das Frauenzimmer den alten Herrn auch gekirrt habe, und zwar dem Anscheine nach mit äußerst günstigem Erfolge.

„Ein vortreffliches Mädchen!“ erklärte er diplomatisch verfahrend. „Wie ich höre, sind Sie sehr zufrieden mit ihr!“

„Wer hat Ihnen das gesagt? Felix etwa?“

„Mit Felix habe ich darüber zufällig noch nicht gesprochen. Ihr Bedienter sagte es mir.“

„Der Dummkopf!“ murmelte Herr Mettling. „Fräulein Helene – die ich beiläufig in Holzpantoffeln und zerrissenen Strümpfen sehr gut gekannt habe – scheint meinem Sohne mehr zu gefallen, als mir. Es hat heute beim Sonnenaufgänge darüber ein Unwetter gesetzt, und ich werde mich in Folge dessen von Felix trennen, weil er mir erklärt hat, meinem verrückten Eigensinne nicht die Behaglichkeit seines häuslichen Lebens opfern zu wollen.“

„O, Papachen – das hat er so böse nicht gemeint!“ warf der Doctor beschwichtigend ein.

Wieder flog das helle Lächeln eines ungetrübten Erkenntnißvermögens über die würdevollen Züge des alten Herrn.

„Ich meine es auch nicht böse mit ihm, liebster Doctor. Er ist ja mein einziges Kind! Aber ich weiß nicht, Doctor, ob Sie schon einmal im Leben mitten in einem dumpfen Dasein einen Lichtstrahl erblickt haben –“

Der Doctor erröthete und dachte an Adeline von Dahlhorst.

„Wo von diesem Lichtstrahle ein weiches Wohlgefühl, eine warme Freude am übrig gebliebenen Leben in Sie hineinströmte.“

Der Doctor lächelte resignirt.

„Ja? Haben Sie so etwas erlebt?“ fragte der alte Kaufherr lebhaft. „Nun, so wissen Sie, wie mir neulich zu Muthe wurde, als ein junges, schönes Mädchen mit liebreicher Herablassung, weil sie mich, wie alle meine Bekannten, kindisch glaubte, meine Unterhaltung suchte und mich liebevoll anzuregen strebte. Natürlich fand sie bald, daß ihre Bemühungen anerkannt wurden und daß sie es keineswegs mit einem geistesschwach gewordenen, sondern nur mit einem verdrießlichen und vernachlässigten Greise zu thun hatte. Sie goß Balsam in mein Herz, Doctor! Sie gab mir andere Medicamente, wie Ihr. Sie erkannte, daß Essen und Trinken nicht allein hinreichten, meine allerdings schwächer gewordene Geisteskraft zu befriedigen. Das lebhafte Plaudern dieses lieben, schönen Wesens tönte noch tagelang in meinem Kopfe nach, und ich bauete einen Plan auf die froh verlebte Stunde. Felix sollte dies Mädchen zur Gattin wählen! Ich ging zaghaft daran, seine Meinung über sie zu erforschen. Siehe da! Er war nichts weniger, als gleichgültig gegen diese Dame. Weiter dehnte ich meine Operationen nicht aus, denn sein Widerspruchsgeist darf nie geweckt werden.“

Der Doctor nickte bestätigend mit dem Kopfe. Er war ganz Ohr bei der zusammenhängenden Darstellung Mettling’s, dem er wahrhaftig solche Fassungskraft auch nicht zugetraut hätte. Aber hier hatten belebende Elemente gewaltet und den Nebel verscheucht, der sich successiv um einen sonst sehr hellen Verstand zu legen Miene machte. Wer mochte das schöne Mädchen sein, welches so erfrischend auf ihn gewirkt hatte?

Der Doctor hätte gern gefragt, allein er wollte aus Gründen den Ideenfluß des alten Herrn nickt unterbrechen. Tiefer fuhr fort:

„Bis vor vierzehn Tagen ging Alles vortrefflich, liebster Doctor. Da engagirte Felix, auf ihr dringendes Bitten, die Person, die jetzt im Hause regiert, und mein Traum zerfloß. Gut! Ich habe ihm meine Meinung gesagt. Will er in die Reihe mit einem „Sellner“, einem „Gutenburg“, einem „Ballhorn“ u. s. w. treten, lauter Männer, wie Sie wissen, die Weiber genommen haben, deren Dasein in ihren wohlgeordneten Häuslichkeiten ein ewiger Schandfleck bleibt, welcher edle Naturen daraus fern hält und sie vor sich selbst erniedrigt – gut, will Felix sich zu solchen erbärmlichen Cirkeln gesellen, so mag er es thun. Ich habe ihm freie Hand gelassen. Aber ich werde nie in dem Hause des Sohnes leben, wo eine Schwiegertochter waltet, die mit gemeiner Koketterie den Platz einer Hausfrau erobert hat. Wir trennen uns!“

„Aber, bester Papa – sind Sie nicht zu voreilig?“ fiel der Doctor wieder begütigend ein. „Sie schütten das Kind mit dem Bade aus!“

„Die Sache ist zwischen mir und Felix abgemacht!“ erklärte der alte Herr. „Ich werde, im Falle Sie mir ein Gesundheitsattest nicht versagen, meine Verfügungen treffen und mich anders situiren. Dazu sollen Sie mir die Hand bieten.“

[482] „Mit Freuden, wenn wirklich meine sonstigen Rathschläge zu spät kommen sollten.“

„Es fragt sich jetzt nur vor allen Dingen, ob ich das gute, liebe Mädchen, das mir neue Lebenslust eingehaucht hat, dahin zu überreden vermöchte, bei mir zu leben, bis ich entweder sterbe oder sie sich verheirathet. Sie soll keine Last von mir haben, guter Doctor,“ fügte er mit wehmüthiger Herzlichkeit hinzu. „Sie braucht nur in dem gütigen Tone, worin ihr ganzes Herz liegt, von Zeit zu Zeit mit mir zu plaudern. Sie soll sich nicht anstrengen. Ich verstehe sie besser, als alle andern Menschen. Ihr klangvolles, metallreiches Organ dringt hell in mein Ohr, auch wenn sie nicht sehr laut spricht. Gestatten Sie es immerhin, lieber Doctor, daß sie die paar Jahre, die ich noch zu leben habe, mein ödes Dasein verschönt. Sie thut es mit Freuden, das weiß ich schon, bevor ich sie gefragt habe –“

„Mein Gott, was ich dazu thun kann, soll geschehen,“ fiel der junge Mann etwas neugierig und dadurch ungeduldig ein. „Wer ist die Dame?“

Der alte Herr sah ihn groß an. „Ach – ich habe sie Ihnen noch nicht genannt?“ fragte er. „Ihre Schwester Elisabeth –“

Der Doctor fuhr zurück. „Liebster Papa Mettling –“ stammelte er, denn die königlich stolze Schwester mit der sehr wenig demüthigen Miene schien ihm doch nicht geeignet zur Gesellschafterin eines alten, geistig zerrütteten Mannes.

„Sie wollen es nicht?“ sprach der Kaufherr traurig. „Ich kann es wohl begreifen und mag es Ihnen nicht verargen, obwohl Elisabeth eigentlich allein darüber zu entscheiden hätte.“

„O, ich will es gern zugeben, bester Herr,“ entgegnete der junge Mann gefaßter. „Aber meine Schwester selbst könnte Einwendungen erheben.“

„Sie kommt zu mir – glauben Sie meinem Worte,“ rief Mettling entschieden.

„Meine Schwester ist sehr verwöhnt, lieber Herr! – Sie ist „eine Dame“ in dem ausgedehntesten Sinne des Wortes.“

„Und sie wird als meine Pflegetochter im Stande sein „eine Fürstin“ zu spielen!“

„Ihr Charakter ist gut, ihr Herz weich, aber opferbereit ist sie nicht.“

„Das soll sie auch nicht sein!“ rief der Kaufherr lebhaft. „Sie wird in dem Cirkel glänzen, der mein Haus nach wie vor beleben soll – sie wird die prachtvollen Räume meines Hauses von Gästen überfüllt sehen, und sie wird dennoch ein leises Wort der Ermuthigung für den armen, alten Besitzer desselben haben, der jetzt mit Speise und Trank versehen in einen Winkel gerollt wird, wo er Niemand im Wege ist.“

„Sie thun Felix Unrecht,“ rief der Doctor vorwurfsvoll.

„Meine Beschuldigung soll Felix nicht treffen, denn einem Manne fehlen die feinen Gemüthsregungen; sie spricht nur das aus, was mir bevorstehen wird bei einer herzlosen Schwiegertochter.“

„Mein Gott – und gerade meiner Schwester, die den Ruf der stolzesten Kälte hat, schenken Sie in dieser Hinsicht ein so unbedingtes Vertrauen?“

„Ich habe Ihre Schwester erkannt, lieber junger Freund. Handeln Sie jetzt in meinem Interesse und Sie werden sehen, daß sich mein Herz nicht getäuscht hat.“

„Was wird aber Felix dazu sagen?“

„Er ist einig mit mir! Aber wer meine Gesellschafterin, die dame d’honneur sein wird, das freilich weiß er nicht, und ich bitte, es ihm für jetzt vorzuenthalten.“

Kopfschüttelnd verließ der junge Doctor seinen Patienten, der fernerhin nicht mehr den beliebten Senfteig gebrauchen zu wollen schien, sondern in der Güte und Milde eines Mädchenherzens den Balsam zu gewinnen trachtete, der seinem armen Leben eine neue Quelle des Heiles zu werden verhieß.

Kopfschüttelnd verließ er sogleich die Villa, als er Felix nicht im Salon vorfand. Die Sache war ihm außer dem Spaße! Dazu also sollte Elisabeth von Gott so unendlich reich begabt sein, um einen alten, gelähmten Mann zu erfreuen? Dazu von Gott mit einem wunderbar schönen Organe ausgestattet sein, um einem alten, halbtauben Manne verständlich zu werden?

Nein, diese Selbstverleugnung würde an eine Erhabenheit gegrenzt haben, welche in der Wirklichkeit nahe der Lächerlichkeit verwandt gewesen wäre.

Der Doctor belächelte die kindische Sicherheit, womit der alte Kaufherr auf die Herzensgüte seiner Schwester baute, und es bangte ihm einigermaßen vor dem Eindrucke, den die abschlägliche Antwort Elisabeths auf den neubelebten, exaltirten Kranken machen mußte. Eilig ging er seines Weges, um nur so bald als möglich den Druck von seiner Seele los zu werden, der ihm, bei dem geringsten Anscheine einer Möglichkeit, eine totale Beklemmung verursachte.

Felix wurde von dem unerwartet schnellen Verschwinden des Doctors auch in eine Stimmung versetzt, die eben nicht beneidenswerth war.

Ein Zufall hatte ihn gerade in dem Augenblicke entfernt gehalten, als Strodtmann das Zimmer seines Vaters verließ und ohne Zögern seinen Aufbruch bewerkstelligte. Was für Gründe hatte dieser Mann, den er innig hochschätzte, dazu gehabt? Was hatte er gehört von seinem Vater? Was dachte er über das kleine Zerwürfniß im Hause, dem er bei weitem nicht die ernste Bedeutung beilegte, wie sein Vater?

Lord Felix wurde ein Raub der peinvollsten Ungewißheit. Dazu kamen die Vorwürfe seines Gewissens in Bezug auf Frau von Dahlhorst.

Was in dieser Zusammenkunft Uebles geschehen war, konnte freilich wieder gut gemacht werden, aber löschte sich dadurch der Flecken, den seine Inhumanität auf ihn warf? Sein rechtlicher Sinn war bereit, zu bekennen und zu bereuen, sein gutes Herz war entschlossen, den Irrthum zu vergüten, worein Uebereilung und Naturell ihn gestürzt, aber konnte dies die Schamröthe auf seiner Wange löschen, einem reinen, forschenden Blicke gegenüber, den er als ein Gottesgericht fürchtete?

Lord Felix befand sich also keineswegs in der besten Laune, als Lenchen hoffährtig in seiner Equipage wieder vorfuhr und mit gesteigerter Liebenswürdigkeit von der Verwunderung erzählte, womit man sie in dem Wagen betrachtet habe.

Armes Lenchen! Dein Zauber war gebrochen – Deine Naivetät hatte ihre Anziehungskraft verloren!

„Lassen Sie nicht ausspannen!“ herrschte der junge Herr sie an. „Ich will noch zur Stadt!“ Und sie ging demüthig, seine Befehle auszuführen. Sie dachte aber durchaus nicht daran, daß sie an einem gefährlichen Scheidewege angelangt sei, welcher von der Fülle ihrer Macht abwärts zu gehen drohete. Für jetzt rettete sie ihre angeborene Furcht vor der Herrschergewalt eines Hausherrn. Sie schwieg und weckte seinen Widerspruchsgeist nicht! Kam er erheitert aus der Residenz zurück, so hatte sie gewonnen Spiel.



IV.

Elisabeth hatte ihren Platz noch nicht verlassen, als ihr Bruder, athemlos von Hast und Aufregung, wieder zu Hause anlangte und sie ganz unvorbereitet mit der Frage überraschte, ob sie geneigt sein würde, die Stelle einer Gesellschafterin beim alten Herrn Mettling zu übernehmen, im Falle Felix sich mit Lenchen, der Mama Hausmamsell, verheirathe.

„Warum nicht?“ erwiderte die junge Dame mit einer Gelassenheit, die das Resultat der einsam verlebten Stunde in ihres Bruders Zimmer war. „Hat er einen Wunsch geäußert, der auf diese Offerte hindeutete?“

„Er hat mich geradezu beauftragt!“ rief der Doctor in sichtlicher Empörung und erzählte, wie er den alten Herrn gefunden habe. „Mich überrascht diese Mitteilung nicht,“ meinte Elisabeth. „Ich habe längst die Beobachtung gemacht, daß die Belebung seines geistigen Organismus möglich ist. Um so mehr schmerzte mich die Aussicht auf seine Abhängigkeit von Lenchens unverständiger Pflege.“

„Aber, Elfi – diese Belebung des Geistes kann momentan sein!“ rief Strodtmann.

„Schon der Versuch bringt Freude –“ antwortete sie kurz.

„Du bist ehrenhalber dann gezwungen, bei einem Halbverrückten auszuharren!“

„Wahngedanken bei einem alten und schwachen Manne sind leichter zu ertragen, als wahnsinnige Handlungen eines jungen und gesunden Menschen.“

„Es liegt ein närrischer Widerspruch in Deinem Stolze und diesem Entschlusse, denn Du betrittst hier ein Schlachtfeld des Lebens ohne Hoffnung auf den mindesten Sieg.“

„Rechnest Du den Segen, welchen zwei brechende Augen uns [483] spenden, nicht für eine glorreiche Anerkennung?“ fragte das junge Mädchen freundlich zu ihm aufsehend.

„Ja wohl! Ja wohl!“ spottete der Doctor gutmüthig. „Ich empfinde hinlängliche Ehrfurcht vor Deinem guten Willen, die Augen eines verlassenen Vaters zuzudrücken. Aber Elfi – im Stillen halte ich diesen guten Willen für eine verstellte Sympathie. Du hast Felix lieb!“

Elisabeth neigte ihren Kopf ein klein wenig, um ihre Bewegung zu verbergen.

„Das wäre kein Grund zu meinem Entschlusse,“ flüsterte sie. „Ich wünsche meinem Leben eine Bedeutung durch die Uebernahme einer Verpflichtung zu geben, und ich halte die gegenseitige Anziehung zwischen mir und dem guten alten Herrn für einen Fingerzeig, mich in ein Verhältniß zu verflechten, dem zwar der sonnige Farbenschmelz des Glückes fehlen wird, das aber immerhin einen Reiz in sich schließt, welcher mich hinlänglich beschäftigen wird. Das Diakonissenthum ist ja überdies Mode,“ fügte sie lächelnd hinzu.

„Du hast Felix lieb!“ antwortete der Doctor mit derselben Ruhe und Bestimmtheit, wie vorhin.

„Schon Jahre lang,“ erklärte sie nun mit wehmüthiger Verlegenheit.

„Sonderbares Mädchenherz! Er und Du – so heterogen in jeder Beziehung!“

„Glaub’ das nicht! Wir haben viel Gleiches, sprechen es aber mit verschiedener Zunge aus.“

„Du selbstständig, fest und ruhig wie Eis –“

Elisabeth unterbrach ihn: „Unter dem Eise wogt das Wasser so schnell und sprudelnd, wie im wärmsten Sommertage.“

„Er ein Chamäleon, ohne Halt, aufrauschend und dahin lebend, jedem Eindrucke preisgegeben!“

„Weit gefehlt! Felix ist so selbstständig, daß er sein eigener König ist. Er hat mich lieb, das weiß ich, aber –“

„Nun? Du stockst? Weshalb sollte er seine Neigung nicht offenbaren?“’

Elisabeth schlug ihre Augen tief nieder, als sie antwortete: „Ich bin ihm zu vestalisch – er will erobert sein! Dazu aber kann ich mich nicht entschließen!“

Der Doctor schwieg betroffen still. Er wunderte sich selbst über seine Unbefangenheit, womit er neben diesen beiden Leuten gelebt, ohne Argwohn zu fassen, da doch eigentlich die Sache so nahe lag.

Elisabeth schien eine Wiederanknüpfung des Gespräches nicht zu wünschen, denn sie sagte schnell, wie sich besinnend: „Frau von Dahlhorst sprach vorhin einen Augenblick bei mir vor. Sie wünscht ein Krankheitsattest für ihren Gemahl. – Matthias – ich habe ihr versprochen, daß Du dies Attest ausstellen würdest,“ fügte sie mit bittendem Tone hinzu.

„Herr von Dahlhorst befindet sich aber doch bester?“ fragte der Doctor aus seinem Sinnen auffahrend.

„So viel ich weiß, ja! Die junge Frau fürchtete, daß Du anstehen möchtest, das Attest zu geben, weil ihr Mann weit wohler sei, und sie verrieth mir unwillkürlich, daß es vielleicht nur einiger Tage bedürfe, um das Attest entbehren zu können. Daraus entnahm ich, daß es sich um einen Personalarrest handele. Wenn wir doch der armen Dame helfen könnten, Matthias!“

Der junge Mann zuckte bedauernd die Achseln.

„Es handelt sich allerdings um eine Wechselschuld von zwölfhundert Thalern etwa,“ antwortete er kleinlaut. „Das Attest kann ich unbedingt ausstellen, denn Dahlhorst ist krank. Was ich von Felix über die Art seiner Krankheit vernommen habe, macht mich sehr besorgt, und es liegt mir die Verantwortung über diesen Zustand ob. Ich will deshalb noch heute zu ihm gehen. Könnte ich über zwölfhundert zwei und sechszig Thaler disponiren, so wäre dies das beste Medicament für ihn – ein vortreffliches Gegengift –!“

Elisabeth richtete sich schnell in die Höhe. „Steht es so mit ihnen?“ fragte sie ängstlich. „Mein Gott, so hat die Darlegung ihrer Verhältnisse, worin sie als Garantie eine Erbschaft von ihrer Großmutter aufstellte, wohl ein Versuch sein sollen, von uns dies Geld zu borgen? Man hält uns für reich, weil wir brillant wohnen –“

„Ja wohl –“ unterbrach der Doctor sie ironisch. „Das verdanken wir dem Reinlichkeitsgenie unserer Mama.“

Elisabeth machte eine ungeduldige, abwehrende Bewegung.

„Matthias – Matthias –“ Sie stockte und brachte nichts weiter über ihre Lippen, sondern verließ eiligst das Zimmer.

Ehe sich Matthias von seiner Verwunderung über das Gebühren seiner sonst so sehr ruhigen Schwester erholen konnte, war sie wieder da. Hochroth im Gesichte, als schäme sie sich, zitternd, als begehe sie eine Sünde, verlegen, als übe sie einen kindischen Streich aus, hielt sie ihm ein Packetchen entgegen.

„Matthias – ich habe ja Geld – hinreichend so viel, wie Frau von Dahlhorst gebraucht. Es sind Actien, die Jeder kauft –“

Der Doctor sah sie starr an. Diese Samaritergüte überstieg seinen Horizont.

„Das willst Du opfern, Elfi?“ fragte er stark und laut.

„Sie gibt mir’s wieder!“ betheuerte sie mit gläubigem Vertrauen. „Sie ist stark, praktisch und energisch – sie will eine Pension für junge Mädchen errichten – sie gibt mir’s wahrhaftig wieder.“

„Also hat Dich der Himmel dazu die paar hundert Thaler in der Lotterie gewinnen lassen, um ihr zu helfen und mir zu zeigen, was für eine Schwester ich besitze!“ sprach Strodtmann mit tiefer Bewegung und zog das bebende Mädchen an seine Brust.

„Aber nun eile, lieber Matthias,“ begann Elisabeth nach einer Pause voll heiliger Rührung. Sie wendete sich von ihm und trat an’s Fenster, um ihre Fassung wieder herzustellen.

Der Abend war unterdessen näher gerückt, und der Regen hatte ganz aufgehört. Von der untergehenden Sonne glänzend umsäumt, schwammen mächtig große, weiße Wolken am klaren Himmelszelte. Vom Regenschleier befreiet, segelten sie mit ihrem goldig röthlichen Schmucke in fröhlicher Eile dem Horizonte zu.

Elisabeth erhob den Blick und verfolgte, von der Heiterkeit eines guten Gewissens belebt, ihren Lauf. Gedanken aller Arten erwachten dabei in ihrem Innern. Aber auch von ihrem Gemüthe waren die Trauerschleier, die seit mehreren Stunden es belästigt hatten, verschwunden, und was sie jetzt bewegte und beschäftigte, das schmerzte sie nicht.

Während sie abgewendet am Fenster stand, ordnete der Doctor mit freudebebender Hast und Eile die Papiere. Es war genug, um der Frau von Dahlhorst zu helfen. Dabei legte sich jedoch bleischwer die Frage auf sein Herz: war es auch genug, um ihre Lage auf immer zu verbessern?

Er zweifelte nach Felix’s Mitteilungen daran, allein das machte ihn nicht irre, sondern weckte nur den Gedanken, seine Schwester als Schutzgeist für diese Frau zu erwählen, um dadurch in den Stand gesetzt zu werden, sie behüten zu können.

Wie tief sein Interesse für sie war, übersah er dabei. Er wünschte nichts, als ihre blassen Wangen zu verscheuchen und ihrem prächtigen Naturell zu Hülfe zu kommen, das wie ein Sonnenstrahl überall durchbrach, auch wenn die drohendsten Wetterwolken ihren Lebenshimmel umhingen.

Ein Wagen rollte die Straße entlang. Zuerst beachtete Elisabeth dies gar nicht, dann aber meinte sie zu bemerken, daß dieser Wagen in einem Galopp fuhr, dir eigentlich in der Residenz nicht Mode war. Neugierig horchte sie auf und neugierig sah sie dem schnell näher kommenden Fuhrwerke entgegen.

Der Wagen brauste mit der Schnelligkeit einer Locomotive heran – er hielt, und ehe sie sich besinnen konnte, stürmte Lord Felix in ihres Bruders Zimmer. Sein bleiches Gesicht und der Ton seiner zitternden Stimme trug Spuren einer fürchterlichen Verstörung.

„Um Gottes Willen, Doctor! schnell! schnell! schnell! Er ist des Todes! Er stirbt!“ schrie er. „Um Gottes Willen, nehmen Sie meinen Wagen! Eilen Sie! Er stirbt, und sie ist ganz allein mit ihm!“

Strodtmann hatte bei dem ersten Laute dieser Stimme schon ganz mechanisch nach der Büchse mit dem beliebten Senfteige gegriffen und sein chirurgisches Besteck in die Tasche geschoben. Sein Blick suchte dabei das Auge seiner Schwester, und in diesem Blicke stand die Erklärung: „Mir hat es geahnt, daß diese Belebung des Geistes nur momentan sein könne!“ Der verschmähete und in Ruhestand versetzte Senfteig kam schnell wieder in Cours, und zwar früher noch, als er es berechnet hatte.

„Hat er Alteration gehabt?“ fragte der Doctor dabei, indem er den jungen Kaufherrn, welcher wie ein aufgescheuchter Löwe in einem Käfige umherlief, stellte und ihn zwang, seinen Lauf zu unterbrechen.

„Ich weiß es nicht! Doch wahrscheinlich!“ antwortete dieser mit dumpfem Tone.

[484] „Sein Zustand war merkwürdig hell!“ meinte der Arzt nachdenkend. „Man findet dies zuweilen vor einem nahen Ende –“

Felix schritt schrecklich aufgeregt wieder weiter.

„Sie haben nichts mit ihm vorgehabt? Mit Ihnen ist nichts vorgefallen, Felix?“ forschte der Doctor teilnehmend, während er seinen Rock zuknöpfte und nach dem Hute griff.

„Mit mir? Direct nicht! – Nein! Direct mit mir nicht!“ stöhnte der junge Mann. „Aber –“

„Aber mit Lenchen, nicht wahr? Es ist keine Indiscretion, die mich fragen läßt, Felix.“

„Mit Lenchen?“ fragte der junge Mann sehr gezogen, als müsse er sich erinnern, wer dies Lenchen sein könne.

„Mit Helene, wie Sie das Mädchen nennen!“ fiel Strodtmann nachhelfend ein.

„Was denken Sie denn, Doctor?“ fragte Felix frappirt. Ein helles Roth schlug über sein Gesicht, und sein Auge suchte verwirrt die stille Gestalt am Fenster, die voller Theilnahme jedem Worte folgte.

„Nun – daß Ihr Vater von Neuem heimgesucht ist. Nicht? Wer denn sonst? Zu wem soll ich denn kommen?“ fragte der junge Arzt ungeduldig.

„Zu Dahlhorst!“ rief Felix. „Zu dem unglücklichen Dahlhorst! Sie wissen ja –“

„Allmächtiger Gott!“ flüsterte der Doctor mit schnellem Verständnisse des Zusammenhanges.

„Sie wissen, wie abscheulich ich gehandelt –“ sprach Felix in voller Ueberwältigung fort. „Um es gut zu machen, fuhr ich zu ihm. Ich fand ihn in einem gräßlichen Zustande – Krämpfe entstellten ihn – o, welch ein fürchterliches Elend erträgt die zarte Frau – welch ein herzzerreißendes Elend!“

Strodtmann hörte die letzten Worte nicht mehr. Er warf sich in den Wagen und verschwand so rasch, wie Felix gekommen war.

Wie lange Lord Felix und Fräulein Elisabeth im Zimmer beisammen gewesen sind, ohne ein Wort mit einander zu wechseln, ist nicht genau zu bestimmen. Sie stand betäubt, die Stirn gegen die Hand gelehnt, am Fenster, und er ging in regelmäßiger Wildheit im Zimmer hin und her.

Endlich stand er still, und zwar in möglichster Entfernung von ihr, am Ofen.

„Hätte ich zur rechten Zeit geholfen!“ sprach er mit ganz verändertem, sehr festem Tone. Lord Felix war eine Natur, worin Sentimentalität nicht wuchert. Er sprach der Romantik aller Romanschreiber Hohn, die ihre Helden Stunden lang in leidenschaftlich bewegten Stimmungen agiren lassen. Lord Felix konnte sehr ergriffen werden, aber ihn incommodirte dies Gefühl, deshalb warf er es ab. Er konnte sehr ärgerlich werden, allein wenn er einige Proben seines Zornes von sich gegeben, so fand er es langweilig, darin zu verharren. Er besaß eine ziemliche Portion Egoismus und hielt stets für zweckdienlich, sein eigenes Wohlbehagen, das unter allen Gemüthsaufregungen litt, mehr zu berücksichtigen, als schöne, erhabene, rührende und aufgestörte Gefühle.

Genug, Lord Felix sagte so ruhig wie nur möglich: „Hätte ich zur rechten Zeit geholfen!“ – und er verrieth damit der aufhorchenden Elisabeth sein ganzes Vergehen.

„Sagen Sie mir die Wahrheit, Fräulein Elisabeth,“ fügte er fest hinzu, „Sie verdammen mich?“

„Nein!“ antwortete das junge Mädchen und hob traurig ihre Augen empor, um sie ohne alle Verlegenheit auf seine Blicke treffen zu lassen.

„Sie verabscheuen mich? – Ihre Augen sagen dergleichen!“

„Nein!“ antwortete sie ebenso wie vorhin.

„Sie verachten mich?“

„Verrathen meine Augen dergleichen?“ fragte sie sanft. Ihre Stimme klang unendlich mild.

„Was ist’s denn, was Sie fühlen?“ fuhr er auf.

„Mitleid!“ flüsterte sie, indem sie die Augen wieder senkte, aber unwillkürlich ihm näher trat.

„Mitleid? Mitleid? Bedauern muß ich mich lassen? Hassen Sie mich lieber, Elfi – hassen Sie mich! – Elfi! – Elfi! Es ist weit mit mir gekommen, wenn Sie mich bedauern und bemitleiden!“

Noch nie hatte der junge Mann die Benennung gewagt, welche nur im traulichsten und süßesten Momente der Bruderzärtlichkeit über Strodtmann’s Lippen ging. War es ein Wunder, daß das junge Mädchen ihre eisenfeste Haltung etwas verlor und sehr bleich wurde? Felix bemerkte ihre Blässe.

„Im Bedauern liegt Nichtachtung – im Mitleiden geringschätzendes Erbarmen! Weshalb fühlen Sie Mitleid, Elfi? – sprechen Sie die Wahrheit!“

„Weil ich Ihr Glück gefährdet sehe!“ entgegnete Elisabeth ganz ruhig.

„Mein Glück –?“ Die Unterredung des Doctors mit seinem Vater fiel ihm ein.

„Glauben Sie etwa an die Visionen meines irrsinnigen Vaters?“ fragte er hart und schonungslos.

Bevor Elisabeth ihrem hervorbrechenden Unwillen, der sich deutlich in ihrer ganzen Haltung und in dem groß und fest aufgeschlagenen Auge aussprach, Worte geben konnte, setzte der junge Mann hinzu: „Ich leugne nicht, daß mein Vater Ursache zu seinen Träumereien gehabt hat. Ich habe mir mehr mit dem Mädchen zu schaffen gemacht, als nöthig gewesen wäre, mehr, als eigentlich gut ist, aber, Elisabeth – ich kann frei meine Augen zu Ihnen emporschlagen, denn etwas Unrechtes, selbst in strengster Bedeutung des Wortes, geschah nicht. Glauben Sie mir das?“

„Ja!“ antwortete sie mit dem vollen Bewußtsein ihres nun aufblühendes Glückes.

Der Wagen kam zurück, natürlich ohne den Doctor. – Felix wollte fort. Eine unsichtbare Macht schien ihn zu halten, als er Anstalt traf, das Zimmer zu verlassen.

Elisabeth stand ihm ziemlich nahe. Er sah jeden Wechsel ihres Mienenspieles.

„Grüßen Sie Ihren Vater,“ sagte sie mit einem unbeschreiblich sanften Lächeln, das nicht ohne Verlegenheit war, „und sagen Sie ihm, daß ich bereit sei, seinem Anerbieten Folge zu leisten.“

Er blickte sich um. Das volle Verständniß dieser Bestellung legte sich auf seine Seele und rüttelte seinen Zorn wach.

„Ich glaube, Sie heiratheten eher einen alten Mann, ehe Sie sich zu der Herablassung entschlössen, einem jungen Anbeter eine Spur von Zärtlichkeit zu verrathen!“ fuhr er auf.

„Ganz gewiß,“ entgegnete sie, „denn über die reine, selbstlose Zärtlichkeit für jenen könnte sich kein Zweifel erheben.“

Zornig wendete er sich wieder ab und schritt vorwärts. Sie folgte ihm willenlos. Wenn er jetzt sie verließ, ohne das lang bewahrte Wort der Erklärung zu sprechen? Eine unnennbare Angst hob ihre Brust in heftiger Wallung. Beherrscht von ihrer tiefen, streng versteckten Zärtlichkeit stand sie an der Schwelle still. Vor diesem Sturm der Gefühle, der sich so jähe über sie geworfen, daß sie beinahe ihre Selbstherrschaft verlor, schwand die Kälte ihres Stolzes. Sie hatte nie den Wallungen des Herzens eine Stimme gestatten wollen, allein die Uebermacht der Liebe beugte sie.

Er stand abermals still und zögerte, die Thür zu öffnen. Dann wendete er sich blitzschnell, um irgend ein böses oder gutes Wort zu sprechen. Aber er kam nicht dazu. Er sahe nur die leidenschaftliche Bewegung in den Augen Elisabeth’s, und – im Nu hielt er sie in seinen Armen, Augen und Lippen ohne Scheu und ohne Zartsinn mit sehr verrätherischen Küssen bedeckend. Die schroffe Weiblichkeit Elisabeth’s war zur glücklichen Minute überwältigt gewesen, um die Hartnäckigkeit des Mannes zu besiegen.

„Komm – komm zu Deiner Mutter!“ flüsterte er nach dem ersten glücklichen Momente dieser wortarmen Liebeserklärung.

Elisabeth, von seinen Armen umschlungen, folgte willig. Glücklicherweise fanden sie Madam Strodtmann nicht rettungslos in Scheuer- und Putzgedanken versunken. Sie begrüßte das Paar mit unverhehlter Freude.

„Nun zu meinem Papa!“ drängte Felix, der voller Ungeduld schien, die ganze Welt von dem Siege in Kenntniß zu setzen, den er, freilich nur durch Zufall, erfochten hatte. Da stutzte Elisabeth. Sollte sie sich in einem Hause als Braut präsentiren, wo ein Mädchen von untergeordneten Verstandesbegriffen vielleicht in ihren Rechten sich gekränkt glauben konnte? Ihr Stolz steifte sich wieder auf und machte Miene, mit Herrschergebehrden einen Entschluß zu fassen.

„Deine Weigerung würde mir ein Beweis Deines Mißtrauens sein,“ sprach Felix sehr lordmäßig. „Du warst so sehr bereitwillig, meinem allen Papa Freude zu machen. Nun, meinst Du nicht, Elfi, liebe Elfi, daß er Deinen Abendgruß als das glücklichste Ereigniß seines kümmerlich beschränkten Lebens ansehen wird?“ – Elisabeth lächelte und befahl ihren Hut und ihr Tuch.

[486] Sie fuhren dahin im Abendlichte, umspielt von den neckischen Geistern der Luft.

Wie glücklich, o wie glücklich! Felix hatte gar nicht geglaubt, daß den stolzen, kalten Augen der klugen Elisabeth solche Wonne entströmen könnte. Seine Seligkeit wuchs mit jeder Minute, Trotzdem blieb er praktisch. Er beichtete jedes Wort, das am Morgen des Tages über das leidige Verhältniß zu Lenchen zwischen ihm und seinem Vater gefallen war. Als Alles, selbst das kleine Gespräch mit obligaten Liebkosungen des schönen dicken Armes, von ihm ausgeplaudert war, fragte Elisabeth doch etwas ernst: „Und wenn Frau von Dahlhorst nicht Deine Retterin geworden wäre? Wenn Du fortgerissen von –“ Er schloß ihr den Mund mit einem Kusse.

„Schweig, Elfi, schweig!“ rief er heftig. „Wir Männer sind ein ruchloses Volk und verdienen wahrhaftig Eure reine Liebe nicht. Vergib Alles, was geschehen ist, theure liebe Elisabeth – Du wirst nie, nie wieder Gelegenheit finden, die Verzeihende spielen zu müssen!“

Was der alte Herr Mettling für ein Gesicht machte, als ihm sein Sohn die schöne, stolze Braut in die Arme legte? Es ist zu leicht zu errathen, als daß es der Mühe werth wäre, Worte und Beschreibungen daran zu verschwenden.

Das Bemerkenswertheste bei dieser Ueberraschung blieb jedenfalls Lenchens Mienenspiel. Es wechselte ziemlich schnell unter den Wallungen von Erstaunen und Aerger, und sie soll nicht abgeneigt gewesen sein, eine sogenannte „Scene“ zu spielen.

Allein damit kam sie einem Manne wie dem Lord Felix sehr ungelegen. Als sie mit einer deutlichen Verzweiflungspantomime das Zimmer verließ und dabei ahnen ließ, daß sie in der Einsamkeit ihrer Kammer wohl von einer Ohnmacht befallen werden könne, da überließ der junge Herr sie ganz gelassen ihrer Natur, und er täuschte sich nicht, wenn er derselben ganz vortreffliche Heilkräfte zutrauete. Lenchen starb nicht am gebrochenen Herzen, hatte auch im Grunde nicht die mindeste Ursache dazu. Der erschütterndste Augenblick für das schwer getäuschte Mädchen ist aber jedenfalls der gewesen, wo ihr junger Geliebter offen heraus und keineswegs nach einer schicklichen Art suchend ihr erklärte, daß sie im Hause bleiben könne, wenn sie sich sonst vernünftig betragen wolle. Und mit welch grausamem Gleichmuthe machte er diese Offerte! Zuerst flammte sie, die hoffnungsreiche Träumerin, zornig auf und wollte à tout prix das Haus verlassen, wo sie so großartig geträumt hatte; dann aber berechnete sie, bei der beschlossenen Beschleunigung der Hochzeit, die für sie abfallenden pecuniären Vortheile und beschloß, bis nach der Verheirathung des jungen Paares zu bleiben.

Während sich auf diese Weise das Schicksal seiner Schwester Elisabeth auf eine überraschend schnelle Art entwickelte und feststellte, hatte der Doctor Strodtmann eine schwere Sorge um Herrn von Dahlhorst zu bestehen.

Es glückte ihm für den Augenblick, die Lebensgefahr, worin er wirklich schwebte, und in die er sich wahrscheinlich selbst gestürzt hatte, zu beseitigen, allein das Mark seines Lebens war gebrochen. Siech und elend erstand er von seinem Krankenlager und wurde fortan mit himmlischer Geduld von seiner Gattin Adeline gepflegt.

Von allen Sorgen befreit, in Elisabeth’s von Tag zu Tag wachsender Freundschaft Unterstützung findend, gab sich die junge Frau neuen Lebenshoffnungen hin. Ob aber mit der vollen glückseligen Hingebung eines Herzens, das mit Verehrung und Liebe an einen Gatten sich lehnt, kann man nicht wissen. Strodtmann blieb schroff und ernst in den Schranken des Arztes, und nicht ein Blick zeigte seine wachsende Sorge um dies zarte Wesen, das so schwer zu tragen hatte. Er überließ Alles, was zu thun nöthig war, seiner Schwester, und diese handelte mit der Aufmerksamkeit einer Mutter bei ihrer Hilfsleistung. Zwei Tage nach der glänzenden Trauung Elisabeth’s und Felix’s schlief der Herr von Dahlhorst plötzlich und unerwartet ein, um nie wieder zu erwachen.

Adeline von Dahlhorst verließ sogleich die Residenz und ging zu ihrer Großmutter zurück. Aber Elisabeth veranlaßte sie, von Zeit zu Zeit Besuche bei ihr zu machen und ihren Aufenthalt in ihrer schönen, glücklichen Häuslichkeit auf Wochen auszudehnen. Natürlich fand die junge Wittwe in dem Kreise dieser Familie den Doctor Strodtmann, und dieser ließ nach und nach die Maske der ernsten Zurückhaltung fallen.

Jetzt spricht man von einer nahe bevorstehenden Verlobung des Doctor Matthias Strodtmann und der liebenswürdigen Adeline. Des jungen Mannes Traum am Bache geht also wirklich in Erfüllung. Und Lenchen? Die letzten authentischen Nachrichten über diese lauten:

Nachdem die brillante Hochzeitsfeier des Lord Felix vorüber war, nahm dies modern civilisirte Proletarierkind eine Stelle als Kammerjungfer bei einer jungen Gräfin an, um ihre Particularinteressen weiter zu verfolgen. Und das Glück war ihr merkwürdig günstig. Ihre junge Gebieterin gehörte zum Hofe und siedelte mit demselben nach der Sommerresidenz über. Dort in Ferdinandslust wurde endlich ein Cavalier ersten Ranges, ein Baron Pelz von Bunzlau, von der reizenden Naivetät und holdseligen Unschuld des schönen Lenchens dermaßen bezaubert, daß er diese reine Blume aus dem „Schlamme der Verderbniß“, wie er das Garnisonleben der fürstlichen Gardeofficiere benannte, entführte und sie fern, sehr fern von der Heimath zu einem Pastor brachte, der die klassische Bildung Lenchens vervollständigen und die Kammerjungfergrazie abschleifen sollte.

Dort präsentirte der Herr Baron Pelz von Bunzlau das Mädchen als seine Braut. Ob sie aber jemals die Ehre haben wird, als Baroneß Pelz von Bunzlau in dem Ahnensaale derer Pelz von Bunzlau zu prangen, das ist eine Frage, welche von der Zukunft beantwortet werden muß.

Nach dieser Schicksalswendung hat Lenchen große Ursache, dem Dichter, der ihr Denkvermögen auf den Punkt geleitet hat, wo sie etwas leisten konnte, irgend einen fürstlichen Hausorden zu verschaffen. Es ist zu erwarten, daß sie ihren Einfluß, im Falle sie Einfluß gewinnt, dazu verwenden wird.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Unfall