Lithauische Märchen III

Textdaten
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Autor: Fr. Richter
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Titel: Lithauische Märchen III
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aus: Zeitschrift für Volkskunde, 1. Jahrgang, S. 230–239
Herausgeber: Edmund Veckenstedt
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Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Alfred Dörffel
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Google-USA*, Commons
Kurzbeschreibung:
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[230]
Lithauische Märchen.
Von
Fr. RICHTER.
[230]
1. Der starke Hans und der starke Peter.

Es war einmal ein König und eine Königin, welche über ein sehr grosses Land herrschten. Leider waren sie kinderlos und fühlten sich deshalb sehr unglücklich. Die Königin betete täglich zu dem lieben Gott unter heissen Thränen, er möge ihr doch ein Kind schenken, der König aber hielt die Zauberer für mächtiger als Gott und wandte sich deshalb nur an diese. Der liebe Gott hatte endlich Erbarmen [231] mit der Not der unglücklichen Königin. Eines Tages sandte er einen Engel zu ihr, welcher der Königin einen goldenen Fisch überreichte. Er sagte ihr, wenn sie den Fisch gegessen habe, so werde sie in Jahresfrist einem Sohne das Leben schenken. Die Königin ass den Fisch in froher Hoffnung

An demselben Tage, an welchem dies geschehen war, hatte der König eine mächtige Zauberin kommen lassen. Diese gab der Königin einen silbernen Fisch und sagte ihr, wenn sie denselben gegessen habe, so würde sie nach Jahresfrist einem Kinde das Leben schenken. Die Königin ass auch diesen Fisch.

Nachdem ein Jahr verflossen war, gab die Königin an einem und demselben Tage zwei Söhnen das Leben. Der älteste von ihnen hatte goldenes Haar und auf der Stirn einen goldenen Stern, der zweite aber silbernes Haar und auf der Stirn einen silbernen Stern. Der älteste wurde Hans, der zweite Peter genannt. Die Freude des Königs und der Königin war gross.

Die Knaben, denen man zwei tüchtige Ammen gegeben hatte, gediehen trefflich.

Eines Tages, es war im Sommer, geschah es, als die Knaben bereits einige Wochen alt waren, dass die Ammen mit den Kindern in den grünen Wald gingen. Sie legten die Kinder in das Gras und entfernten sich ein wenig von ihnen, um sich die Gegend anzusehen. Kaum waren die Ammen fort, so kamen eine Löwin und eine Bärin, welche den Kindern ihre Milch darboten. Als die Knaben die Milch der Löwin und der Bärin getrunken hatten, entfernten sich die Tiere, ohne dass die Ammen von den Vorgang etwas gemerkt hatten. Die Knaben wurden von der Milch, die sie genossen, gewaltig stark.

Nach einigen Tagen fiel es den Ammen ein, wiederum mit den Kindern in den Wald zu gehen, sie in das Gras zu legen und sich die Gegend anzusehen. Kaum hatten sie sich von den Kindern entfernt, so kam die Zauberin, welche der Königin den silbernen Fisch gegeben hatte, des Weges, und als sie sah, dass Hans viel schöner und stärker als der Knabe war, welcher ihrer Zauberei das Leben verdankte, rief sie vermöge ihrer Kunst zwei grosse Schlangen herbei und befahl ihnen, sie sollten Hans töten. Darauf entfernte sie sich. Die Schlangen umschnürten auch den Knaben, aber Hans war so stark, obgleich er erst einige Wochen alt war, dass er mit jeder Hand eine Schlange erfasste und dieselbe zerdrückte.

Kurze Zeit darauf kamen die Ammen zu den Kindern zurück. Kaum hatten sie die erwürgten Schlangen gesehen, so ahnten sie den Vorgang, hoben voll Schrecken die Knaben auf und eilten mit ihnen nach Hause. Dort erzählten sie, was geschehen war. Als der Vorgang im Volke bekannt wurde, schauten die Leute mit Bewunderung auf die Knaben und meinten, gewiss sei ein Engel ihr Vater.

Die Kinder wuchsen zu starken Knaben und zu so kräftigen Jünglingen heran, dass man sie bald nur den starken Hans und den starken Peter nannte. Oftmals gaben sie Beweise ihrer ungeheuren Kraft. Als sie fünfzehn Jahre alt waren, erschlug Hans einen gewaltigen Löwen, den [232] ganze Scharen von Jägern nicht zu überwältigen vermocht hatten, Peter aber wälzte einen grossen Stein einen hohen und steilen Berg hinan.

Kurze Zeit darauf wurden die beiden Königssöhne auf der Jagd von einer Räuberschar überfallen, aber obgleich sie beide nur allein waren, erschlugen sie doch die Räuber alle.

Aber noch immer zürnte die Zauberin darüber, dass Hans schöner und stärker als Peter war. Sie sann aufs neue darauf, wie sie ihn verderben könnte. Zu diesem Zwecke liess sie aus der Erde ungeheure Riesen hervorwachsen, deren Antlitz viereckig war. Die Füsse der Riesen waren Schlangen, ihre Hände Drachen. Die Zauberin befahl den Riesen, sie sollten sich im Walde verstecken und den starken Hans, wenn er sich wieder auf der Jagd befinde, überfallen und töten.

Hans wollte denselben Tag wieder auf die Jagd gehen. Er forderte scinen Bruder auf, ihm zu folgen, dieser fühlte sich unwohl. So kam es, dass Hans allein auf die Jagd gehen musste. Bevor er den Wald betrat, begegnete ihm ein Männchen. Dieses Männchen war der Engel, welchen einst Gott zu seiner Mutter mit dem goldenen Fische gesandt hatte. Auch jetzt hatte ihn Gott geschickt, damit er die Anschläge der bösen Zauberin zunichte mache. Das Männchen sprach zu Hans: „Bevor Du in den Wald gehst, bade Dich in dem Bache am Saume desselben, sodann nimm die Salbe, welche ich Dir hier geben werde, und salbe Deinen Leib damit ein. Hast Du das gethan, so wirst Du fortan unverwundbar sein. Ausserdem gebe ich Dir Bogen und Pfeile. Die Pfeile werden nie ihr Ziel verfehlen, worauf Du sie auch richten wirst.“

Nachdem das Männchen Salbe, Pfeil und Bogen übergeben hatte, war es plötzlich verschwunden. Hans nahm die Geschenke, badete und salbte sich, darauf ging er in den Wald. Er war noch nicht tief in den Wald eingedrungen, so überfielen ihn die Riesen, aber Hans erlegte sie in einem furchtbaren Kampfe alle bis auf den letzten.

Der starke Hans kehrte nach dieser heissen Arbeit nach Hause zurück. Er beschloss, mit seinem Bruder Peter sich die Welt anzusehen, jeder von ihnen sollte aber sein Glück in der Fremde allein versuchen. Demgemäss trennten sie sich, als sie an einen Kreuzweg gekommen waren.

Hans war noch nicht weit.gegangen, da sah er neben einem Gewässer ein weinendes Mädchen, welches an einen Baum gebunden war. Er erfuhr von dem Mädchen, dass es für einen Drachen, der im Wasser hause, als Opfer bestimmt sei, der Drachen habe das Gebiet ihres Vaters, des Königs, verheert Seit der Zeit bringe man dem Untier jährlich ein Opfer dar. Dieses stehe alsdann von seinen Verheerungen ab. Nun habe in diesem Jahre das Los sie getroffen, bald werde der Drachen kommen und sie verschlingen.

Als Hans das Schicksal des schönen Mädchens, welches weinend dem schrecklichen Tode entgegensah, vernommen hatte, versprach er, dasselbe zu befreien. Kaum hatte er sich zum Kampfe fertig gemacht, so brach der Drachen aus dem Wasser hervor. Er war furchtbar anzusehen und hatte zwölf Köpfe, Hans aber trat ihm mutig entgegen. Bald hatte er dem Drachen mit einem gewaltigen Schwertstreich ein Haupt [233] abgeschlagen. Da sah er, dass sofort an Stelle des einen abgeschlagenen Hauptes zwei neue aus dem Rumpfe des Untieres hervorwuchsen. Schnell entschlossen rieb der starke Hans zwei dürre Bäume aneinander und als sie in Brand geraten waren, benutzte er den einen als Fackel und brannte damit, sobald er einen Kopf abgeschlagen hatte, die blutende Wunde aus. So konnte kein Kopf mehr nachwachsen. Bald war Hans des Untieres Herr geworden,

Sogleich befreite er die Prinzessin und geleitete sie zu ihrem Vater. Vorher aber tauchte er mehrere von seinen nie fehlenden Pfeilen in das Blut des Drachen, denn er wusste, dass das Blut eines solchen Untieres giftig sei. Fortan führte er auch vergiftete Pfeile.

Als er mit der glücklich geretteten Prinzessin an den Hof ihres Vater kam, war dort die Freude gross. Da die Jungfrau sehr schön war, ebenso wie der starke Hans, so gewannen sie bald einander so lieb, dass Hans mit Bewilligung der schönen Königstochter um ihre Hand anhielt. Der König hatte keine Neigung, dem Fremdling sein Kind zu geben. Deshalb sann er darauf, diesen zu verderben. Er sagte dem Befreier seiner Tochter zwar die Hand derselben zu, verlangte aber, dass ihm dieser vor der Vermählung einige Aufgaben löse, damit er seine Tüchtigkeit noch weiter erweise. Der starke Hans war dazu bereit. Da befahl ihm der König, er solle einen wilden Löwen töten, welcher in einem nahen Walde hauste und der Schrecken des Reiches war. Der Löwe hatte ein Fell, welches keine Waffe zu durchdringen vermochte. Hans machte sich auf den Weg. Als er des Löwen ansichtig wurde, riss er einen gewaltigen Baum des Waldes aus, und erschlug mit demselben das Untier.

Darauf sollte Hans ein wildes Pferd einfangen, welches schnell wie der Wind lief. Hans machte sich auf den Weg nach dem Orte, wo das Pferd zu weiden pflegte. Als er es erblickte, schoss er ein Pfeil auf dasselbe ab, und lähmte mit demselben das schnelle Tier. Nun gelang es ihm leicht, dasselbe einzufangen.

Darauf sollte Hans verschiedene Ungetüme töten, welche in einer Höhle des Waldes hausten. Dieselben waren halb Menschen, halb wilde Hunde. Der starke Hans wurde ihrer glücklich Herr vermöge seiner nie fehlenden giftigen Pfeile. Nun wünschte der König, einen Ochsen aus der Herde des Riesenkönigs zu haben. Der Riesenkönig hatte zwölf Köpfe, vierundundzwanzig Arme und ebensoviel Füsse. Die Ochsen waren so gross und so fett, dass ein einziger genügte, eine ganze Schar von Kriegern zu sättigen. Bewacht wurde die Herde von einem Riesen, welcher hundert Augen hatte, die Füsse desselben waren Schlangen, die Arme aber von Eisen. Der Hund des Riesen war gleichfalls ein Ungetüm, er hatte zwölf Köpfe. Der starke Hans tötete den Hund, den Riesen sowie den Riesenkönig und brachte einen der Ochsen angetrieben, wie ihm befohlen war.

Schliesslich sollte Hans drei Äpfel vom Baume der Gesundheit und des Lebens holen. Der Weg zu diesen Äpfeln führte durch die Hölle, in welcher der Teufel die Seelen der Sünder peinigt. Der starke Hans machte sich auf den Weg. Als er in die Hölle gelangt war und der Teufel ihn erblickte, wurde er zornig über den Eindringling, und hetzte [234] seinen Hund auf ihn. Dieser Höllenhund hatte drei Köpfe, statt der Schnauze aber Löwenrachen, aus denen Feuer und heisser Dampf hervorbrach. Die Haare des Hundes waren Schlangen, seine Füsse die eines Elefanten. Aber der starke Hans ergriff den Hund und drückte ihn so gewaltig zu Boden, dass dieser froh war, als Hans ihn endlich losliess. Winselnd verkroch sich das Untier. Darauf stellte sich der Teufel selbst dem Eindringling entgegen. Hans aber besiegte ihn in einem heissen Ringkampfe.

Jetzt sah sich Hans in der Hölle um. Zu seinem Erstaunen fand er seinen Bruder Peter an einem Felsen in der Hölle angeschmiedet. Sogleich befreite er ihn und nachdem er erfahren, wie er in die Lage gekommen und dass auch die Gemahlin seines Bruders in der Hölle sei, befreite er auch diese, dann sandte er beide auf die Erde zurück.

Darauf wanderte Hans weiter in der Hölle. Endlich kam er zu dem Baume der Gesundheit und des Lebens. Der Baum stand ganz in der Nähe des Paradieses, bewacht wurde er von einem Drachen mit hundert Augen. Hans band den Drachen mit eisernen Ketten, pflückte drei Äpfel und brachte sie dem Könige. Nun konnte der König seine Tochter dem starken Hans nicht mehr verweigern und die Hochzeit wurde alsobald gefeiert.

Wie es Peter ergangen und wie er in die Hölle gelangt war, werden wir sogleich erfahren. Als er an dem Kreuzwege Hans verlassen hatte, kam er nach einiger Zeit in eine Stadt, in welcher er alles voll Trauer fand. Auf sein Befragen hörte er, dass der König des Landes gezwungen sei, einem fremden Herrscher, der auf einer Insel lebe, jährlich zehn Jünglinge und zehn Jungfrauen, einer Übereinkunft gemäss, zu senden. Der Jünglinge und Jungfrauen harre auf der Insel ein schreckliches Los. Sie würden dort in ein Gebäude, das Hunderte von Gemächern habe, sich aber unter der Erde befinde, eingesperrt. In den unterirdischen Gemächern hausten wilde Tiere, und diejenigen von den Jünglingen und Jungfrauen, welche nicht von den Tieren zerrissen würden, müssten elend unter der Erde verschmachten. Wer einmal in diesen Gemächern sei, der finde daraus nie mehr den Ausweg. Diesmal sei man besonders traurig gestimmt, denn die Tochter des Königs gehöre zu den Jungfrauen, auf welche das Los gefallen sei.

Als Peter hörte, dass das Schiff mit den Jünglingen und Jungfrauen in den nächsten Tagen absegeln werde, war er sogleich entschlossen, dieselben zu begleiten und zu befreien. Kaum waren sie an der Insel gelandet, so wurden sie auch schon in die unterirdischen Gemächer hinabgestossen. Peter hatte sich mit einer langen Schnur versehen, knüpfte dieselbe an der Thür an, und behielt den sich abwickelnden Knäuel in der Hand. Kaum waren alle in die Gemächer gelangt, in welchen die Tiere hausten, so gab der starke Peter die Schnur einem der Begleiter zu halten, er selbst aber erlegte in einem heissen Kampfe die Tiere alle. Darauf führte er an seiner Schnur die Eingesperrten wieder aus den unterirdischen Gemächern heraus und erschlug sodann den grausamen Herrscher der Insel. Darauf bestiegen die Befreiten mit ihrem Erretter das Schiff und segelten frohlockend der Heimat zu. Hier wurden sie mit Jubel empfangen, [235] der starke Peter heiratete die Königstochter und bekam, da der Vater seiner jungen Gemahlin bereits alt war, die Herrschaft über das Land. Allein die benachbarten Völker und Herrscher mochten von dem neuen König nichts wissen. Bald zogen sie mit Heeresmacht gegen den neuen König, allein der starke Peter ging aus allen Kämpfen als Sieger hervor.

Unter denen, welche den neuen König bekriegten, war auch ein Volk von Weibern, deren Hände Schwerter waren. Als auch diese in einem Kampfe besiegt waren, riefen sie zu ihrer Hilfe Untiere herbei, welche halb Menschen, halb wilde Hunde waren. Der starke Peter fühlte sich zu schwach, den Kampf gegen dieselben aufzunehmen. Er rief den Teufel aus der Hölle herbei, dass er ihm helfe. Der Teufel kam und war bereit, die gewünschte Hilfe zu gewähren, aber nur unter der Bedingung, dass ihm dafür Peter seine Gemahlin überlasse. In seiner Not musste Peter alles versprechen. Kaum waren die Untiere besiegt, so forderte der Teufel seinen Lohn. Peter musste seine Gemahlin dem Teufel übergeben. Aber nach kurzer Zeit erfasste ihn eine solche Sehnsucht nach seiner geliebten Frau, dass er beschloss, dem Teufel die Beute zu entreissen. Er stieg in die Hölle hinab, unterlag aber hier im Kampfe mit dem Teufel und ward von diesem an den Felsen geschmiedet, von welchem ihn sein Bruder Hans später befreite.

Fortan lebten der starke Peter und der starke Hans glücklich mit ihren Gemahlinnen, und da sie einander stets halfen, so oft ein feindliches Heer nahte, so vermochte ihnen kein Feind etwas anzuhaben. So kam es, dass sie bald die glücklichsten und mächtigsten Könige der Welt waren.


2. Der Rabe.

Vor langen, langen Jahren lebte einmal eine arme Witwe, welche zwei Kinder hatte, einen Knaben und ein Mädchen. Die Kinder waren im übrigen gut geraten, hatten einander und die Mutter sehr lieb, nur besass der Knabe den Fehler, dass er gern die Sahne von der Milch naschte. Die Frau hatte nur eine Kuh; wenn dieselbe gemolken und sie die Milch aufgestellt hatte, ging ihr Sohn stets darüber her, so oft die Mutter es auch verboten hatte, und ass die Sahne ab. Dadurch wurde es der Witwe unmöglich, Butter zu gewinnen. Endlich geriet die Witwe in einen solchen Zorn, dass sie ihren Sohn in einen Raben verwünschte. Zu der Zeit hatten nämlich die Eltern noch die Macht, ihre Kinder in jedes beliebige Tier verwünschen zu können.

Jeden Tag kam nun der Rabe in den Hof seiner Mutter, um dort einen oder den andern Bissen zu erhaschen. Die Tochter der Witwe war sehr betrübt, dass sie ihren Bruder nicht mehr hatte, und als der Rabe einst wieder in den Hof gekommen war, befragte sie denselben, ob sie ihn erlösen könne. Der Rabe sagte, das könne sie wohl thun, aber sie müsse dann sieben Jahr hindurch mit den Tieren des Waldes leben und dürfe in diesen sieben Jahren kein Wort sprechen, es geschehe, was da wolle.

[236] Die Tochter der Witwe entschloss sich, das Erlösungswerk zu vollbringen. Sie ging in den Wald und lebte dort wie die Tiere des Waldes, von Früchten und Wurzeln. Des Nachts kletterte sie auf einen Baum und schlief in seinen Zweigen. Ihre Kleidung zerfiel, so dass das lange Haar ihres Hauptes bald ihre einzige Bedeckung war, aber sie war zufrieden und glücklich in dem Gedanken, ihren Bruder erlösen zu können.

So waren bereits drei Jahre verflossen. Da geschah es eines Tages, dass der junge König des Landes mit Gefolge in den Wald auf die Jagd ging. Zufällig traf es sich, dass der junge König sich von seinem Gefolge etwas entfernt hatte. Plötzlich erblickte er ein seltsames Wesen, welches nicht Tier und nicht Mensch zu sein schien. Dasselbe lief beim Anblick des Königs eilig davon und kletterte behend auf einen Baum. Der junge König trat näher hinzu. Er redete das Wesen in verschiedenen Sprachen an, erhielt aber keine Antwort. Schon legte er einen Pfeil auf die Bogensehne, um zu schiessen, da fiel ihm der Gedanke ein, das seltsame Wesen sei vielleicht ein Mensch, der stumm sei. Er forderte es also auf, wenn es nicht ein Tier, sondern ein Mensch wäre, so solle es vom Baume herabkommen, sonst werde er schiessen. Sogleich kam dasselbe vom Baume herab. Nun sah der junge König, dass es ein Mädchen war, und da inzwischen der Abend hereingebrochen war, nahm er es mit sich auf sein Schloss, ohne dass jemand es gewahr wurde. Hier wies er ihm ein Zimmer an und liess dem Mädchen aus dem Walde Kleidung reichen. Als das Mädchen dieselbe angelegt hatte, erwies es sich, dass sie die schönste Jungfrau in allen Landen war.

Fortan besuchte sie der junge König täglich. Er gewann sie lieb und immer lieber und brachte ihr selbst, damit niemand von seinem Geheimnis etwas erfahre, Essen von seiner Tafel.

Endlich fiel der verwitweten Mutter des jungen Königs das Verhalten ihres Sohnes auf. Sie fragte nach der Ursache und ihr Sohn erzählte alles, ja er sagte sogar, er sei fest entschlossen, die schöne Jungfrau zu heiraten.

Zuerst wollte die alte Königin von diesem Gedanken nichts wissen, als sie aber die Schönheit des Mädchens und ihr liebenswürdiges Benehmen sah, willigte sie ein, trotzdem die zukünftige Gemahlin ihres Sohnes stumm zu sein schien. Die Hochzeit ward mit grosser Pracht gefeiert und der junge König fühlte sich glücklich an der Seite seiner Gemahlin, trotzdem dieselbe nie ein Wort sprach und zuweilen traurig war. Das war aber dann der Fall, wenn sie an ihren Bruder dachte. Kurze Zeit nach der Hochzeit starb die alte Königin. Nun stand die junge Königin allein am Hofe; ausser ihrem Gemahl hatte niemand sie lieb, ja die Damen und Herren am Hofe sannen darauf, sie zu verderben. Sie konnten es nämlich derselben nicht verzeihen, dass sie die Liebe des Königs erworben hatte und nicht eine von den Hofdamen an ihrer Stelle auf dem Throne sass.

Als etwa ein Jahr verflossen war, nahte die Zeit heran, in welcher die Königin ihren Gemahl mit einem Kinde beschenken sollte. Jetzt schien es ihren Feinden gelegene Zeit, sie zu verderben. Zu dem Zwecke wussten sie an der fernsten Grenze des Landes einen Krieg anzuzetteln. [237] Dem jungen König blieb nichts übrig, da die Feinde sehr mächtig waren, als gegen dieselben mit seinen Kriegern auszuziehen. Wenige Tage darauf, nachdem der König gegen den Feind gezogen war, erblickte ein junger Prinz das Licht der Welt.

Die Hofdamen liessen das Kind umbringen, legten es in einen Sarg und vergruben die kleine Leiche an einem versteckten Ort im Garten. Die Königin stand weinend am Fenster und sah, wo der Sarg beigesetzt wurde. Darauf liessen die Hofdamen von einem Waldwärter einen jungen Fuchs herbeischaffen und legten diesen der Königin an die Brust. Sie verbreiteten das Gerücht, die Königin habe einem jungen Fuchs das Leben gegeben.

Sobald der König aus dem Kriege heimgekehrt war, wurde ihm erzählt, seine Gemahlin habe einen kleinen Fuchs geboren; er solle sie nur wieder dorthin bringen, woher er sie geholt habe, denn es sei nicht passend, dass ein Tier des Waldes auf dem Throne sitze, wenn es auch die Gestalt eines Menschen habe. Der König war zwar sehr traurig, allein er liebte seine Gemahlin zu sehr und verstiess sie nicht.

Die junge Königin weinte wohl bitterlich über alle Vorkommnisse, aber auch jetzt sprach sie kein Wort, denn sie gedachte der Erlösung ihres Bruders.

Nachdem ein Jahr verflossen war, nahte wieder die Zeit, in welcher die Königin ihren Gemahl mit einem Kinde beschenken sollte. Wieder wussten es die Feinde der Königin so einzurichten, dass ihr Gemahl in den Krieg ziehen musste. Als die Königin einem zweiten Sohne das Leben gegeben hatte, töteten die Hofdamen denselben und liessen die kleine Leiche neben der seines Bruders beisetzen. Die Königin stand wieder am Fenster und sah unter Thränen, wie die Leiche ihres Sohnes bestattet wurde. Darauf musste der Waldwärter einen jungen Wolf herbeiholen und man legte diesen der Königin an die Brust. Als ihr Gemahl zurückgekehrt war, wurde ihm der junge Wolf gezeigt und gesagt, dies sei sein zweiter Sohn. Jetzt verlangten alle Hofleute stürmisch, der König solle seinem Lande eine Königin geben, welche Menschen und nicht wilden Tieren das Leben gebe. Die junge Königin hörte dies alles mit an, ihre Thränen flossen reichlicher als je, aber auch jetzt noch sprach sie kein Wort. Der König sagte, er werde noch ein Jahr mit seiner Gemahlin leben; würde dann wieder ein Tier geboren, so werde er sich des Landes wegen von ihr trennen.

Das Jahr war noch nicht verflossen, so war von den Feinden der jungen Königin wiederum ein Krieg angestiftet worden und wieder musste der König mit seinen Kriegern in das Feld ziehen.

Als die Königin einem dritten Sohne das Leben geschenkt hatte, geschah mit diesem dasselbe, was man seinen beiden Brüdern angethan hatte. Auch diesmal sah die Königin vom Fenster aus, wo die kleine Leiche beigesetzt ward. Jetzt liessen die Hofdamen einen jungen Bären bringen und legten diesen der weinenden Königin an die Brust.

Kaum war der König zurückgekehrt, so entstand ein solcher Aufruhr am Hofe und im Volke, dass der König sich entschliessen musste, wenn er nicht Thron und Leben auf das Spiel setzen wollte, seine geliebte [238] Gemahlin zu verstossen. Er liess sie in den Wald zurückgeleiten. Obgleich die junge Königin, welche ihren Gemahl mehr als das Leben liebte, in Thränen fast zerfloss, so sprach sie doch kein Wort, sondern gedachte der Erlösung ihres Bruders.

Im Walde lebte die arme Verstossene wieder ein Jahr in der alten Weise. Die Früchte und Wurzeln des Waldes waren ihre Nahrung, der Quell löschte ihren Durst, auf den Bäumen schlief sie des Nachts. Endlich aber war die Zeit erfüllt, dass ihr Bruder erlöst war.

Eines Tages kam ein Rabe in den Wald geflogen und trat als blühender Jüngling vor seine Schwester, welche ihn erlöst hatte. Das Glück derselben war gross, aber schmerzlich gedachte sie ihres Gatten und ihrer Kinder, sagte aber ihrem Bruder von dem Vorgefallenen nichts. Die beiden Geschwister lebten fortan im Walde. Sie errichteten sich eine kleine Hütte aus Baumzweigen, der Bruder ging bei Tage auf Arbeit aus, des Abends aber kehrte er zu seiner Schwester zurück und brachte dieser alles, was er verdient hatte.

Eines Tages geschah es, dass die Schwester einen weiten Weg gemacht hatte und sich ermüdet im Walde niederliess, um auszuruhen. Zufällig hatte sie sich neben einen Ameisenhaufen gesetzt und dabei einige der Ameisen erdrückt. Voll Bedauern sah sie das Unheil, welches sie angerichtet hatte. Aber indem kamen Ameisen herbei, welche ein eigentümliches Gras trugen. Sie legten dasselbe auf die Toten; kaum hatte das Gras dieselben berührt, so wurden sie wieder lebendig. Da gedachte die junge Mutter ihrer toten Kinder, sammelte von dem Grase, soviel sie finden konnte, und ging damit in der nächsten Nacht in den Garten des Königs, ihres früheren Gemahls. Schnell grub sie einen der kleinen Särge auf und hielt der kleinen Leiche das Gras unter die Nase. Alsobald bekam der Knabe Leben. Darauf rief sie auch ihren zweiten und dritten Sohn in das Leben zurück und ging freudigen Herzens mit ihren Kindern zur Hütte im Walde. Hier erzählte sie ihrem erstaunten Bruder alles Vorgefallene; der aber hatte seine Schwester nur um so lieber und war glücklich, fortan für alle sorgen zu können.

Als die Hofdamen das Verderben der jungen Königin beschlossen hatten, war dies besonders in der Hoffnung geschehen, es werde, im Fall ihr Plan gelinge, bald eine von ihnen zur Königin erhoben werden. Aber der junge König gedachte trauernd seiner verstossenen Gemahlin und beschloss, nicht wieder zu heiraten.

Eines Tages befand er sich mit grossem Gefolge im Walde auf der Jagd. Er hatte sich von seinem Gefolge entfernt, nur sein treuester Diener war bei ihm. Plötzlich sah der König eine Hütte von Baumzweigen. Er betrat dieselbe und fand darin eine schöne junge Frau mit drei Söhnen. Die Frau hatte für ihn etwas sehr Bekanntes, allein er wusste nicht, wohin er sie bringen sollte. Der König bat um etwas Essen, und als ihm das gereicht war, legte er sich nach der Mahlzeit auf ein Mooslager, um auszuruhen, seinem Diener aber befahl er, draussen vor der Hütte zu wachen, damit ihm nichts geschehe. Bald war der König in Schlaf gesunken. Der Diener stellte sich so auf, dass er durch eine Öffnung in das Innere der Hütte blicken konnte, selbst aber nicht gesehen wurde. Da [239] geschah es, dass dem König, welcher die Arme über die Brust gekreuzt hatte, ein Arm von Brust und Lager niedersank. Als die Frau das sah, sagte sie zu ihrem ältesten Sohne: „Gehe hin und lege den Arm wieder zurecht, denn es ist dein Vater, dem du diesen Dienst erweisest.“ Der Knabe that, wie ihm geheissen war. Der Arm sank bald darauf zum zweitenmal nieder. Da sagte die Frau zu ihrem zweiten Sohne dieselben Worte, und auch dieser that, wie ihm geheissen war. Als der Arm zum drittenmal niedergesunken war, trat die Frau, ihren jüngsten Sohn auf dem Arme, auf den Schlafenden zu, und sprach zu dem Kleinen dieselben Worte. Mit ihrer Hilfe brachte der Knabe den Arm in seine rechte Lage.

Bald darauf erwachte der König und liess sich und seinen Diener noch einmal zu essen geben. Darauf machte er sich mit ihm auf den Weg. Unterwegs erzählte dieser dem Könige, was sich während seines Schlafes zugetragen habe. Da fiel es dem Könige wie Schuppen von den Augen; jetzt wusste er, dass niemand anders als seine Gemahlin mit ihren Kindern in der Waldhütte wohne. Eilig kehrte er zurück. Kaum hatte er seine frühere Gemahlin erblickt, so eilte er auf sie zu, gab ihr die süssesten Namen und herzte und küsste sie. Sein Glück wurde nur erhöht, als er von seiner wiedergefundenen Gemahlin alles, was sie erduldet hatte, erfuhr.

Indem kehrte auch der Bruder zurück. Nachdem der König auch diesen herzlich begrüsst hatte, machten sich alle auf den Weg zur Stadt nach dem Schlosse. Hier wurde strenges Gericht über die Schuldigen gehalten, das Volk aber freute sich über das Glück seines Königs und über die Schönheit und Güte seiner Gemahlin. Die drei Königskinder wuchsen zu kräftigen Jünglingen und tüchtigen Männern heran und übernahmen nach dem Tode ihrer Eltern die Herrschaft über das Reich.

Anmerkungen (Wikisource) Bearbeiten

Die Märchen sind auch als Einzeltexte verfügbar unter:

  1. Der starke Hans und der starke Peter
  2. Der Rabe