Textdaten
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Autor: Hermann Oelschläger
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Titel: Klytia
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, 28, S. 460–464, 473–478
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Klytia.
Von Hermann Oelschläger.


Eine graue sich rasch fortbewegende Wolkenfläche bedeckte weithin den ganzen Himmel, und die stolze Kette von Bergen, deren Riesenwand in langer Linie die bairische Hochebene begrenzt, lag mit ihren ungeheueren Schneefeldern und schwarzblauen Felsenmassen dem Auge so nahe, daß sie in wenigen Stunden erreichbar schien. Vereinzelte Windstöße, feucht und warm, bliesen über die weite Ebene, deren Schneehülle, als ob sie das Unheil ahne, von dem sie bedroht war, da und dort schon sachte in den Boden zu sickern und zu rieseln begann, und die Isar wälzte ihre reißenden schmutziggelben Fluthen mit vermehrtem Ungestüm daher. Bald stürzte sich auch der Orkan brausend mit voller Wucht von dem Kamme des Gebirges in die Ebene, brach die Eisdecke der Seen und Bäche, fegte in den rauschenden Wäldern die todten Blätter von den Bäumen und warf unter endlosen Regengüssen die morschen Stämme und mürben Zweige knatternd auf den versumpften Weg. Es war, wie wenn die Natur zerstörend gegen sich selbst wüthe. Aber in ungeheuerem Kampfe vernichtete und schied sie nur aus, was nicht mehr werth war, den kommenden Frühling zu schauen, und was nicht mehr gesunde Kraft in sich hatte, ihn mit schwellenden Blüthen und würzigen Trieben zu begrüßen.

Und dann kam der Frühling selbst, der Frühling mit all seinem jungen Wiesengrün, mit seinen bunten Blumen, mit seinem zarten Blätterlaub, mit seiner herrlichen Sonne, mit seiner Liebe und – mit seinem Trieb zum Wandern.

Aber nicht Allen, die wohl ihrer Sehnsucht nach rauschenden Baumhallen und schmetterndem Vogelsang, Tannenduft und Waldeinsamkeit Genüge thun möchten, wird es wirklich so gut, aus dem und jenem Grunde nicht, und wer nicht anders kann, sucht dann wenigstens der quetschenden Enge der Straßen zu entgehen, die ihn viele trostlose Monde lang eingeschlossen hat wie ein Gefängniß, in welchem der Winter Kerkermeister war, und flüchtet hinaus in die weitläufigeren Vorstädte, wo die Straßen breiter, die busch- und rasenbesetzten Plätze häufiger sind, wo Luft und Sonne freieren Eintritt in die Räume der Menschen haben und wo vielleicht sogar aus geringerer Ferne ein Stückchen Wald oder Feld in die äußerste Häuserzeile hereinblickt.

Dann gilt es freilich ein neues Nest zu suchen, in welchem man auch hausen kann, und als ich das letzte Mal mich in der Lage sah, nach einer solchen Villeggiatur in der Vorstadt Umschau zu halten, weil ich eine andere nicht ermöglichen konnte, da begegnete mir eine seltsame Geschichte, die ich hier erzählen will.

Die Frühlingsstürme, die über die Hochebene hereingebraust waren, hatten mich eines schönen Tages aus dem finsteren Häuserwirrwarr der innern Stadt bis in eine Straße hinausgeweht, die sich ziemlich am nördlichen Ende der Stadt in langer Linie hinzieht und zuletzt, wenigstens damals, in die freien Felder und Wiesen verlief. Gerade das aber war so sehr nach meinem Geschmack, daß ich nun mit größtem Behagen in der ziemlich menschenstillen Straße dahinschlenderte, die regenfeuchten Miethzettel an den Thoren der Häuser studirend und diese selbst mit prüfendem Auge musternd. Leider boten die wenigsten Häuser das, was ich suchte. In den ungeheueren Casernen der Häuserspeculanten zu wohnen fand ich widrig, und die paar kleinen niedlichen Häuser, die an der Straße lagen, vermietheten keine Zimmer.

Schon ziemlich mißmuthig, gelangte ich an das äußerste Ende der Straße. Dasselbe ward rechts durch einen außerordentlich großen, von der Bauwuth noch verschont gebliebenen Wiesenplatz gebildet, dem gegenüber links ein kleines und ein großes Haus standen. An diese Häuser schloß sich an der nämlichen Seite ein Zimmermannsplatz, der mit einem alten schwarzen Lattenzaun eingefaßt war; den Schluß bildete ebenfalls eine kleine Wiese, die nur von runden, schwer auf morschen Pfählen ruhenden Balken, wie von dickbäuchigen Schlangen, eingerahmt war, und von hier führten vielverschlungene Pfade in’s Freie.

Das große Haus hatte, so stattlich seine Steinmasse war, [462] nichts Einladendes; es schien zwar durchaus bewohnt, aber die Fenster hatten ein kahles Aussehen und entbehrten in ihrer Mehrzahl selbst der Vorhänge. Das kleine Haus daneben war alt und sah fast ärmlich aus. Es hatte in der Front nur drei Fenster, und der Eingang war zur Seite vom Hofe aus. Aber durch die Fenster des zweiten Stockwerkes leuchteten blüthenweiße Gardinen, und gerade in diesem zweiten Stockwerk waren, wie ein von Frauenhand geschriebener Zettel am Pfosten des Hofthores besagte, Zimmer zu vermiethen. Die blüthenweißen Gardinen schienen nur Gutes zu verkünden, und ich prüfte das Terrain. Gegenüber kein Haus, das mir seine dunklen Schatten in’s Fenster warf, keine Menschen, die mir mit Operngucker in die Stube sahen, sondern eine große, weite Wiese, deren Grün im Sommer nur angenehm sein konnte, wenn sich auf ihm voraussichtlich auch die ganze Kinderschaar der Häuser ringsum von früh bis Abend tummelte – dann die Nähe der Felder und über mir der weite, unbegrenzte Himmel mit der Sonne, an deren wonnevollem Lichtglanz ich mich den ganzen Tag erfreuen konnte; die Sonne, die Sonne – sie (ich bin immer ein heimlicher Anhänger des persischen Sonnendienstes gewesen) gab den Ausschlag, und halb vom Windstoß hineingeworfen, wie wenn er meinem Zaudern und Grübeln ein Ende machen wolle, betrat ich das Haus.

Die hölzerne Treppe war schmal, ausgetreten und etwas schmutzig. Die Thür der Wohnung im ersten Stock trug ein Messingschild, auf welchem ebenso schön wie einfach nur ein Name zu lesen war, der nichts weiter zu denken gab: „Huber“. Das etwas gebrechliche Geländer der Treppe war feucht anzugreifen, und das gefiel mir nicht. Was mich aber, als ich vor der Thür des zweiten Stockwerkes stand, wo die Zimmer zu vermiethen sein sollten, in ein äußerstes Erstaunen versetzte, war im Grunde eine Kleinigkeit, aber gerade hier und in diesem Hause, an diesem Orte erschien mir diese Kleinigkeit in hohem Grade bewundernswerth. Der lange, bequem in der Hand liegende Griff des Glockenzuges neben der Thür, die – wie ich gleich bemerken will – keinen Namen aufwies, war von äußerster Eleganz, war von schön geschliffenem grünem Glase und nahm sich, wie er aufleuchtend so hin und her schwankte, hier in dem halb ärmlichen oder doch höchst einfachen Hause so vornehm, so distinguirt aus, daß er gewiß geeignet war, durch seine Gegenwart meine bewundernde und staunende Aufmerksamkeit zu erregen.

Endlich wagte ich es auch, den schönen grünen Glasgriff zu berühren, und klingelte. Niemand öffnete. Ein zweiter und dritter Versuch blieb ebenso fruchtlos. Da beschloß ich, zu „Huber“ hinabzusteigen, ob man mir vielleicht dort die gewünschte Auskunft geben konnte. Der Klingelgriff neben dem Messingschild war nur von gemeinem Holze und einfach braun angestrichen. Eine hübsche, runde Frau erschien auf der Schwelle und fragte nach meinem Begehren.

„Die Wohnung oben ist durch mich zu vermiethen,“ sagte sie dann freundlich, „und Sie können sie sogleich ansehen.“

Dann holte sie den Schlüssel.

Als sie mir voraus die Treppe hinaufstieg, verlor sie auf einen Augenblick einen ihrer gestickten Hausschuhe. Ich sah, daß derselbe zwar bedenklich ausgetreten und in die Breite gelaufen war, aber der Strumpf zeigte dafür eine anerkennenswerthe und im Ganzen zufriedenstellende Weiße.

Das Vorzimmer der Wohnung war mit Spiegel, Kommode, Stühlen und rothen Vorhängen besser ausgestattet, als dies in der Regel bei Junggesellenwohnungen der Fall zu sein pflegt, die des Gewinnes halber vermiethet werden. Um die dunkelrothen Tapeten des Wohnzimmers, in das wir nunmehr traten, liefen oben am Gesimse und in den Ecken glänzende Goldleisten, die einen vornehmen Anstrich gaben. Zu beiden Seiten des Spiegels mit dem breiten, geschnitzten schwarzen Rahmen leuchteten zwei Gypsfiguren, von denen ich nicht mehr weiß, was sie vorstellten. Ein Vertikow und ein Schreibtisch zur Seite waren gleichfalls von schwarz polirtem Holze und mit ihren zierlichen Medaillons und Arabesken im anmuthigen Stil Ludwig’s des Fünfzehnten gehalten. Es fehlte nur ein reicher, bunter Teppich am Boden, um dem Gemach mit seinem schwellenden, mit blauem Seidenstoff überzogenen Sopha und mit seinen weitem bequemen Fauteuils das Gepräge vollkommenster Eleganz zu geben.

Frau Huber pries mir dieselbe auch gehörig an, aber schon war mein Interesse an der Wohnung bedeutend gesunken; denn indem ich ihren voraussichtlichen Preis im Stillen überschlug, fand ich, daß derselbe den Betrag, den ich für meine Wohnung ausgeben wollte, jedenfalls bedeutend übersteigen werde.

Von der blauen sternübersäten Tapete des daranstoßenden Schlafzimmers hob sich ein riesiges Himmelbett so verführerisch ab, daß ich einen Augenblick auf der Schwelle schüchtern stehen blieb, weil ich meinte, es müsse sofort eine schmale, weiße Hand die schweren Vorhangfalten zurückschieben und ein übermüthiger schwarzer Lockenkopf oder eine gretchenhafte Blondine mit schmachtenden hellblauen Augen daraus hervorschauen, um den Grund so unliebsamer Störung zu erfahren. Aber der Vorhang blieb unbewegt, und Nichts rührte sich. Dieses schöne, reiche, wunderbare Bett war wirklich leer, und diese merkwürdige Frau Huber neben mir war sogar bereit, es an mich zu vermiethen.

Eine kleine Kammer, deren Fenster in den Hof hinaus gingen, bot nichts Bemerkenswerthes; die Küche, welche mir Frau Huber gleichfalls zeigen zu müssen glaubte, war kahl und entbehrte jedes Geschirres und Geräthes.

Wir waren in das Wohnzimmer zurückgekehrt, und während ich noch einmal dessen Einrichtung zu prüfen schien, überlegte ich vielmehr, wie es mir am besten gelingen werde, einen anständigen Rückzug anzutreten und mich ohne weitere Beschämung aus diesen Prunkzimmern wieder auf die Straße zu versetzen. Aber den Preis hätte ich doch gerne gewußt. Ich sah Frau Huber fragend an; Frau Huber, die offenbar nichts weiter zu bemerken hatte, sah mich ebenfalls fragend an, und wer weiß, wie lange dieses zwecklose Fragespiel noch gedauert hätte, wenn die praktische Frau nicht endlich kurzweg auf den Kernpunkt der Sache losgegangen wäre und zuletzt aus eigenem Antrieb den Preis genannt hätte.

Ich erstaunte. Die Wohnung war viel, viel billiger als diejenige, die ich bisher inne gehabt hatte und die sich doch an Glanz und Bequemlichkeit mit dieser nicht im Geringsten vergleichen ließ. Aber ich glaubte mir meine Ueberraschung nicht merken lassen zu dürfen.

„Hm,“ sagte ich trocken, „das ist nicht zu teuer.“

Frau Huber war indessen auch nicht auf den Kopf gefallen.

„Nicht zu teuer?“ rief sie lachend. „Mein lieber Herr, Sie bekommen die Wohnung so gut wie geschenkt.“

Das war in der That wahr gesprochen und hätte mich zu weiteren Fragen veranlassen sollen. Aber wozu? Warum? Was ging mich der Grund an, aus welchem Frau Huber ihre schöne Wohnung so billig vermiethete? Sie mußte doch am besten wissen, wie viel sie in ihren Verhältnissen fordern müsse, und wenn sie mich für so geringen Preis in ihren Staatsgemächern hausen ließ, so war das ja ganz und gar ihre Sache, und nicht die meine. Wir besprachen noch einige nebensächliche Punkte. Wenn ich ihrer Dienste bedürftig sei, so solle ich mit einem Stock oder mit dem Stuhl auf den Boden des Wohnzimmers klopfen, da sie unter mir wohne, und die Stiefel sollte ich alle Abende in das Vorzimmer setzen. Ich hatte dagegen nichts einzuwenden, und schon in der Abendstunde des folgenden Tages zog ich ein.

Frau Huber hatte mich feierlichst in meine neuen Wohnungsräume eingeführt, Dann ließ sie mich allein, mit dem Wunsche, daß ich mir’s bequem machen möge. Aber ich nahm nur aus meinem Handkoffer das Dringendste, was ich für den Abend nöthig hatte; dann begnügte ich mich, in dem Wohnzimmer auf- und abzugehen, das jetzt von einem gastlichen Feuer durchwärmt war, und mich, bald Dies, bald Jenes betrachtend, jener inneren Behaglichkeit hinzugeben, welche uns überkommt, wenn wir unsere Freude und unser Gefallen am Schönen mit einem gewissen Luxus auch auf unsere nächste Umgebung, auf die Räume, die wir bewohnen, auszudehnen vermögen. Aber seltsam erschien es mir doch immer wieder, daß ich so plötzlich und im Handumdrehen in einen Glanz versetzt worden war, den ich bei den bescheidenen Ansprüchen, welche ich an’s Leben zu machen gewöhnt war, als durchaus neu bezeichnen mußte, wenn er mir auch keineswegs mißfiel und mir im Gegentheil rasch genug ein solches Selbstgefühl gab, daß ich mich, obgleich ich doch allein war, ganz unversehens in die Brust warf und im Zimmer wie ein Graf herumspazierte, der sein Lebelang keine andere Umgebung gehabt hat.

Da kam mir plötzlich ein Gedanke. Ich zündete eine der Kerzen an, die auf dem Vertikow standen, und verschloß sorgfältig die Wohnung. Dann durchstöberte ich hastig und mit aller [463] Sorgfalt alle Räume, alle Ecken, alle Schränke, alle Kasten. Ich fuhr mit meinem fackelnden Lichte hinauf und hinunter, die Kreuz und die Quere – was ich suchte, wußte ich selber nicht, vielleicht nur einen kleinen, kleinen Handschuh, der in der Eile des Ausziehens vergessen worden war, vielleicht irgend etwas Anderes, was mir einen Schlüssel zu dem Geheimniß geben konnte, das ich mir nun einmal in den Kopf gesetzt hatte. Aber ich fand Nichts, gar Nichts, und das Einzige, was mir allerdings in hohem und höchstem Grade bemerkenswerth erschien, war ein süßer, feiner Duft, der die Kästen und Schränke erfüllte, und der mir aus ihnen, wenn ich sie öffnete, entgegenströmte, wie Patchouli oder Jockeyclub. Den obersten Kasten des Schreibtisches vermochte ich trotz aller Anstrengung nicht zu öffnen; der Schlüssel versagte, und ich ließ ihn endlich ärgerlich im Schlosse stecken.

In diesem Augenblick klingelte Frau Huber und ich öffnete. Sie stellte eine prachtvolle Porcellanlampe von riesigem Umfange auf den Tisch, die auf der einen Seite Raphael’s Galatea aus der Farnesina zeigte, auf der andern Joseph und Potiphar’s Weib von Biliverti im Palazzo Barberini zu Rom. Ich fragte Frau Huber, ob sie mir eine Tasse Thee brauen könne, da mein sämmtliches junggesellenhaftes Koch- und Küchengerät noch verpackt sei, und schon nach wenigen Minuten strömte der süße Duft des dampfenden Thees durch mein Zimmer – das Service aber, welches mir Frau Huber für immer zur Verfügung stellte, war köstliches Porcellan mit wundervollen blauen Blumen. An der unteren Bodenfläche der Tasse und des Sahnentopfes, die ich controllirte, sobald meine Wirtin das Zimmer verlassen, waren als Fabrikzeichen zwei sich kreuzende Schwerter zu sehen – das Porcellan stammte wirklich und wahrhaftig aus Meißen.

Aber schon überraschte mich Nichts mehr. Das mochte nun gehen, wie es wollte, und wenn morgen früh ein Kammerdiener in schwarzem Frack und mit weißer Halsbinde hereinkam, um mich unterthänigst anzukleiden, so waren mir seine Dienste gerade gut genug, und er mochte nur sehen, wie er mit mir zurecht kam. Für jetzt brannte ich mir, vollkommen zufrieden mit dem Lauf der Dinge, eine Cigarre an, fuhr mit der brennenden Spitze derselben prüfend ein paar Mal dicht unter der Nase herum, beschloß mir morgen eine bessere zu kaufen, die dieser Räume würdiger wäre, und streckte mich dann mit solchem Behagen auf dem blauseidenen Sopha aus, daß dieses in allen seinen Fugen krachte und bis ist sein Innerstes erbebte. Es war vermuthlich bis jetzt an leichtere und anmuthigere Lasten gewöhnt. Ich konnte mir das nun einmal nicht anders denken, und dann, woher sollte denn dieser verwünschte Patchouliduft in allen Kisten und Kasten kommen?

Draußen schlug der warme Frühlingswind noch immer stürmisch an die Fenster. Ich weiß nicht, wie lange ich so lag und welcher Roman mir durch den Kopf ging. Zuletzt mag ich müde geworden sein oder die gute Frau Huber hatte es mit dem Feuer im Ofen gar zu gut gemeint. Kurz, es war schon spät geworden; die Cigarre fiel mir aus der Hand, und ich schlief ein. Da –

Da plötzlich sprang – vielleicht vom Sturmeswehen –
Die Thüre auf, und auf der Schwelle stand
Ein Weib so schön, wie ich noch nie gesehen,
In weißem, lang hinschleppendem Gewand.
Mit großem Auge, um den Mund ein Flehen
So leidvoll, daß ihm Niemand widerstand,
Und königlich floß auf die zarten Glieder
Die schwarze Lockenfluth gelöst hernieder.

Sie ging nicht, nein, die Holde schien zu schweben,
Als geisterhaft sie durch das Zimmer glitt;
Sie sah umher, ein klagevolles Heben
Der schönen Arme sagte, was sie litt;
Doch ganz im Fieber schien ihr Leib zu beben,
Als wankend sie zuletzt nach vorne schritt
und nach dem Schreibtisch streckte ihre Hand,
Der, kaum berührt, schon offen vor ihr stand.

Dann hob sie langsam aus dem schwarzen Schreine
Von Marmor einen Kopf, der ganz ihr glich:
„Da bin ich nun und seh Dich an und weine;
Gebrochen sind wir beide, Du und ich.
Wie war es schön im goldnen Sonnenscheine,
Das Haus bekränzt, bekränzt für Dich und mich –
Nun braust vom Himmel der Vernichtung Wetter,
Zerreißt die Kränze und verweht die Blätter.

So sink’ auch ich, vernichtet und betrogen
Vom eignen Trotz, vom eignen wilden Blut;
In mein Verderben hab’ ich Dich gezogen,
Du schönes Bild, und war Dir doch so gut.
Doch sieh, auch mich verschlingt des Sturmes Wogen,
Bald weiß auch ich, wie sich’s im Tode ruht,
Wo Lieb’ und Haß auf ewig schweigen gehn –
Lebwohl, lebwohl auf Nimmerwiedersehn!“

Sie wandte sich, und stolz das Haupt gehoben
Ging sie dahin, wie zu Schaffot und Gruft;
Die mächt’ge Schleppe rauschte ihrer Roben,
Und durch die reine, leicht bewegte Luft
Schwamm, wie am Himmelsblau ein Wölkchen oben,
Von Jockeyclub und Patchouli ein Duft,
Bis sie am Schlafgemache strahlend stand,
In dessen Dunkel trat und dort verschwand.

Ein Windstoß, so gewaltig, wie er an das Ende einer jeden richtigen Gespenstergeschichte gehört, machte das Haus erbeben und schreckte mich jählings von meinem Lager. Hatte ich geträumt oder träumte ich noch? Blendete mich beim plötzlichen Erwachen das Licht der Lampe, oder war es wirklich die Schleppe eines weißen Kleides, die mir eben noch durch die Spalte der zum Schlafzimmer führenden Thür entgegen zu leuchten schien? War diese nur durch den Sturm aufgesprungen, oder war sie jetzt eben, während ich nur zu träumen wähnte, durch fremde Hand geöffnet worden?

Alle diese Fragen wirbelten mir durch den Kopf, und auf dessen Schädelfläche stiegen mir, so wenig furchtsam ich sonst auch bin, vor geheimem Grausen die Haare langsam zu Berge. Ich stürzte, die Lampe ergreifend, in das Zimmer – das Zimmer war leer, auch die Kammer, auch die Küche, auch der Vorsaal – die ganze Wohnung war leer. Mit einem Fluche, der meiner eigenen thörichten Gespensterseherei galt, stieß ich, in’s Wohnzimmer zurückgekehrt, die Lampe auf den Tisch, und ich wundere mich noch heute, daß ich mir, das abgeschmackte Abenteuer würdig zu beschließen, nicht mit einer kleinen Petroleumexplosion das Haus über dem Kopf angezündet habe.

Aber der Marmorkopf! Ich eilte zum Schreibtisch. Seltsam! Derselbe Kasten, den zu öffnen ich mich vor einer Stunde mit aller Anstrengung umsonst abgequält hatte, gab diesmal dem Drucke meiner Hand so leicht wie möglich nach, und wahrhaftig, aus seiner dunklen Ecke leuchtete mir der weiße Marmorkopf entgegen, still und geisterhaft, aber am Halse durch einen scharfen Bruch von der schönen Büste getrennt.

Die Furcht zwingt uns, kühn zu sein. Darum griff ich, obwohl mir das Herz heftig klopfte, mit fester Hand nach dem verhängnißvollen Marmor, und als ich die beide Stücke an das Licht gezogen, sah ich, daß ich eine vorzüglich gearbeitete Copie jener Klytiabüste in der Hand hielt, die, in Italien, dem Lande der Schönheit, ausgegraben, jetzt eine der ersten und bedeutendsten Zierden des Museums in London bildet. Aus dem geöffneten reichen Kelch der Sonnenblume steigt die wunderbar liebliche und anmuthvolle Büste jener Nymphe empor, die geliebt so zärtlich, verrathen so rachedürstig war und die, auf immer verlassen von dem Sonnengott, den gerade ihre grausame Rache an der Nebenbuhlerin bis in’s Herz getroffen, nun viele Tage lang, des Trankes und der Speise vergessen, ihr Auge zur leuchtenden Sonne gerichtet hielt, ihrem Laufe folgend vom Aufgang bis zum Niedergang, bis mitleidige Götter sie endlich in die Sonnenblume verwandelten, die noch heute sehnsüchtig zum Gott des Tages emporblickt und verlangend ihre Krone nach der Fülle seines ewigen Lichtes wendet.

Dieser Büste nun glich das Weib, das ich im Traume gesehen, auf’s Haar, in dem ganzen feinen und edlen Schnitt des jugendlichen Gesichtes, in dem wehmuthsvollen, klagenden Zug um den schönen Mund, in den feinen Wellenlinien des vollen und tief in die schmale Stirn reichenden Haares, in der wie vom tiefen Kummer leicht gesenkten Haltung des classischen Kopfes – Alles, Alles war so hold, so schön, so lieblich und zugleich so unendlich traurig, wie ich es schon in meinem Traumbild gesehen, und ich erschrak auf’s Neue.

Denn es war zweifellos: ich hatte geschlafen, fest geschlafen und mit geschlossenem Auge. Ich hatte geträumt. Hatte ich wahr geträumt? Hatte ich jenen eigenthümlichen Zustand des Schlafwachens an mir erfahren, in welchem wir die uns umgebende Wirklichkeit selbst träumen, in welchem wir die gegenwärtige [464] Wirklichkeit zu sehen vermögen und in welchem unser Schädel durchsichtig zu werden scheint, sodaß es nicht anders ist, als wenn die Außenwelt nunmehr, statt durch den Umweg und die enge Pforte der Sinne, geradezu und unmittelbar im Gehirn Eingang fände?

Aber was sollte das Ganze dann bedeuten? Ich hatte immer eine kleine Schwäche für den Aberglauben und habe mich oft genug auf ihm ertappt. Mir fielen die Faust’schen Worte ein:

„Es eignet sich; es zeigt sich an; es warnt.“

Es warnt? Befangen und seltsam beklommen legte ich endlich die geheimnißvolle Marmorbüste in den Kasten des Schreibtisches zurück, den ich sorgfältig verschloß. Den Schlüssel steckte ich zu mir. Dann suchte ich mich, langsam im Zimmer auf und abschreitend, zu beruhigen. Ich wollte, wie ich mir mahnend vorsagte, wieder Herr der Situation werden. Und es gelang mir, besser und rascher, als ich nur geglaubt hatte. Als es auf einem Thurm in der Nähe Mitternacht schlug, hatte ich meinen Humor schon völlig wiedergewonnen, und ich lachte laut auf über den Schnickschnack, den mir meine aufgeregten Sinne im Traume vorgespiegelt hatten. Es war Zeit schlafen zu gehen. Und wie, dachte ich dreist, als ich die Lampe gelöscht hatte und mit der brennenden Kerze in’s Schlafzimmer schritt, wie wäre es, wenn das schöne Gespenst, das im Schlafzimmer verschwunden und in der ganzen Wohnung nicht mehr zu finden gewesen war, nun gar von deinem Bette schon Beschlag genommen hätte? Das wäre eine heitere Verwickelung gewesen. Aber damit war es nichts. Mein Besitztitel auf das weiße Linnen und die seidene Decke blieb mir ungeschmälert. Da zog ich denn die schweren Vorhänge zu, und indem ich mich dem Schutze aller guten Geister noch einmal dringend anempfahl, genoß ich den festen und tiefen Schlaf der Jugend ganz als die große Panacee des Lebens. [473] Den nächsten Morgen brachte ich damit zu, die Wohnung einzuräumen, die ich immer behaglicher fand. Die Klytiabüste ließ ich unberührt und sogar unbesehen. Eine gewisse Scheu hielt mich dem Kasten doch noch immer fern. Als ich gegen Mittag das Haus verließ, bemerkte ich zu meiner Freude, daß ein Tischler, der im Parterre seine Werkstätte aufgeschlagen hatte, Tags zuvor ausgezogen war. Da hatte ich denn weiter keine lärmende Störung bei meinen Arbeiten zu befürchten, wenn auch die Wohnung wieder besetzt schien. Denn an einem Fester lehnte ein zerbrochener Spiegel mit allerlei sonstigem armseligem Hausgeräth. An dem Fester, welches mit demjenigen meines Schlafzimmers correspondirte, war das Rouleau herabgelassen. Einem vierjährigen Jungen, im dritten Stock, der mir während des Vormittags mit seinen eisenbeschlagenen Stiefeln zuviel über dem Kopfe herumgetrampelt hatte, brachte ich bei meiner Rückkehr ein Paar Filzschuhe mit, deren fleißige Benutzung ich der gerührten Mutter des Knaben aus Gesundheitsrücksichten gerade jetzt bei dem gefährlichen Uebergange vom Winter in das Frühjahr dringend anempfahl. Und so schien ich denn nach oben und unten gleich gesichert; alles Uebrige, wenn ich arbeite wollte, lag weiterhin lediglich und ganz allein an mir selbst.

Wenige Tage darauf war ich aus lustiger Gesellschaft spät nach Mitternacht nach Hause gekommen und hatte mich in meinem Himmelbett kaum dem ersten Schlummer hingegeben, als es heftig [474] an der Glocke riß. „Ein Betrunkener,“ dachte ich, „der in den dritten Stock gehört!“ und zog den Zipfel des Kissens fester über die Ohren. Da klingelte es noch einmal und noch einmal, immer heftiger. Scheltend erhob ich mich. Ein ärmlich gekleidetes Mädchen von etwa zweiundzwanzig Jahren stand vor der Thür, mit frischen rothen Backen.

„Entschuldigen Sie, Herr Doctor,“ sagte das Mädchen, „möchten Sie nicht einen Augenblick zu meiner Schwester kommen?“

„Zu wem?“

„Zu meiner Schwester.“

„Wo ist denn Ihre Schwester?“

„Wir wohnen im Parterre dieses Hauses.“

„So. Was will denn Ihre Schwester?“

„Ach, ich glaube, sie stirbt.“

Das ist freilich eine schlechte Beschäftigung, die man sich wohl überlegen soll – dachte ich und fand, von einem barbarischen Egoismus angekränkelt, wenig Reiz darin, aus der Behaglichkeit meines Schlummers an ein wildfremdes Sterbebett zu gehen, das mich gar nichts anging. Was hatte ich dort zu thun? Was sollte ich dort nützen?

Diese letztere Frage wiederholte ich laut.

„Kommen Sie nur mit, Herr Doctor,“ bat das Mädchen dringender. „Vielleicht können Sie doch noch etwas für meine Schwester thun. Sie selbst meint zwar, ihr könne kein Arzt mehr helfen, aber –“

Kein Arzt! Kein Arzt! Nun stand mit einem Male Alles mit erwünschtester Klarheit vor meiner Seele; nun wußte ich ganz genau, warum dieses unselige Mädchen gerade mich zu nachtschlafender Zeit an das Sterbebett seiner Schwester rufen wollte; nun wußte ich ganz bestimmt, was mich hier wieder einmal in eine recht peinliche und unangenehme Situation geworfen hatte, während ich in meinem süßen Himmelbett ungestört den Schlaf des Gerechtesten hätte schlafen können – und was dies war? Nichts Anderes als meine gottverwünschte Eitelkeit.

Arzt! Doctor! Ich, der ich nicht einmal das Eine, noch viel weniger das Andere war. Nicht einmal ein Doctor der Theologie, der mich doch wenigstens hier am Sterbebett noch hätte anständig herausbeißen können, wenn ich auch sonst im Leben nichts mit ihm anzufangen wußte. Aber natürlich, es mußte so kommen. Weil ich allwöchentlich so und so viele Briefe bekam, die meine bescheidene Persönlichkeit mit dem Doctortitel feierlich aufputzten, hielt mich dieser harmloseste aller Postboten der von dem Schwindel dieser Welt keine Ahnung hatte, auch wirklich für einen Doctor; weil ich alltäglich so und so viele Besuche empfing, die mich in dieser ehrerbietigen Weise anredeten, hielt mich die würdige Hausfrau für einen Doctor, und weil Postbote und Hausfrau die so wohlklingende Ansprache nun um die Wette an mich verschwendeten, hielt mich alle Welt und hielten mich auch diese armen Mädchen für einen Doctor.

Warum aber – offen gestanden – hatten mich jene nichtsnutzigen Schauspieler bei ihrem neulichen Besuche aus eigener Machtvollkommenheit promovirt? Weit sie gut recensirt zu sein wünschten. Und warum hatte mich sogar jener lumpige Kellner hartnäckig Doctor gescholten? Weil er auf ein gutes Trinkgeld rechnete. Und so hielten, wenn ich mir’s recht überlegte, Schauspieler wie Kellner offenbar es für eine große Schande, daß ich nicht einmal mit dem kleinsten aller Titel bekleidet, sondern so zu sagen noch in meiner ganzen adamitischen Natürlichkeit, in der ich auf diese titelreiche Welt vor vielen Jahren gekommen, noch immer auf derselben herumlief, und hatten mir aus falscher Höflichkeit und aus gemeinem Eigennutz die Schlinge der Eitelkeit um den Hals geworfen, daß ich nun in ihr zappelte wie ein Fisch, der nicht mehr aus dem Netze kann.

Mit diesen zwar zeitgemäßen und durch die Umstände entschuldigten, aber immerhin höchst verdrießlichen Betrachtungen im Kopfe wäre ich fast die Treppe hinuntergefallen.

„Hallo, gehen Sie doch langsamer mit dem Licht!“ rief ich ärgerlich und stolperte hinter meiner Führerin her, der ich allerdings kurz auseinander setzte, daß ich kein Arzt sei, deren nachträglichem Bitten aber, sie trotzdem nicht in dieser fürchterlichen Nacht allein zu lassen, ich zuletzt willfahrte.

Ehe ich mich’s versehen, stand ich in dem Wohnzimmer der beiden Mädchen; da sah es freilich traurig genug aus. Kahle Wände, die ihres bescheidenen Anstrichs im Sturm der Jahre schon längst verlustig gegangen waren, ein großer, langer, abgenutzter und von Messerschnitten heillos entstellter Tisch, der für das Feuer gerade gut war und auf welchem nun armselige Brodreste, Salz in zerrissenem Papier, zwei irdene Töpfe und ein blinder Blechlöffel zu sehen waren, davor eine wurmstichige Bank, darunter ein schwarzgrauer, schmutziger Fußboden – kein Stuhl, kein Schrank, kein Nagel, ringsum nur die größte Armuth, das tiefste Elend, das mich aus den finstern Ecken angähnte, und die jammervollste Noth, die hier ihren dunklen Schleier über alles Lebende gebreitet hatte. Und dort im anderen Zimmer der Tod!

Leise traten wir ein. Bei dem Halbdunkel, das uns umgab, sah ich eine weibliche Gestalt vor mir im ärmlichsten Bette liegen, bleich und mit eingesunkenen Wangen, um die das tiefschwarze Haar in aufgelösten Strähnen herunterfiel. Die großen, dunklen, fieberglühenden Augen hatte die Kranke starr in die Ferne gerichtet; ihre Brust hob und senkte sich rasch; aus den vertrockneten, halb geöffneten Lippen schien in schweren, hastigen Athemzügen das schwache Leben entfliehen zu wollen, und die langen mageren Hände zuckten krampfhaft bald sich öffnend, bald sich wieder zusammen ziehend, unruhig über die Decke hin.

Langes, angstvolles Schweigen eine schwer lastende Stille, die schon dem Grabe entstiegen zu sein schien und die das Röcheln der Kranken noch grauenvoller machte! Von dieser schien ich noch gar nicht bemerkt worden zu sein. Da fragte sie, ohne die Lage ihres Kopfes oder die Richtung ihres Blickes zu ändern:

„Warum hast Du diesen Herrn zu mir gebracht?“

„Es ist,“ antwortete die Schwester, „der Herr im Hause, den wir für einen Arzt gehalten haben.“

Dann holte sie, damit ich, wie sie sagte, das zuletzt verschriebene Recept des Arztes lesen könnte, das Licht aus dem Wohnzimmer herbei; sein rothglühender Schein fiel voll auf das bleiche Angesicht der Kranken – zu meinem Entsetzen, denn ich sah dasselbe Weib vor mir, das ich neulich im Traume gesehen, das mein Zimmer zu nächtlicher Zeit besucht, das die Hände so angstvoll gerungen hatte, das der Marmorbüste so sprechend ähnlich war – Klytia.

Ich war entsetzt, aber ich preßte bis zum Schmerze die Lippen zusammen – ich schwieg. Ich starrte nur auf die Gestalt vor mir mit der schmalen Stirn, in die das schwarze Haar so voll herein reichte, mit dem edlen Profil, das jetzt nur zu scharf und schneidend ausgebildet war, mit den großen Augen, die jetzt im Fieber der Krankheit brannten. Die Melancholie des Mundes war in einen heftigen Schmerz, in eine wilde Angst gesteigert, und die runden Wangen waren hohl und eingesunken – der große Verderber, der rastlose Mehrer der Gräber hatte seine Hand schon nach dem Opfer hier ausgestreckt, und die Fluth des Lebens, die einst so heiß und mächtig durch die Adern dieses Weibes gerauscht sein mochte, war im Begriff zu erstarren.

Die Schwester der Kranken war, ich weiß nicht, ob aus Erschöpfung oder aus Theilnahmlosigkeit, neben mir auf einen Stuhl gesunken. Das Sterben dort im Bett war grauenvoll. Das Mädchen hatte gewiß bessere Tage gesehen. Ihr Schicksal hatte sie verdammt, an der Stätte der Armuth den letzten schweren Kampf zu kämpfen; die Zärtlichkeit der Freunde und Freundinnen, die mit feuchtem Auge und küssendem Munde ihr hätte ein Trost sein können, war ihrem Lager fern geblieben, und Nichts umgab sie, als die Einsamkeit, die Fremde und eine Schaar geisterhafter Schatten aus vergangenen Tagen des Glückes und vielleicht der Reue, welche nur gekommen war, sie auf’s Blut zu quälen und zu peinigen. Vielleicht war ihr der Tod eine Erlösung aus Elend und Schande. Aber das war kein Ausklingen des Lebens – das war ein Zugrundegehen. Vielleicht sehnte sie sich nach dem Augenblick, da die Nacht des Todes über ihrem Haupte zusammenschlug. Aber auch der erbärmlichste Mensch läßt nicht vom Hoffen, und erst mit dem letzten Athemzug hört er auf zu glauben, daß gar Vieles von jetzt an anders und immer besser kommen würde, wenn nur die Frist dieses Lebens sich ihm noch verlängerte. Und diese Hoffnung ist nichts als der letzte traumhafte Rest jener Poesie, die jedem Menschen angeboren ist und die Keiner ganz verlieren kann, so tief er auch sinken mag.

Am nächsten Morgen ließ ich mich nach der Armen erkundigen. Sie lebte noch. Ich fragte meine Hausfrau, ob es denn nicht möglich gewesen sei, der so schwer Kranken eine bessere Lagerstätte zu verschaffen. Frau Huber sagte, daß der Armenverein [475] auf ihre Bitten vor einigen Tagen ein Bett in’s Haus geschafft, daß es die Schwester aber zur nämlichen Stunde wieder versetzt habe. Geld brauchen wir, hatte sie geantwortet, als man sie zur Rede stellte.

In der darauf folgenden Nacht starb denn die Kranke, und zwei Tage nachher war das Begräbniß.

Ein Wagen, der in der Dunkelheit des Abends vor dem Hause hielt, erregte meine Neugierde. Ich brauchte nicht lange zu warten. Die Schwester der Verstorbenen erschien in Trauerkleidern und stieg in den Wagen. Ihr folgte ein großer, vornehm gekleideter älterer Herr. Er gab dem Kutscher den Befehl, auf einen der Bahnhöfe zu fahren; er solle sich sputen, der Zug gehe bald ab. Dann rollte der Wagen davon.

„Die Tragödie ist zu Ende,“ sagte ich, indem ich das Fenster schloß. Aber ich hatte nur ihren letzten Act mit angesehen – was mochten die vorhergehenden wohl enthalten haben?

Zum ersten Male wieder seit jenem verhängnißvollen Abend nahm ich den Marmorkopf aus dem Kasten des Schreibtisches. Seine Aehnlichkeit mit der Verstorbenen erschien mir größer und auffallender denn je, voll Wehmuth betrachtete ich den edlen Kopf, dessen schönes Ebenbild so jung der Vernichtung und dem Untergang anheimgefallen war, und abermals fragte ich mich, ob hier wirklich ein Zusammenhang der Dinge und Personen bestanden habe, ob die Schicksale dieses Marmorkopfes und jenes unglücklichen Mädchens wirklich mit einander verknüpft gewesen seien, ob mein Traum von neulich mehr als ein bloßes Hirngespinnst gewesen sei? – Da hörte ich auf dem Vorsaal Frau Huber, die mir zur gewohnten Stunde den Thee brachte, und als sei ich mir einer bösen That bewußt, verschloß ich die Klytiabüste wieder in dem Kasten.

„Sie sehen angegriffen aus,“ sagte ich zu meiner Wirthin, die nicht das gewohnte muntere Wesen zeigte.

„Gott sei Dank,“ seufzte sie, „daß die Geschichte endlich zu Ende ist!“

„Welche Geschichte?“

„Ich meine die Zwei, die unten im Hause wohnten.“

„Sie haben sie gekannt?“ rief ich überrascht.

„Freilich! Die Eine wenigstens, die wir heute begraben haben, in ihrer früheren Pracht und Herrlichkeit, und wer hätte ihr damals gesagt, daß sie so schnell und so elend zu Grunde gehen werde!“

„Sie machen mich neugierig; erzählen Sie!“ sagte ich hastig.

„Ahnen Sie nichts?“ fragte Frau Huber entgegen, den Blick scharf auf mich gerichtet.

„Um Alles in der Welt, was soll ich denn ahnen? Ich weiß ja nicht einmal, wer die Mädchen waren, woher sie kamen, wie sie hießen.“

Frau Huber besann sich einen Augenblick und machte sich an den Bändern ihrer Schürze zu schaffen. Dann sagte sie: „Nun gut, Sie sollen Alles wissen. – die Unglückliche, die vorgestern unten im Hause starb, hat einst hier in diesen Ihren Zimmern gewohnt.“

„In diesen Zimmern?“ fuhr ich auf und faßte Frau Huber erschrocken am Arme.

„Ja, aber lassen Sie mich ruhig erzählen! Im Grunde weiß ich selbst nicht viel, und Sie müssen sich’s eben zurechtlegen, so gut es geht. Sie stammte aus einem vornehmen Hause.“

Frau Huber nannte mir eine adelige Familie in einer Stadt Mitteldeutschlands.

„Ihre Mutter muß eine schöne Frau gewesen sein, aber leichtsinnig und leidenschaftlich, der Vater still in sich gekehrt und, vielleicht im Bewußtsein seines Unglücks, dem Trunke ergeben. Die Mutter warf einen tiefen Haß auf ihre Töchter, wie diese heranwuchsen und Sinn für die Schande im Hause bekamen. Sie mißhandelte sie sogar, und an ihrem Vater fanden sie keinen Schützer. Da liefen sie aus dem Hause in’s Weite; sie wollten zum Theater. Die Aeltere, die von ihrer Mutter die Schönheit geerbt hatte, sang auch recht gut, und sie soll auf der Bühne so schön und lieblich wie ein Engel ausgesehen haben; sie machte alle Männer toll, aber sie kümmerte sich um ihre Anbeter blutwenig. Sie war stolz. Die Jüngere war zu nichts Gutem nütze, aber dafür um so leichtsinniger, und das hatte sie auch von ihrer Mutter.

Da lernte die Aeltere einen jungen Baron aus unserer Stadt kennen. Sie liebte ihn, und er verlangte, daß sie vom Theater weg hierher in’s Haus ziehe. Er miethete die Wohnung von mir auf mehrere Jahre und richtete sie so schön und behaglich ein, wie Sie sie hier sehen. Der Baron war es auch, der mir im Plaudern so nach und nach das Meiste von der Geschichte des Mädchens erzählte, während ich das Andere leicht genug dazu errieth. Aber, wie ich Ihnen schon sagte, das Mädchen war stolz und hielt auf sich. Sie wollte ihrem Geliebten nur als seine Frau angehören. Auch dazu war der Baron bereit. Aber seine Familie setzte ihm den heftigsten Widerstand entgegen, und der Baron mag damals Arges durchgekämpft haben. Auf der andern Seite war auch das Mädchen unerbittlich, und so ließ er sich denn endlich heimlich mit ihr trauen; vor der Welt behielt sie ihren Mädchennamen bei; auch ich durfte sie nicht anders nennen, obwohl mir die Wahrheit doch so gut bekannt war. Sie habe sich mit dem Baron, sagte sie, nicht der Welt, sondern ihrer selbst wegen trauen lassen. Das müsse aber ein Geheimniß bleiben, bis die Familie ihres Mannes versöhnt sei; an dem Gerede und Glauben der Leute liege ihr nicht das Geringste, sagte sie, um die Welt habe sie sich nie gekümmert; die Menschen, war ihre häufige Rede, verdienten gar nicht, daß man sich um ihre Achtung oder Nichtachtung einen Gedanken mache; wenn man sich nur vor sich selbst und seinem eigenen Gewissen gerechtfertigt fühle. Ich verstehe das nicht und weiß auch nicht, ob sie Recht hatte, indeß fügte ich mich von Herzen gern ihrem Wunsche, ließ sie für mich wie bisher auch fernerhin nur mein liebes, gnädiges Fräulein sein, und, weiß Gott – kam mir diese Heimlichthuerei vielleicht im Grunde doch nicht ganz recht und richtig vor – ich hätte, mein’ ich, selbst wenn ich den Versuch gemacht hätte, die ‚Frau Baronin’ kaum ordentlich über die Lippen gebracht. Aber was ging das mich an? Das Glück der beiden jungen Leute war nicht zu sagen, und es schien, als wenn die Freude kein Ende nehmen würde. Sie liebte ihn leidenschaftlich, und der junge Baron war ganz gewiß ihre erste Liebe, denn das Schauspielerleben hatte sie nicht verdorben.

Aber nun muß, wie es denn am Ende auch nicht anders kommen konnte, die heimliche Trauung den Eltern des Barons wohl doch verrathen worden sein. Es ging toll zu; der Baron befand sich tagelang in der schrecklichsten Aufregung; seine schöne junge Frau weinte halbe Nächte lang, und ich möchte eine solche Zeit nicht wieder mit erleben. Um das Maß voll zu machen, kam zuletzt auch noch der alte Baron selbst hierher in’s Haus – ein hochmüthiger Mensch, wissen Sie, Einer von der Art, der Unsereins schon auf der Straße gern von Weitem aus dem Wege geht. Er überraschte das Fräulein, oder, wie ich eigentlich sagen müßte, die Baronin förmlich mit seinem Besuche, und es muß zu harten Auseinandersetzungen zwischen Beiden gekommen sein. Er verlangte in barschen Worten, daß sie sich von seinem Sohne wieder scheiden lasse, und wie er sah, daß er mit seinem brutaten Herumbefehlen nicht das Mindeste erreiche, muß er ihr sogar Anerbietungen gemacht haben, mit denen er aber garstig ankam. Ich erschrak über die Wildheit, die das sonst so liebliche und freundliche Geschöpf bei dieser Schmach, wie sie es nannte, befiel. Und da hatte sie auch Recht. Denn wie die Sache auch immer stand, so war sie doch einmal seine Schwiegertochter, die Frau seines Sohnes, vom Pfarrer mit ihm zusammengetraut, so gut wie ich mit meinem seligen Mann, und kein Mensch hätte ihr auch nur das leiseste Schlechte nachreden können. Du mein Gott, da hat schon Mancher, der noch viel reicher und viel vornehmer war, als der alte Baron, eine Schlimmere als Schwiegertochter in sein Haus geführt und hat am Ende noch geprahlt damit, wie wenn ihm Gott weiß was für ein rares Glück zugefallen wäre. Darum hielt aber auch der junge Baron trotz aller Trübsal fest bei ihr aus, und das war begreiflich; denn sie war strahlend schön, so schön, wie –“

„Wie diese Büste da!“ rief ich und holte den Marmorkopf der Klytia aus dem Schreibtisch hervor.

„Ach, da ist der Kopf ja noch!“ sagte Frau Huber wehmüthig. „Ja, den ließ der junge Baron bei einem der ersten Künstler eigens für sie aus kostbarem Stein, der weit her kam, machen und nannte seine Geliebte auch danach, weil sie dem Marmorbild so sprechend ähnlich war, daß man es leicht genug für das ihre hielt, und wenn er Abends kam, sie zu besuchen, so hatte das Fräulein gar oft in frohem Uebermuthe sich und zugleich [476] der Büste da – die stand dort in der Ecke auf einer schwarzen Säule – einen Kranz von Rosen aufgesetzt und sang, und das Alles machte sie wunderschön.

Ob der junge Baron nachher doch schwankend geworden ist, weiß ich nicht. Genug, seine Familie verfiel, den Trotzkopf zu zwingen, zuletzt auf ein Mittel, das schon manchen Stärkeren mürbe gemacht hat: sie entzog ihm seine Einkünfte, drohte mit Enterbung und –“

„Setzte damit auch die Liebe auf den Aussterbe-Etat,“ fiel ich ein. [476] „Mein Gott, was wollte der junge Baron auch machen!“ fuhr Frau Huber achselzuckend fort. „Was wird er viel gekonnt haben, sich sein Leben selbst zu verdienen! Das Einzige, was er wenigstens bei uns hier that, war, seine ewigen Cigaretten zu drehen, ein bischen Clavier zu spielen und viel Geld auszugeben. Das verstand er aus dem Fundament. Ob er bei seinen Freunden, den Officieren, viel Gescheidteres that, weiß ich nicht, glaub’ es aber kaum. Was wollte er jetzt machen? So sehr sie mir’s zu verbergen suchten, ich bin auch nicht von gestern und merkte bald, daß Schmalhans anfing Küchenmeister zu werden. Hätte er Schulden machen sollen? Das hätte ihm kaum schwer fallen können. Vielleicht wollt’ er nicht. Vielleicht, dacht’ ich mir manchmal – denn die Männer lernt Niemand aus – vielleicht ist es ihm bei aller Liebe und Verzweiflung, die er noch zum Besten giebt, gar nicht unangenehm, gedrängt und zu einer gewaltsamen Aenderung seiner Verhältnisse gezwungen zu werden. Wer kann das wissen? Aber er wurde verdrießlicher und verdrießlicher –, so kann es nicht mehr weiter gehen!“ – hörte ich ihn oft sagen. Seine Frau wollte wieder zur Bühne gehen und singen – das litt er nicht. Er lachte ihr in’s Gesicht, daß es mir wehe that. ,Wie sie ihm eine solche Zumuthung machen könne?’ rief er. Er zankte oft und brach den Anlaß dazu häufig vom nächsten Zaune, wie man so sagt. Da blieb er endlich gar einmal ein paar Tage aus, ohne einen Grund oder eine Entschuldigung anzugeben; auf die zärtlichen Vorwürfe, die er bei seinem Wiederkommen zu hören bekam, hatte er nur kurze, abweisende Antworten. Und nun wußte ich genau, wie viel es geschlagen hatte; mein armes Fräulein aber auch; denn sie wurde täglich stiller und trauriger; ich durfte ihr keine Rosen zu Kränzen mehr bringen, all mein gutgemeintes Zureden und Trösten half Nichts mehr, bis eines schönen Tages der alte Baron wiederkam.“

Frau Huber machte eine Pause und sah traurig vor sich hin. „Ja,“ sagte die wackere Frau dann, „das war ein Schrecken. Aber sie ließ sich von ihm doch nicht gleich in’s Bockshorn jagen. Er schickte mich zu ihr herein, ob er das Fräulein sprechen könne. ‚Das Fräulein?’ wiederholte sie langsam und zog die Schultern [477] so stolz in die Höhe, wie ich es von ihr noch nie gesehen hatte. ‚Sagen Sie dem Herrn, hier wohne kein Fräulein; wenn er aber die Frau seines Sohnes, die Baronin von –, zu sprechen wünsche, sei ich bereit, ihn zu empfangen.’ Der alte Baron drehte eine Weile schweigend die Spitzen seines silberweißen Kürassierschnurrbartes, wiederholte dann seine Anfrage in gebührlicherer Form, und ich erhielt die Erlaubniß, ihn einzulassen. Er blieb diesmal sehr lange und war, glaube ich, ruhiger und höflicher als das erste Mal. Als er ging, meinte ich sogar, seine Augen roth zu sehen, aber ich werde mich wohl getäuscht haben. Wie der Baron sich zu diesem zweiten Besuche seines Vaters gestellt hat, der doch auch keinen andern Zweck haben konnte, als ihn frei zu machen, und ob er auch diesmal seine Frau mit Thränen beschworen hat, nur treu zu ihm zu halten und nicht den Glauben an ihn zu verlieren, weiß ich nicht. Aber das steht fest: er blieb immer häufiger aus, und ich war nicht wenig erstaunt, als ich damals von guter Hand hörte, wie mein Baron, den ich mir meistens auf Reisen gedacht hatte, sich wieder mitten auf allen Bällen und Gesellschaften herumtreibe und recht eigentlich der Gefeierte wäre. [477] Man erzählte sich in diesen Gesellschaften die merkwürdigsten Dinge von ihm, bald von einer unglücklichen Liebe, bald von einer heimlichen Ehe, und das Alles, ob man’s nun glaubte oder nicht, hatte den Damen so sehr den Kopf verrückt, daß sie sich völlig um ihn rissen. Offen gestanden, verstehe ich so etwas nicht – aber wahrscheinlich ist das für eine einfache Frau, wie ich bin, zu hoch, und die vornehmen Damen werden schon gewußt haben, was sie zu thun hatten.

Mein Fräulein hier verkümmerte und verblühte inzwischen immer mehr; sie berührte nicht einmal ihr Clavier mehr, an dem sie früher doch noch dann und wann eins ihrer schönen Lieder gesungen hatte. Da erhielt sie plötzlich einen anonymen Brief – es giebt so immer Schufte genug in der Welt, denen es eine Freude ist, Einem aus dem sichern Hinterhalt eine Schmach anzuthun. Der unbekannte Schreiber theilte ihr in der hämischsten Weise mit, daß sich ihr Baron wieder zu verloben gedenke, und bat sie, nun endlich doch die Komödie aufzugeben und die Summe zu nennen, für welche sie in die Scheidung willigen werde. Sie saß den ganzen Tag todtenblaß da, wortlos, den nichtswürdigen Brief in der Hand. Der Baron ließ sich nicht sehen.

Am nächsten Morgen ging sie, die Dame zu besuchen, die ihr als die künftige Verlobte bezeichnet worden war, die Tochter aus einem der vornehmsten Häuser hier. Man wollte sie erst nicht vorlassen, aber sie erzwang sich den Eintritt, den verhängnißvollen Brief in der Hand. Es soll ein garstiger Auftritt gewesen sein – mein Fräulein, in der unbeschreiblichsten Aufregung, soll der Andern auf das Unbarmherzigste mitgespielt haben; sie wollte sich rächen und die Verhaßte wenigstens an diesem letzten Tage noch sich zu Füßen sehen. Sie war wie rasend, daß die Andere, um nur loszukommen, endlich in eine Ohnmacht fiel, womit denn Alles zu Ende war.

Das Fräulein kam ganz ruhig nach Hause, wie wenn nichts vorgefallen wäre, aber sie schritt dann doch hastig hier im Zimmer auf und ab, während ich mir zu schaffen machte, als ob ich noch nicht ganz aufgeräumt hätte, und wie sie dann plötzlich einmal vor mir stehen blieb und mich – offenbar aus innerer Erregung – bei der Hand faßte, fühlte ich, daß ihre Hände eiskalt waren. Sie erwartete offenbar den Besuch des Barons. Bei der leisesten Bewegung im Hause schrak sie zusammen, und als es einmal an der Hausthür klingelte, griff sie wie voll Todesangst nach dem Herzen. Da stürzte denn auch der Baron in’s Haus, und ich glaubte, er würde sie ermorden. Aber er wurde bald wieder ruhig, rief mich und sagte mir, er werde noch heute verreisen, ich möge die Wohnung wie immer besorgen, die Dame – er sagte das mit besonderer Betonung, indem er auf die Thür des Zimmers wies, hinter der seine unglückliche Frau sich in Krämpfen wand – könne hier so lange bleiben, wie sie wolle, und dann ging er ohne ein Wort des Abschieds, ohne einen Gruß. Die Aermste saß, wie er gegangen war, still und mit trockenen Augen da, aber sie zitterte und bebte am ganzen Körper.

Spät Abends schrieb sie einen Brief an den Baron, den ich noch in der Nacht besorgen mußte. ‚Jetzt ist Alles aus, liebste [478] Frau Huber,‘ sagte sie zu mir, in helle Thränen ausbrechend, ‚ich habe ihm seinen Willen gethan und habe ihn freigegeben.‘

Drei Tage blieb sie noch; vielleicht glaubte sie, der Baron werde doch wiederkommen; am Morgen des vierten war sie verschwunden. Am Abend desselben Tages kam aber wirklich der Baron wieder; er hatte es nicht über’s Herz bringen können, zu reisen, und wie er sie nicht mehr fand, verfiel er geradezu in Raserei über ihren wilden, unbändigen Trotz, wie er sagte, und riß die Büste dort von der Säule und schmetterte sie wüthend auf den Boden, daß sie in zwei Stücke brach – sie solle nun auch zu Grunde gehen, rief er, wie ihr Ebenbild.

Das war vor einem Jahre. Von dem Mädchen habe ich nichts mehr gehört, und der Baron ging dann wirklich auf Reisen nach Rom und Neapel. Auf meine Anfrage, die ich endlich durch dritte Hand an ihn gelangen ließ, kam die Mittheilung an mich, ich solle mit der Wohnung machen, was ich wolle, ja, ich dürfe sie sogar noch einmal vermiethen. Und Sie sind der Erste, der hier wieder eingezogen ist.“

„So?“ sagte ich, und schritt bedächtig im Zimmer auf und ab.

„Seltsamer Weise kam zur selben Stunde, da Sie Wohnung hier gemiethet hatten, ein fremdes Mädchen und beschwor mich, die Zimmer zu ebener Erde, die bisher ein Tischler inne gehabt, an sie abzugeben. Sie habe eine kranke Schwester, die ihr bisheriger Hauswirth nicht mehr in seinem Hause dulden wolle; sie seien in der namenlosesten Verzweiflung und würden mir’s ewig danken, wenn ich ihnen nur so lange Zuflucht geben würde, bis die kranke Schwester wieder genesen sei. Ich habe immer ein warmes Herz für Unglückliche gehabt und habe ihnen immer gern Gutes gethan. Am Abend des folgenden Tages zogen zugleich mit Ihnen denn auch die Schwestern ein; die Kranke freilich mußte aus dem Wagen in die Stube getragen werden, und dann begann sie im Bette gleich zu fiebern und irre zu reden, daß ich schon in jener Nacht an das nahe Ende der Aermsten glaubte. Welchen Schrecken ich aber empfand, als ich in dieser elenden Gestalt mein armes Fräulein wieder erkannte, werden Sie mir glauben. Nun lag sie hier unten auf dem Stroh und ohne Ahnung, welche goldene Zeit der Schönheit und der Liebe sie in dem nämlichen Hause vor Kurzem noch verlebt.“

„Hatte sie das Haus nicht wieder erkannt?“

„Nein, und ihre Schwester hatte die Wohnung ganz ahnungslos gemiethet. Aber es war bald, wie wenn ein seltsamer Geist über sie gekommen sei; die Erinnerungen des Hauses schwebten ihr deutlich vor den Sinnen, und ganz besonders war es die Marmorbüste dort, von der sie in ihren Irrreden immer und immer wieder sprach.“

„Die Marmorbüste?“ fiel ich hastig ein.

„Ja, sie nannte wiederholt ihren Namen, und aus den wirren, zusammenhangslosen, klagenden Reden hätte man glauben können, sie wisse, daß auch die arme Büste zerbrochen hier in Ihrem Zimmer liege. Aber das ist ja nicht möglich, da der Baron die Büste erst später von der Säule geworfen hat.“

„Seltsam, seltsam!“ sagte ich. „Und um wie viel Uhr war das?“

„Etwa zwischen zehn und elf Uhr. Gegen Mitternacht wurde sie ruhiger.“

Ich hütete mich, Frau Huber von meinem Traume zu erzählen; wer weiß, wie sie die Geschichte aufgenommen hätte. Die blieb am besten ein Geheimniß für mich. In diesem Augenblicke sollte kein Anderer mir sie deuten.

„Arme Klytia!“ sagte ich, vor die Büste tretend.

„Ganz recht,“ rief Frau Huber, „das war der Name, den sie immer nannte.“

„Und haben Sie,“ fragte ich weiter, „nichts von den Schicksalen der Unglücklichen gehört, nachdem sie Ihr Haus verlassen?“

„Nur wenig. Sie scheint ihre Schwester aufgesucht zu haben und bei dieser in eine hitzige Krankheit gefallen zu sein, in der sie ihre Stimme verlor.“

„Und dann?“

„Ich weiß nichts weiter, das Ende und den trüben Ausgang haben wir ja mit angesehen. Und offen gestanden, es widerstrebte mir, die Schwester auszufragen, die so ganz, ganz anders geartet schien.“

„Diese selbst ist in ihre Heimath zurückgekehrt?“

„Ein Verwandter ihres Hauses hat sie abgeholt – das hätte wohl früher geschehen müssen. Ich bin begierig, was sie jetzt noch aus ihr machen wollen,“ meinte meine Wirthin.

Zwei Tage nachher war ich abermals auf der Suche nach einer Wohnung. Frau Huber glaubte, als ich ihr Meldung davon machte, nicht recht gehört zu haben, und ich begriff mich auch nicht. Aber die Erinnerungen dieses Hauses erdrückten mich, und ob ich durch’s Zimmer schritt, oder am Schreibtisch an der Arbeit saß, immer war mir’s, als sähe ich das schöne Ebenbild der in ihrer Liebe ebenso zärtlichen und in ihrer Rache ebenso grausamen Nymphe vor mir im weißen Gewand, mit klagender Miene und mir, dem fremden Eindringling, ihre traurige Geschichte erzählend.

Nur die Marmorbüste der Klytia nahm ich mit Erlaubniß der Frau Huber mit mir fort, und, von kundiger Hand wieder hergestellt und auf einer schwarzen Säule wieder erhöht, schmückt sie noch heute eine Ecke meines Zimmers.