Kapitel I Lichtenstein von Wilhelm Hauff
Erster Teil, Kapitel II
Kapitel III
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[57]

II.


 „Steigt deine Hoffnung wieder?
 Ist nicht dein Herz entbrannt?
 Du fühlst dich, Jüngling, wieder
 Im alten Schwabenland.“
 G. Schwab.[1]


Der festliche Aufzug, den wir auf den letzten Blättern beschrieben haben, galt den Häuptern und Obersten des Schwäbischen Bundes, der an diesem Tage, auf seinem Marsch von Augsburg, wo er sich versammelt hatte, in Ulm einzog. Der Leser kennt aus der Einleitung die Lage der Dinge. Herzog Ulerich von Württemberg hatte durch die Unbeugsamkeit, mit welcher er trotzte, durch die allzuheftigen Ausbrüche seines Zornes und seiner Rache, durch die Kühnheit, mit welcher er, der Einzelne, so vielen verbündeten Fürsten und Herren die Stirne bot, zuletzt noch durch die plötzliche Einnahme der Reichsstadt Reutlingen den bittersten Haß des Bundes auf sich gezogen. Der Krieg war unvermeidlich, [58] denn es stand nicht zu erwarten, daß man Ulerich, nachdem man so weit gegangen, friedliche Vorschläge thun werde.

Hiezu kamen noch die besonderen Rücksichten, die jeden leiteten. Der Herzog von Bayern, um seiner Schwester Sabina Genugthuung zu verschaffen, die Schar der Huttischen um ihren Stammesvetter zu rächen, Dieterich von Spät[Hauff 1] und seine Gesellen, um ihre Schmach in Württembergs Unglück abzuwaschen, die Städte und Städtchen, um Reutlingen wieder gut bündisch zu machen, sie alle hatten ihre Banner entrollt und sich mit blutigen Gedanken und lüstern nach gewisser Beute eingestellt.

Bei weitem friedlicher und fröhlicher waren bei diesem Einzug die Gesinnungen Georgs von Sturmfeder, jenes „artigen Reiters“, der Berthas Neugierde in so hohem Grade erweckt, dessen unerwartete Erscheinung Mariens Wangen mit so tiefem Rot gefärbt hatte. Wußte er doch kaum selbst, wie er zu diesem Feldzug kam, da er, obgleich den Waffen nicht fremd, doch nicht zunächst für das Waffenwerk bestimmt war. Aus einem armen, aber angesehenen Stamme Frankens entsprossen, war er, frühe verwaist, von einem Bruder seines Vaters erzogen worden. Schon damals hatte man angefangen, gelehrte Bildung als einen Schmuck des Adels zu schätzen. Daher wählte sein Oheim für ihn diese Laufbahn. Die Sage erzählt nicht, ob er auf der hohen Schule in Tübingen, die damals in ihrem ersten Erblühen war[2], in Wissenschaften viel gethan. Es kam nur die Nachricht bis auf uns, daß er einem Fräulein von Lichtenstein, die bei einer Muhme in jener Musenstadt lebte, wärmere Teilnahme schenkte als den Lehrstühlen der berühmtesten Doktoren. Man erzählt sich auch, daß das Fräulein mit ernstem, beinahe männlichem Geiste alle Künste, womit andere ihr Herz bestürmten, gering geachtet habe. Zwar kannte man schon damals alle jene Kriegslisten, ein hartes Herz zu erobern, und die Jünger der alten Tubinga hatten ihren Ovid vielleicht besser studiert als die heutigen, es sollen aber weder nächtliche Liebesklagen noch fürchterliche Schlachten und Kämpfe um ihren Besitz die Jungfrau erweicht haben. Nur einem [59] gelang es, dieses Herz für sich zu gewinnen, und dieser eine war Georg. Sie haben zwar, wie es stille Liebe zu thun pflegt, niemand gesagt, wann und wo ihnen der erste Strahl des Verständnisses aufging, und wir sind weit entfernt, uns in dieses süße Geheimnis der ersten Liebe eindrängen zu wollen oder gar Dinge zu erzählen, die wir geschichtlich nicht belegen können; doch können wir mit Grund annehmen, daß sie schon bis zu jenem Grad der Liebe gediehen waren, wo man, gedrängt von äußeren Verhältnissen, gleichsam als Trost für das Scheiden ewige Treue schwört; denn als die Muhme in Tübingen das Zeitliche gesegnete und Herr von Lichtenstein sein Töchterlein zu sich holen ließ, um sie nach Ulm, wo ihm eine Schwester verheiratet war, zu weiterer Ausbildung zu schicken, da merkte Rose, Mariens alte Zofe, daß so heiße Thränen und die Sehnsucht, mit welcher Maria noch einmal und immer wieder aus der Sänfte zurücksah, nicht den bergigten Straßen, denen sie Valet sagen mußten, allein gelte.

Bald darauf langte auch ein Sendschreiben an Georg an, worin ihm sein Oheim die Frage beibrachte, ob er jetzt nach vier Jahren noch nicht gelehrt genug sei? Dieser Ruf kam ihm erwünscht; seit Mariens Abreise waren ihm die Lehrstühle der gelehrten Doktoren, die finstere Hügelstadt, ja selbst das liebliche Thal des Neckars verhaßt geworden. Mit neuer Kraft erfrischte ihn die kalte Luft, die ihm von den Bergen entgegenströmte, als er an einem schönen Morgen des Februar aus den Thoren Tübingens seiner Heimat entgegenritt, wie die Sehnen seiner Arme in dem frischen Morgen sich straffer anzogen; wie die Muskeln seiner Faust kräftiger in die Zügel faßten, so erhob sich auch seine Seele zu jenem frischen heiteren Mute, der diesem Alter so eigen ist, wenn die Gewißheit eines süßen Glückes im Herzen lebt und vor dem Auge, das Erfahrung noch nicht geschärft, Unglück noch nicht getrübt hat, die Zukunft heiter und freundlich sich ausbreitet. Wie der klare See, der das heitere Bild, das auf ihn herabschaut, nicht minder freundlich zurückwirft und mit diesen reizenden Farben seine Tiefe verhüllt, so hat gerade das Ungewisse dieser Zukunft seinen eigentümlichen Reiz. Man glaubt im Kopf und Arm Kraft genug zu tragen, um dem Glück seine Gunst abzuringen, [60] und dies Vertrauen auf sich selbst gibt bei weitem mutigere Zuversicht als die mächtigste Hülfe von außen.

So war die Stimmung Georgs von Sturmfeder, als er durch den Schönbuchwald seiner Heimat zuzog. Zwar brachte ihm dieser Weg dem Liebchen nicht näher, zwar konnte er nichts sein nennen als das Roß, das er eben ritt, und die Burg seiner Väter, von welcher der Volkswitz sang:

„Ein Haus auf drei Stützen,
Wer vorn hereinkommt,
Kann hinten nicht sitzen.“

Aber er wußte, daß dem festen Willen hundert Wege offen stehen, um zum Ziel zu gelangen, und der alte Spruch des Römers: „Fortes fortuna juvat“, hatte ihm noch nie gelogen.

Wirklich schienen auch seine Wünsche nach einer thätigen Laufbahn bald in Erfüllung zu gehen.

Der Herzog von Württemberg hatte Reutlingen, das ihn beleidigt hatte, aus einer Reichsstadt zur Landstadt gemacht, und es war kein Zweifel mehr an einem Krieg.

Der Erfolg schien aber dasmal sehr ungewiß. Der Schwäbische Bund, wenn er auch erfahrenere Feldherrn und geübtere Soldaten zählte, hatte doch in allen Kriegen durch Uneinigkeit sich selbst geschadet. Ulerich, auf seiner Seite, hatte vierzehntausend Schweizer, tapfere, kampfgeübte Männer, geworben, aus seinem eigenen Lande konnte er, wenn auch minder geübte, doch zahlreiche und tüchtige Truppen ziehen, und so stand die Wage im Februar 1519 noch ziemlich gleich.

Wo alles um ihn her Partei nahm, glaubte Georg nicht müßig bleiben zu dürfen. Ein Krieg war ihm erwünscht; es war eine Laufbahn, die ihn seinem Ziele, um Marie würdig freien zu können, bald nahebringen konnte.

Zwar zog ihn sein Herz weder zu der einen, noch zu der andern Partei. Vom Herzog sprach man im Lande schlecht, des Bundes Absichten schienen nicht die reinsten: Als aber, durch Geld und Klagen der Huttischen und durch die Aussicht auf reiche Beute bestochen, achtzehn Grafen und Herren, deren Besitzungen an sein Gütchen grenzten, auf einmal[Hauff 2] dem Herzog ihre Dienste aufsagten, [61] da schien es ihn zum Bunde zu ziehen. Den Ausschlag gab die Nachricht, daß der alte Lichtenstein mit seiner Tochter in Ulm sich befinde; auf jener Seite, wo Marie war, durfte er nicht fehlen, und so bot er dem Bunde seine Dienste an.

Die fränkische Ritterschaft, unter Anführung Ludwigs von Hutten[3], zog sich am Anfang des März gegen Augsburg hin, um sich dort mit Ludwig von Bayern und den übrigen Bundesgliedern zu vereinigen. Bald hatte sich das Heer gesammelt, und ihr Weg glich einem Triumphzug, je näher sie dem Gebiete ihres Feindes kamen.

Herzog Ulerich war bei Blaubeuren, der äußersten Stadt seines Landes gegen Ulm und Bayern hin, gelagert. In Ulm sollte jetzt noch einmal zuvor im großen Kriegsrat der Feldzug besprochen werden, und dann hoffte man in kurzer Zeit die Württemberger zur entscheidenden Schlacht zu nötigen. An friedliche Unterhandlungen wurde, da man so weit gegangen war, nicht mehr gedacht, Krieg war die Losung und Sieg der Gedanke des Heeres, als ein frischer Morgenwind ihnen die Grüße des schweren Geschützes von den Wällen der Stadt entgegentrug, als das Geläute aller Glocken zum Willkomm vom anderen Ufer der Donau herübertönte.

Wohl schlug auch Georgs Herz höher bei dem Gedanken an seine erste Waffenprobe; aber wer je in ähnlicher Lage sich befand, wird ihn nicht tadeln, daß auch friedlichere Gedanken in seiner Seele aufzogen und ihn Kampf und Sieg vergessen ließen. Als zuerst, noch in weiter Ferne, das kolossale Münster aus dem Nebel auftauchte, als nachher der verhüllende Dunstschleier herabfiel und die Stadt mit ihren dunkeln Backsteinmauern, mit ihren hohen Thortürmen sich vor seinen Blicken ausbreitete, da kamen alle Zweifel, die er früher tief in die Brust zurückgedrängt hatte, schwerer als je über ihn. „Schließen jene Mauern auch die Geliebte ein? Hat nicht ihr Vater, seinem Herzog treu, vielleicht in die feindlichen Scharen sich gestellt, und darf der, dessen ganze Hoffnung darauf beruht, den Vater zu gewinnen, darf er sich jenem [62] gegenüberstellen, ohne sein ganzes Glück zu vernichten? Und ist der Vater auf feindlicher Seite, kann Marie möglicherweise noch in jenen Mauern sein. Und wenn alles gut wäre, wenn unter der festlichen Menge, die sich zum Anblick des einziehenden Heeres drängt, auch Marie auf ihn herabschaut, hat sie auch die Treue noch bewahrt, die sie geschworen? –“

Doch der letzte Gedanke machte bald einer freudigeren Gewißheit Raum, denn wenn sich auch alles Unglück gegen ihn verschwor, Mariens Treue, er wußte es, war unwandelbar. Mutig drückte er die Schärpe, die sie ihm gegeben, an seine Brust, und als jetzt die Ulmer Reiterei sich an den Zug anschloß, als die Zinken und Trompeten ihre mutigen Weisen anstimmten, da kehrte seine alte Freudigkeit wieder, stolzer hob er sich im Sattel, kühner rückte er das Barett in die Stirne, und als der Zug in die festlich geschmückten Straßen einbog, musterte sein scharfes Auge alle Fenster der hohen Häuser, um sie zu erspähen.

Da gewahrte er sie, wie sie ernst und sinnend auf das fröhliche Gewühl hinabsah, er glaubte zu erkennen, wie ihre Gedanken in weiter Ferne den suchten, der ihr so nahe war, schnell drückte er seinem Pferde die Sporen in die Seite, daß es sich hoch aufbäumte und das Pflaster von seinem Hufschlag ertönte. Aber als sie sich zu ihm herabwandte, als Auge dem Auge begegnete, als ihr freudiges Erröten dem Glücklichen sagte, daß er erkannt und noch immer geliebt sei, da war es um die Besinnung des guten Georg geschehen; willenlos folgte er dem Zuge vor das Rathaus, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte ihn seine Sehnsucht alle Rücksichten vergessen lassen und unwiderstehlich zu dem Eckhaus mit dem Erker hingezogen.

Schon hatte er die ersten Schritte nach jener Seite gethan, als er sich von kräftiger Hand am Arm angefaßt fühlte.

„Was treibet Ihr, Junker?“ rief ihm eine tiefe, wohlbekannte Stimme ins Ohr, „dort hinauf geht es die Rathaustreppe. Wie? ich glaube, Ihr schwindelt, wäre auch kein Wunder, denn das Frühstück war gar zu mager. Seid getrost, Freundchen, und kommt. Die Ulmer führen gute Weine, wir wollen Euch mit altem Ramsthäler anstreichen.“

[63] Wenn auch der Fall aus seinem Freudenhimmel, in welchem er einige Minuten geschwebt hatte, auf den Rathausplatz in Ulm etwas unsanft war, so wußte er doch dem alten Herrn von Breitenstein, seinem nächsten Grenznachbar in Franken, Dank, daß er ihn aus seinen Träumen aufgeschüttelt und von einem übereilten Schritte zurückgehalten hatte.

Er nahm daher freundlich den Arm des alten Herrn und folgte mit ihm den übrigen Rittern und Herren, die sich von dem scharfen Morgenritte an der guten Mittagskost, die ihnen die freie Reichsstadt aufgesetzt hatte, wieder erholen wollten.



  1. Anfang der 2. Strophe der 14. Romanze aus Gustav Schwabs (1792–1850) „Romanzen aus dem Jugendleben des Herzogs Christoph von Wirtemberg“
  2. Die Universität wurde 1477 gestiftet
  3. Der Vater des ermordeten Hans von Hutten.

Anmerkungen (Hauff)

  1. [167] Die Herren von Spät waren der Herzogin auf ihrer Flucht aus dem Lande behülflich gewesen. Der Herzog hatte bittere Rache an ihren Gütern genommen.
  2. [167] Siehe C. Pfaffs Geschichte I, 278.
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