Land und Leute/Nr. 36. Pancratius Sanitabringius im Elsaß

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Titel: Pancratius Sanitabringius im Elsaß
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aus: Die Gartenlaube, Heft 36, S. 574–578
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Reisebericht aus der Artikelserie Land und Leute, Nr. 36
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[574]
Land und Leute.


Nr. 36. Pancratius Sanitabringius im Elsaß.


Wenn die Sitten eines Volkes dargestellt werden sollen, so kann die Religion und das religiöse Leben nicht außer Acht bleiben. Es ist bekannt, daß das Elsaß, Straßburg und die Landstädte obenan, der Herd vielfacher religiöser Bewegungen gewesen. Hier ist nicht der Ort, darüber eine Geschichte zu schreiben. Aber es muß hervorgehoben werden, daß die Bevölkerung des Elsaß, in Folge ihrer hohen Empfänglichkeit für die praktischen Fragen des Christenthums, zu allen Zeiten [575] lebendigen, ja hingebenden, opferwilligen Antheil an der jedesmaligen Erhebung gegen die Herrschaft und die Gebrechen des Papstthums nahm. Wie die Albigenser und Waldenser fanden im Elsaß auch die Hussiten Anklang; und ebenso bildete sich in der lutherischen Stadt, mit der Erlaubniß der Obrigkeit und mit der Billigung der beiden Straßburger Reformatoren, Bucer und Capito, eine reformirte Gemeinde, welcher der damals von Genf entflohene Calvin als erster Pfarrer vorstand.

Pancratius Sanitabringius im Elsaß.
Nach der Natur aufgenommen von Theod. Pixis in München.

Dieser Geist der Freisinnigkeit und der weitherzigen Duldung ist mit wenigen Ausnahmen bis auf den heutigen Tag der vorherrschende in der protestantischen Kirche des Elsaß geblieben. Ernst religiös war der Grund, liberal im Allgemeinen gegen Andersdenkende die Handlungsweise der kirchlichen Behörden.

Von der katholischen Kirche kann eigentlich nur das Nämliche gesagt werden, wie in anderen Ländern dieses Glaubens, jedoch mit dem Unterschiede, daß in Bildung und Aufklärung Clerus und Volk desto mehr von ihren Glaubensgenossen in Deutschland abstachen, je älter die Einverleibung mit Frankreich wurde. Was das Volk betrifft, so lastet im Allgemeinen der clericale Druck schwer auf den Geistern, und der geistige Zustand wirkt auf den materiellen. In den katholischen Ortschaften giebt es einige Reiche, die sich durch Fleiß und weise Thätigkeit aufzuschwingen wußten. Die Meisten grenzen an die Armuth und sind Tagelöhner. In den gemischten Ortschaften sehen wir allermeistens die protestantischen Einwohner durch ihren Wohlstand und ihre Gesittung über ihre katholischen Mitbürger hervorragen. In den ganz evangelischen Ortschaften herrscht zwar meistens kein großer Reichthum, aber ein guter solider Wohlstand ist allgemein.

Die traurigste Folge des geistigen Drucks im Elsaß ist der große Aberglaube an Geistererscheinungen und Hexen, und der Vorrath von magischen Mitteln, um wirklichen oder erträumten Uebeln abzuhelfen. Ist uns doch im Unterelsaß sogar eine Wallfahrtsstätte wegen kranker Thiere bekannt, die [576] auf der Grenze der Cantone Niederbronn und Buchsweiler, zwischen den Orten Rothbach und Ingweiler ist einem verborgenen Seitenthale des Wasgaus liegt. Da erheben sich auf einem Felsen die Ruinen einer Capelle aus dem zwölften oder dreizehnten Jahrhundert, deren mit Nischen versehene höhlenartige Unterlage noch ein höheres Alter verräth. Wer ein krankes Roß, Rind oder Schwein hat, der wallfahrtet nach dem Thierkirchlein und legt, je nach der Zahl der kranken Thiere, einen oder mehrere Besen in den Chor dieser Ruine und steckt eine oder mehrere Kupfermünzen in eine Mauerritze einer der Seitenwände. Ich weiß, es giebt immer einige Holzmacher der Nachbarschaft oder im Gebirge streifende Zigeuner, welche den Muth haben, das verborgene Geld aufzusuchen, aber an die Besen – das ist etwas Anderes – wagen sie sich nicht. Dieses Besen- und Geldopfer hat übrigens seit den letzten zwanzig Jahren auch abgenommen. Aber immer noch kann man in dem in dunkler Einöde liegenden Waldkirchlein diese Abwehr gegen Hexen und böse Geister finden.

Der Glaube an die Hexen ist in den katholischen, weniger schon in den protestantischen Dörfern des Elsaß noch allgemein. Der Besen, dessen sich die Hexen bedienen sollen, um an den Versammlungsort zu kommen, spielt, wie überall, eine große Rolle. Aber weniger bekannt dürfte es sein, daß der verkehrt vor der Thürschwelle hingelegte oder mit dem Stiele neben der Thür stehende Besen nicht allein den Einfluß der Hexen hemmt, sondern auch ihren Eintritt in ein Haus hindert. Eine Hexe, heißt es, kann in kein Haus eintreten, wo ein solcher Besen vor der Thür liegt oder steht.

Die Hauptübel durch Hexen geschehen nach der Volksmeinung an den Kindern und an den Kühen. Eine Kuh giebt ungesunde, blutige Milch oder gar keine, weil eine Hexe an derselben in ihrem eigenem Hause an einer Handzwehle (Handtuch), an dem Stiele einer in die Wand gehauenen Axt oder eines Beils, ja aus dem Hefte eines in den Tisch gestoßenen Messers milkt. Auch verwandelt sie sich öfters in eine Katze und trinkt an den Eutern der Kühe, daß dieselben böse Blattern davon erhalten; oder sie reiten des Nachts auf dem Rücken der Pferde, so daß des Morgens der Besitzer sie in schaumtriefendem Schweiße ganz erschöpft antrifft.

Das Sprüchlein, welches die Landleute sprechen, wenn sie ein Weib im Verdachte haben, durch Melken an einer Zwehle oder auf sonstige Weise den Kühen die Milch zu entwenden, um die Hexe daran zu hindern, lautet also:

Heilig Kreuz, Blut floß,
Heilig Kreuz, Wasser floß,
Heilig Kreuz, Milch floß.

Ein anderer Aberglaube im Elsaß, der sich aber über ganz Europa erstreckt, ist der an den Vampyr, in der Provinz Letzel oder Redsel genannt, ein geheimnißvolles Wesen, halb Mensch, halb Thier, das bei nächtlicher Weile in die Schlafstuben, selbst in die verschlossenen, kommt, seine Ankunft durch ein Rascheln oder Tappeln, oder auch durch ein Säuseln wie von Flügeln bemerklich macht. Der Schlafende hört es, kann sich aber, wie gelähmt, nicht regen. Eine Gestalt legt sich schwer über den Schläfer, der die ungeheuersten Anstrengungen macht, um sich der Last zu entledigen. Das unheimliche Letzel säuft dann, nach dem allgemeinen Volksglauben, den also Heimgesuchten, gewöhnlich Burschen und jungen Männern, die Brust aus. Endlich wacht nach vielem ohnmächtigem Sträuben der in vollkommener Erstarrung Liegende matt und kraftlos auf. Das ist ein Zustand, der überall vorkommt. Aber was ans Unbegreifliche grenzt, oder doch die Macht der Einbildung darthut, das ist bei der Erscheinung des Letzels folgender Umstand: Die also ausgetrunkenen Opfer geben wirklich Milch. Die Brust schwillt an, die Warze derselben tritt mehr hervor, und bei mäßigem Drucke quillt eine weißgelbliche Flüssigkeit hervor. Dasselbe betheuerte mir mein Kutscher, ein gar nicht auf den Kopf gefallener junger Mann, wie vor kurzer Zeit sein Nachbar, der ebenfalls von dem Letzel geplagt zu werden vorgab, ihm seine angeschwollene Brust zeigte, und vor seinen Augen die nämliche Flüssigkeit herausdrückte. Ich enthalte mich jedes weiteren Commentars hierüber.

Bei dem also vorhandenen Aberglauben im Lande ist es kein Wunder, wenn es Solche giebt, die denselben ausbeuten. Schmiede, Winkelthierärzte, Abdecker, Meister genannt, ziehen reichlichen Gewinn von der leichtgläubigen Menge, die erst zu gebildeten Aerzten ihre Zuflucht nimmt, wenn die magischen Aerzte und Teufelsbeschwörer nicht mehr helfen können. Und weil der Arzt in den meisten Fällen dann auch nicht mehr helfen kann, so wendet sich ihm entschiedenes Mißtrauen zu, während seine Vorgänger irgendwie eine List dagegen deckt. Ebendeswegen ist es kein Wunder, wenn die sogenannten Marktschreier, wie man sie im Elsaß nennt, oder Quacksalber so große Ausbeute im Lande machen. Leider sind es in der Regel Deutsche, die in einem fremdartigen Jargon und in bizarrer Kleidung die Massen bethören. Ich war einmal Zeuge des Aufzugs eines solchen Marktschreiers und ich kann nicht umhin, denselben hier zu schildern.

An einem schönen Sommertage, so zwischen der Arbeitszeit, wie man bei uns sagt, hörte ich in meinem Studirzimmer plötzlich den Schall einer rauschenden Musik, die immer näher kam. Ein Marktschreier war in einer prächtigen, mit bunten Farben ausgeschlagenen Kutsche in das Dorf gefahren, in Begleitung von vier oder fünf Musikanten, die auf der Decke des Wagens saßen. Nachdem derselbe das Dorf unter lärmender, mit der großen Trommel begleiteter Musik durchzogen hatte, nahm er Posto auf dem öffentlichen Platze vor dem Rathhause. Dort entfaltete er einen ungeheueren rothseidenen Schirm, der die ganze wohlbesetzte Kutsche überdeckte. Nachdem die buntgekleideten Musikanten noch eine gewaltige Fanfare hatten erbrausen lassen, erhob sich der in einen weiten faltigen, hellblau seidenen und mit Silber besetzten Talar gekleidete Marktschreier, lüftete seinen chinesischen, mit allerlei geheimnißvollen Zeichen bedeckten Hut, grüßte majestätisch die herbeiströmende Menge und fing an, in fremdartigem gebrochenem Deutsch ungefähr folgendermaßen zu den staunenden Zuhörern zu sprechen:

„Verehrtes, hohes Publicum! Ich, Pancratius Sanitabringius, komme zehntausend Stunden weit her, von den Grenzen Chinas, wo ich auf dem großen Berge Humalaya die Wurzel Razina als Heilmittel für alle menschliche Schäden zweihundert Fuß tief aus dem Berge durch einen gottvollen Bohrer gegraben, und diese herrliche Wurzel mit dem heiligen Wasser des Flusses Ganschossa abgekocht habe. Kommt, Ihr armen Menschen, und kaufet dieses leben- und gesundheitbringende Elixirium, Ihr möget Kopfweh, Zahnweh, Flüsse aller Art, Magenweh, Husten oder Engigkeit haben. Dieses kostbare Lebenswasser vertreibt die Sommerflecken, die Unfruchtbarkeit und macht die häßlichsten Menschen schön wie Engel, auch reinigt es den Kopf und macht gescheidt und verständig wie Salomo. Wer es trinkt, an dem hat der blutige Vampyr, oder das schreckliche Letzel, wie Ihr es heißt, keine Gewalt. Nie betritt es wieder die Thürschwelle eines Hauses, wo dieses gewaltige Elixir seine Dünste verbreitet. Kommt herbei, Ihr Alle, die Ihr gesund, schön, kräftig und befreit von aller Plage sein wollt! Ich bleibe nur eine Stunde in diesem Dorfe und dann könnt Ihr zusehen, wie Euch geholfen wird. – Was schüttelt Ihr ungläubig die Köpfe?! Glaubt Ihr, daß ich Euch betrügen und um Euer Geld bringen will? Ich bin ein Freund der unglücklichen kranken Menschheit und brauche Eure Groschen nicht, um zu leben. Ich habe tausend Mal mehr Geld als Euer ganzer Ort. Da, seht einmal selbst, daß ich kein Marktschreier bin, der Euch Euer Geld aus dem Beutel lausen will.“

Dabei ergriff er eine kleine Schaufel, fuhr nacheinander in zwei vor ihm stehende Gefäße und zeigte den dadurch schon halbgewonnenen Zuschauern, eine Menge Fünffrankenthaler, Zwanzig- und Vierzigfrankenstücke.

„Oder glaubt Ihr,“ fuhr er fort, als er sah, daß das Geld seinen Einfluß nicht verfehlt hatte, „glaubt Ihr, daß es etwa Falschmünzergeld sei? Ich bitte drei Personen von Euch, von denen, die das Geld kennen, selbst herbeizukommen, um es zu untersuchen.“ Eine Menge von Bauern strömte herbei, um dieses Amt zu verwalten. Sie drängten sich an die Kutsche und der Wunderarzt hob mit einer ungeheuren Anstrengung das eine Gefäß zu ihnen herab. Sie griffen gierig hinein, untersuchten die Thaler und nachher auch die Goldstücke, ließen sie aneinander erklingen und gaben dieselben mit gewichtiger Kennermiene wieder zurück.

„Das ist lauter gut Geld,“ sagten Alle. „Das Silber ist exact echt, also muß auch das Gold echt sein, denn es rappelt [577] nicht wie Blei.“ – Die Bauern, geehrt durch das Zutrauen, verloren sich in der Menge und suchten die Anwesenden nach Kräften zu überzeugen, daß sie wenigstens hinsichtlich des Geldes nicht getäuscht seien. Das machte einen gewaltigen Eindruck auf die Menge. Das wußte der pfiffige Quacksalber wohl, der dadurch, daß er Geld zeigen konnte, desto mehr gewann. Doch wollte er das an den Geberden der Bauern leicht zu erkennende Erstaunen und somit Zutrauen womöglich noch steigern.

„Um Euch zu zeigen,“ fuhr er fort, „daß ich Euch nicht um Euer Geld prellen, sondern der leidenden Menschheit zu Hülfe kommen und nur meine Reisekosten, die Wurzel und das Lebenswasser zu holen, zurück haben will, so biete ich Euch an, z. B. einem Jeden unter Euch einen kranken hohlen Zahn unentgeltlich herauszuziehen. Wer hat einen kranken Zahn, zwei, drei, vier solcher Zähne? Ich ziehe sie alle umsonst heraus. Es kostet auch nicht den rothen Sou.“

Eine allgemeine Stille und Nachdenklichkeit unter den Anwesenden folgte, eine Stille, die der Wunderdoctor durch einen die Menge noch mehr betäubenden Marsch der Musikanten bedecken hieß. Als der Tusch vorüber war, zeigte er auf einer Platte Hunderte von Zähnen aller Art, die er ausgerissen. Zuletzt öffnete er eine Büchse und ließ ein paar Zähne herausfallen; dieselben zeigend, sagte er: „Seht, das sind die bösartigsten aller Zähne. Der Teufel hat sie wachsen lassen neben ihren Cameraden. Aber was Keiner kann, ich habe sie herausgezogen, so schnell, daß der Patient nicht allein keinen Schmerz verspürte, sondern auch meinte, ich fange erst an, wenn ich den Zahn schon ausgezogen. Wer will jetzt kommen? Es kostet nichts. Meine Zeit ist kurz gemessen; ich muß so schnell als möglich nach Paris, um dort einem Prinzen einen schrecklichen Pufferzahn, den kein Doctor jener großen Stadt bewegen kann, herauszuiehen.“

Da näherte sich ein armer Schelm, der immerwährend an Zahnweh litt und kein Geld hatte, um sich helfen zu lassen, der Kutsche; er zog seine Kappe ab und blickte ehrfurchtsvoll zu dem Quacksalber hinauf. Er wurde von den hin- und herrollenden Augen des Doctors schnell bemerkt. Der Zitternde wurde in die Kutsche hinaufgezogen und zeigte seinen kranken Zahn. Der Schreier berührte ihn mit einer kleinen Zange, die man kaum in seiner Hand bemerkte, und – in einem Hui hatte er ihn heraus. „Mein Sechs!“ sagte der Patient, als er todtenbleich von der Kutsche herunter kam, „Der kann’s – besser als der Schmied, der Einem den Kopf zwischen die Beine nimmt und so lange zerrt, daß man am Ende froh ist, daß er mit dem Zahne nicht den halben Kiefer und das ganze Zahnfleisch mitnimmt. Juhe, Herr Doctor, was bin ich schuldig?“

Der Doctor blickte ihn lachend an und sagte: „Hm, Du siehst nicht groß danach aus, daß Du viel bezahlen kannst.“ In der Tasche wühlend, fügte er hinzu: „Hier, weil Du der Erste gewesen, der mir glaubte, nimm diesen Zwanziger und trinke auf meine und Deine Gesundheit.“

Das wirkte. Jetzt kam eine Menge Weiber, Männer und Jungen, die ihrer kranken Zähne entledigt sein wollten. Jeder hätte zuerst in der Kutsche sein mögen. Der Marktschreier, der in seinem phantastischen Anzuge, mit seinem schwarzen Schnurrbarte und glänzenden Kraushaare in der That die Menge magisch an sich fesselte, zog aber auch die Zähne mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit und Geschicklichkeit heraus. Er hatte genug zu thun, so daß ihm der Schweiß von der Stirn rann. Auf einmal hielt er inne und rief einem auf dem Fußwege neben der Fahrstraße sitzenden fremden Manne, der gar übel jammerte, zu:

„Heda, guter Freund, was sitzt Ihr dort und jammert so sehr? Habt Ihr Zahnweh, so kommt her, es soll Euch schnell geholfen werden.“

Da klagte stöhnend der Mann: „Ihr mir helfen? Das kann kein Mensch. Ich habe schon zehn Doctor gebraucht und es wird immer ärger mit meinem Bauchgrimmen.“

„Ach, ich glaubte, Zahnweh hättet Ihr, weil Euch der Bart so wackelte. Also Ihr leidet an der Cholika. Das ist ein Spaß für mich, sie Euch auf der Stelle zu nehmen, wenn Ihr keinen Bandwurm oder keine Kröte habt, was nach Befund mehrere, bis zu sieben meiner Gläser, erfordert. Kommt nur her,“ sagte der Marktschreier vornehm einladend, holte ein Fläschchen hervor, öffnete es mit wichtiger Miene und gab dem Zögernden den Inhalt zu trinken mit den Worten: „Ich habe Euch etwas Stärkeres gegeben. Es wuß wirken auf die eine oder die andere Weise.“ Alles lachte über die Grimassen, die der Patient schnitt. Jedermann war aber begierig auf die Wirkung der Arznei. Kaum war sie genommen, so fing er zum allgemeinen Gelächter an noch gräßlichere Gesichter zu schneiden. Er winselte furchtbar und setzte sich voller Verzweiflung auf den Erdboden. Der Eindruck des Zahnausreißens, des Geldes war verwischt, der Ruhm des Doctors war dahin. Der Arme krümmte sich auf dem Boden. Auf einmal rief er verzweifelnd: „Ich muß sterben! Helft mir, Ihr guten Leute! O, ich muß sterben!“

Der Doctor sprang von der Kutsche herab und strich ihn mitleidig vom Magen bis zum Halse, und siehe, o Wunder! da entfuhr ihm aus dem Munde ein kleiner Frosch, den der Marktschreier mit der Hand aufzufangen schien – da noch einer, zwei, drei, vier!

Auf einmal wurde der Patient ruhig.

„Wie ist mir?“

„Was habt Ihr denn?“ riefen Alle.

„Was ich habe? Mir ist erdenwohl. Keine Spur mehr von Weh. O, Ihr Leute, ich weiß es selber nicht, wie es ’gangen ist. Aber ich spüre kein Weh mehr, ich bin gesund wie ein Fisch im Wasser.“ So sprach er, noch selbst erstaunt scheinend, über seine Heilung.

Der Glaube der Menge war wieder zurückgekehrt im vollkommensten Maße, das merkte der Schreier gleich, und darum rief er mit seiner gewaltigen Baßstimme, welche den ganzen Tumult überhallte: „Da habt Ihr’s! Ich merke wohl, daß Ihr mir nicht glauben wollt. Jetzt geht heim, legt Euch in’s Bett und behaltet alle Eure Uebel, und ich will dafür sorgen, daß ich zu vernünftigern Menschen komme. Fort, Kutscher!“

Aber daraus wurde nichts. Fünf, zehn, dreißig Hände erhoben sich, von dem Elixir zu begehren. Der Zulauf wurde immer stärker. Kleine Fläschchen verkaufte der Wundermann zu einem, größere zu zwei und mehr Franken. Immer eilten neue Liebhaber herbei. Andere eilten heim, um vielleicht ihr letztes Geld zu holen. Manche ließen sich, weil sie sich schämten, aber nichtsdestoweniger daran glaubten, durch Andere von dem Heilwasser kaufen.

Während der Quacksalber aus der Kutsche heraus unablässig verkaufte, ging ein reizendes junges Mädchen unter der ferner stehenden Menge mit einem mit Fläschchen gefüllten Körbchen einher. Es war in leichte Tänzerinnentracht gekleidet, in weißem rothbordirtem Röckchen, hatte feine grüne Stiefelchen an, die mit rothen Fransen geziert waren, auf dem Kopfe einen kleinen italienischen Strohhut, von dem bunte Bänder herabhingen, und gehörte zur „Gesellschaft“ so gut wie der Fremdling, der Kranke, der durch die Kraft des Elixirs die Frösche gespieen und der am Abend mit dem „Doctor“, seinem Freunde oder Patrone, in dem benachbarten Flecken sich in einem der zahlreichen Gasthäuser bei Wein und Braten gütlich that.

In der Nacht ergänzte der Wunderdoctor seinen stark erschöpften Vorrath durch etwas in der Apotheke gekaufte Farbe und Wohlriechendes, das Uebrige fand er an den auf den öffentlichen Plätzen plätschernden Brunnen.

Zu den erfreulichen Gebräuchen im Elsaß gehört der, jedes Jahr zu Johanni in allen Dörfern auf den Anhöhen ein Feuer anzuzünden. Es ist ein Fest der Jugend, und um die gewaltige Flamme tanzen die jungen Leute, und zuletzt springt in einigen Dörfern Eins nach dem Andern durch die Flamme. In einigen Bergdörfern werden von Schindeln verfertigte runde Scheiben angezündet und flammend den Berg hinabgeschleudert; auch giebt es noch Höhen, welche von dem Gebrauche, feurige Scheiben abwärts zu werfen, „Schyweberge“ heißen, wie z. B. der südwestlich von Rothbach gelegene Berg, dessen vordere, gegen die Ebene gelegene Seite von einem an manchen Stellen noch mächtigen, aus Felsblöcken bestehenden Steinwalle umgeben ist.

Früher wurden die Johannisfeuer Sungihtfihr genannt, weil die Sonne an Johanni awe, wieder abwärts geht. Die Lieder, welche an diesem Feuer gesungen wurden, sind längst verhallt und nur wenige Spuren davon vorhanden. Wie überall haben auch hier unpoetische Menschen, besonders Schulmeister [578] und fanatische Geistliche, ohne Sinn für die althergebrachten Sitten und Gebräuche unserer Voreltern, manche originelle Spur aus der altersgrauen Vorzeit verwischt.

Fort mit den Hexen, fort mit der trüben Geistesnacht, die besonders über den katholische Dörfern des Landes lagert! Licht, mehr Licht! Aber mit Wahrung der alten guten Sitten und frohen Feste und frei von dem traurigen Gefolge der Alles verflachenden Mode, die ihre Zofen, Prunksucht, fieberhafte Genußsucht und in Folge dessen nicht geringe Entsittlichung, überall mit sich führt!