Karl Wilhelm Otto Koch, Bürgermeister von Leipzig

Textdaten
<<< >>>
Autor: Hans Blum
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Karl Wilhelm Otto Koch, Bürgermeister von Leipzig
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 631–634
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[631]
Bürgermeister und Bürgersleute.
Nr. 4. Karl Wilhelm Otto Koch, Bürgermeister von Leipzig.

Jedes Volk erlebt einmal mindestens eine Zeit, wo das ganze Geschick desselben in der Hand eines Volkshelden zu ruhen scheint. Oftmals stirbt die Blüthe des Volkslebens für immer dahin mit diesem Helden; oftmals auch vererbt sich dieses Einen Geist und Charakter dem ganzen Volke in einer langen Reihe tüchtiger Geschlechter.

Dr. Karl Wilhelm Otto Koch.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

Auch in jedes Menschen Leben tritt mindestens einmal bahnbrechend und leitend der Einfluß eines einzigen hervorragenden Menschen zu Tage: zum Guten, zum Bösen. Dieser leitende Geist ist vielleicht unser Vater, unsere Mutter, vielleicht ein Lehrer, ein Buch, ein Vorgesetzter, ein Freund. In irgend einer Gestalt kommt er Jedem einmal im Leben.

So hat auch – wenigstens im alten Europa – jede nennenswerthe Stadt Tage gesehen, deren Glanz und Ruhm den Stempel eines einzigen bedeutenden Bürgers trug. Jenseit des Oceans mag das anders sein. Da muß es die Masse bringen. Von Massen werden Städte dort gegründet; Massen erheben sie zu Großstädten, der Einwohnerzahl nach; selten ragen Einzelne hervor im Meere der Zeit aus dem ungeheuren Gewoge der Mittelmäßigkeit. Aber bei uns, namentlich in Deutschland, wo so viel langsamer und historischer gelebt wird, stellt uns die große Epoche jeder unserer alten Städte auch scharf und klar das Bild eines Mannes vor Augen, dem diese einzige oder dauernde Blüthe zu danken war. Was wäre Berlin ohne Schinkel und Ranch, München ohne König Ludwig den Ersten, Dresden ohne die polnischen Auguste, Weimar ohne Karl August und Goethe, Straßburg ohne Erwin von Steinbach und die Humanisten, Colberg ohne Nettelbeck – und was wäre das moderne Leipzig ohne seinen heimgegangenen Bürgermeister Dr. Koch?

Der Schreiber dieser Zeilen ist kein Freund von Autoritäten. Er ist überzeugt, daß der gesunde Bürgersinn der Stadt Leipzig unter allen Umständen Tüchtiges schaffen, die Wohlfahrt, die Größe, den deutschen Ruf dieser Stadt stets fördern wird, gleichviel, wer immer an der Spitze der städtischen Verwaltung stünde. Dazu kommt, daß sicherlich ein ganz erheblicher Beitrag [632] zu der im letzten Jahrzehnte fast in amerikanischen Proportionen gewachsenen Bevölkerung der Stadt jenem gewaltigen Umschwunge der öffentlichen Verhältnisse in Deutschland zu danken ist, welche zum ersten Male den hohen Gedanken eines deutschen Reichsbürgerrechts, eines Heimathsrechts, allgemeiner Zug-, Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit durch ganz Deutschland zur vollen Wahrheit werden ließen. Und es darf nicht Wunder nehmen, daß eine Stadt von der Lage, der Handelsblüthe und der Creditstrenge Leipzigs von diesem segensreichen Umschwunge den größten Nutzen für sein eigenes Wachsthum gezogen hat.

Aber all das kann und soll keineswegs die Verdienste des Mannes verkleinern, der Leipzig seit siebenundzwanzig Jahren als Bürgermeister durch alle Stürme und Wandlungen der Zeiten geführt hat. Vielmehr dienen diese Erwägungen nur zu einer gerechteren Würdigung seiner Absichten und seines Wirkens. Am reinsten zeigt sich die unvergängliche Bedeutung, die Bürgermeister Koch für seine Vaterstadt und für sein gesammtes sächsisches und deutsches Vaterland sich errungen, wenn man die Tage seiner Jugend, seines ersten öffentlichen Wirkens im Dienste seiner Stadt, seines Volkes vergleicht mit dem, was er am Ende seiner Tage erreicht und erfüllt sah.

Als Karl Wilhelm Otto Koch am 3. Mai 1810 im Hause des Rathsoberförsters Koch zu Grasdorf bei Leipzig das Licht der Welt erblickte, lastete auf Deutschland noch der ganze Jammer der Napoleonischen Fremdherrschaft. Auch auf dem Königreich Sachsen. Denn wenn auch der von Napoleon zum König beförderte Kurfürst von Sachsen als allertreuester Rheinbundfürst dem Frankenkaiser zur Seite stand, so war doch nicht vergessen, daß Sachsen vor vier Jahren erst noch an der Seite Preußens den unseligen Tag von Jena durchkämpft hatte. Furchtbar war dann der Entscheidungskampf, den das arme mißhandelte, entehrte, niedergetretene deutsche Volk mit der nie besiegten Uebermacht des Eroberers wagte; furchtbar vor Allem jene dreitägige Schlacht in der weiten Ebene Leipzigs, die wohl die früheste Erinnerung Koch’s ausmachte.

Aber der Siegespreis war die furchtbaren Opfer nicht werth. Für einen Welttheil hatte Deutschland geblutet, aber die Früchte seiner Opfer pflückten Andere. Ohnmächtiger und zerrissener als je trat das deutsche Land in die Tage des Friedens nach dem größten und herrlichsten seiner Kriege.

Am trübsten sah es wohl in Sachsen aus. Durch die unselige Theilung, welche das beim Wiener Congreß nach und nach von allen Verbündeten verlassene und verrathene Preußen, statt der beabsichtigten Annexion von ganz Sachsen, an dem Königreiche vollziehen mußte, war die Stimmung des Hofes, der Beamten, des Heeres, der ganzen sächsischen Bevölkerung auf’s Tiefste gegen Preußen erbittert. Die kleinliche Politik des Hofes und der väterliche Freund aller preußenfeindlichen Dynasten, Fürst Metternich, sorgten auf’s Kräftigste für Erhaltung dieser zwieträchtigen Gesinnung. Bis in die Mitte der Zwanziger Jahre ist die Haltung der sächsischen Regierung gegen die Zollvereinsbestrebungen Preußens die denkbar feindseligste. Erst im Jahre 1833 ist das Königreich, unter dem erleuchteten Lindenau, dem Zollvereine beigetreten.

Ich weiß, alles das ist den Lesern der „Gartenlaube“ aus hundert Schilderungen längst bekannt. Aber immer wieder muß daran erinnert werden, wenn wir einen Mann zu beurtheilen haben, der in diesem tiefsten Jammer deutscher Kleinstaaterei und vergeudeter Nationalkraft seine Jugend verlebte, seine Mannesjahre kommen sah. Wer in diesen Tagen nicht verkümmerte und verbitterte, sondern fähig war, den Glauben und die Thatkraft für eine herrlichere Zukunft der deutschen Nation zu bewahren und zu bethätigen, wahrlich, den müssen wir schon von Haus aus mit viel größerem Maße messen, als die Patrioten, denen heutzutage die Liebe zum deutschen Vaterlande so außerordentlich bequem gemacht wird.

Und Karl Wilhelm Otto Koch gehörte zu diesen edelsten deutschen Männern, deren unbeugsamen Mannesmuth und unausrottbaren Idealismus die zwei lange Jahrzehnte auf Deutschland lastende Reactionsnacht nicht zu verkümmern vermochte. Den Grund zu dieser herrlichen Weltanschauung und Charakteranlage legte außer dem trefflichen Vater die Nicolaischule (Gymnasium) Leipzigs und der Umgang mit einer Anzahl gleichstrebender Schüler dieser Anstalt. Koch ward das seltene Glück zu Theil, schon auf der Schule vielversprechende Freunde zu gewinnen, die, zu gleichem Streben mit ihm verbunden, ihm für das Leben treu zugethan blieben. Wir nennen als solche Jugendfreunde drei große Todte: Karl Bock, Weinlig (später die Seele der volkswirthschaftlichen Abtheilung des sächsischen Ministeriums des Innern) und den später weitberühmter Arzt Francke. Auf der Universität hielt sich Koch vom Verbindungsleben – das damals gerade auf den gefährlichen Bahnen geheimer Verschwörungen oder „gutgesinnter“ rein materieller Genußsucht wandelte – zwar fern, aber dafür schloß er auch hier die werthvollsten Verbindungen für’s ganze Leben. An seinem elterlichen Herde, der damals und bis zum Tode seines Vaters in dem zinnengekrönten Rathsforsthause zum Kuhthurme bei Leipzig sich befand, und in den herrlichen Anlagen, die daran grenzen, sammelte sich häufig eine gleichgesinnte Schaar jugendfroher bedeutender Menschen um Koch. Da sah man außer den bereits genannten Freunden vom Gymnasium her die Studenten der Rechte von Zahn, Stelzner, Craushaar, die heute als Geheime Räthe die höchste Staffel juristischer Carrière erklommen haben, dann als Werber um die Hand einer Schwester Koch’s Krug, der als Geheimer Rath und weithin gefeierter Jurist gestorben ist, endlich Karl Biedermann, der sich mit dem hohen Vorsatze trug, der deutschen Culturgeschichte einen Lehrstuhl an den deutschen Hochschulen zu bahnen. Biedermann gehörte bald, und namentlich nach Zurücklegung der beiderseitigen akademischen Studien, als das „Philisterium“ die Juristen unter den akademischen Freunden in alle Winde zerstreut hatte, zu Koch’s allerintimsten Freunden – ein Freundschaftsband, das später durch die Vermählung des jungen Docenten der Literatur- und Culturgeschichte mit Koch’s vorjüngster Schwester noch inniger sich gestaltete.

Alle Genossen dieser frohen natürlichen Jugendtage Koch’s erinnern sich noch heute mit Behagen, wie er schon damals als leitender und ordnender Geist unter ihnen wirkte. Sein merkwürdiges Talent zum Anstellen, Anregen und Organisiren zeigte sich Allen im hellsten Lichte, als er mit den Freunden, Schwestern und deren Freundinnen im Elternhause und im Hause seines Schwagers Neubert ein kleines Liebhabertheater organisirte, dessen Seele er war. Auch einem anderen hatte er schon als junger Student als Hauptregisseur und -Faiseur gedient; er hatte hier sogar die öffentliche Aufführung der „Emilia Galotti“ ermöglicht und dabei auch Mitglieder des Stadttheaters zur Mitwirkung gewonnen, die sich seiner Regie zu fügen hatten. Kein Wunder, daß der spätere Bürgermeister dann und wann einmal sich auch dem städtischen Theater gegenüber als Oberregisseur fühlte und zur Geltung brachte. Und auch eine andere Eigenschaft seines Wesens trat schon damals hervor, die jedem mächtig wirkenden Charakter angeboren, vor Allem aber jenem Holze eigenthümlich ist, aus dem historische Bürgermeister geschnitten werden – denn jeder echte Bürgermeister muß etwas vom Tyrannen von Mottenburg an sich haben – jene starke, unbeugsame Willenskraft, die im Interesse der von ihm richtig erkannten und praktisch durchgeführten Sache das Widerstreben von Personen durch einen eisernen Machtspruch und einen in der Form manchmal rauhen, harten und unangenehmen Anstrich seines Wesens unbedingt und nachhaltig zu brechen wußte.

Aber wie weich und herzlich war er allen Denen, denen er wohl einmal im Interesse der von ihm vertretenen oder beabsichtigten höheren Zwecke wehe thun mußte, oder auch nur einmal wehe gethan zu haben glaubte! Ein Mann, der Jahrzehnte lang später an seiner Seite geschritten ist in der Verwaltung der Stadt Leipzig, ruft in einem Briefe dem theuren heimgegangenen Chef und Collegen noch im Grabe nach: „Sein Herz treu, offen und bieder, erfüllt von edler Bonhomie – ich finde nicht gleich den rechten deutschen Ausdruck – war er ein Vater jener Beamten, oft rasch und aufbrausend, aber nie nachtragend und mit rührender Offenheit und Treue dann selbst die Hand zuerst bietend und bittend, wenn er in seinem Eifer einmal etwas zu weit gegangen war oder nur gegangen zu sein glaubte.“

Doch greifen wir nicht vor! Koch hatte bei Beendigung seiner akademischen Studien die Absicht, die höhere Steuercarrière zu durchlaufen. Er begann sie als Actuar beim königlichen Steueramt zu Leipzig. Für ihn und für die ganze Stadt ward diese seine Stellung hochbedeutsam. Denn hier, im steten Verkehr [633] mit den namhaftesten Großhändlern der alten Meß- und Handelsstadt, in dem liebenswürdigen, bald von der ganzen Handelswelt Leipzigs dankbar erkannten Streben des jungen Beamten, die Plackereien und Schwierigkeiten der Verzollung und Versteuerung im Interesse des freien Handels- und Meßverkehrs möglichst zu erleichtern, reifte in Koch der Gedanke zu einem der segensreichsten und fruchtbarsten Pläne seines Lebens, zur Einrichtung von Lagerhäusern in Leipzig, in denen die zum bloßen Durchgangsverkehr bestimmten Güter unter Zollverschluß friedlich lagern konnten, ohne den zeitraubenden und kostspieligen Verzollungsformalitäten beim Ein- und Ausgang aus dem Zollvereinsgebiet ein- bis zweimal unterworfen zu werden. Auch dankt speciell die Stadt Leipzig, ja Sachsen und ganz Deutschland den Erfahrungen, welche der junge Steuerbeamte in den ersten Jahren seines praktischen Wirkens sammelte, das tiefe Verständniß und das hohe Interesse, welches der spätere Bürgermeister und Abgeordnete der Ersten sächsischen Kammer, Dr. Koch, in allen wichtigen Handels- und Zollfragen zum Segen unserer ganzen Wirthschaft bekundete und, unbekümmert um den Zorn des allmächtigen Beust, vor dem ganzen Lande oder an Allerhöchster Stelle freimüthig zur Geltung brachte. Die großen Freihandelserrungenschaften, die unter dem Schutze Preußens sich zu Anfang der sechsziger Jahre vom Westen Europas her auch im deutschen Zollverein Bahn brachen, haben an Koch stets ihren beredtesten und unerschrockensten Anwalt gefunden.

Vermuthlich um die volle Unabhängigkeit zu gewinnen, welche die Beamtencarrière dem selbstständigen Feuerkopf auf ihren unteren Staffeln nie gewähren kann, verließ Koch zu Anfang der vierziger Jahre den Staatsdienst und wurde Advocat in Leipzig. Er hatte zuvor mit den Spitzen des Leipziger, ja deutschen und ausländischen Handelsstandes werthvolle Verbindungen angeknüpft. Sein wunderbar praktisches Geschick, seine rasch entschlossene sichere Behandlung und Ausführung schwierigster Fälle und die selbstverständlich über jeden Zweifel erhabene Solidität und Ehrenhaftigkeit seiner Person und Handlungsweise machten ihn rasch zu einem der geachtetsten und beschäftigtsten Sachwalter seiner Vaterstadt, mit einer ebenso einträglichen wie auch sachlich interessanten und bedeutenden Praxis. Bis nach Krakau, Kopenhagen etc. führte ihn die Vertretung seiner Clienten.

Damit war die Basis geschaffen für eine freundliche deutsche Häuslichkeit, nach der sein Herz sich sehnte. Im Jahre 1842, wenige Woche nach seinem Schwager Biedermann, führte auch er die Braut zum Altar, die zweite Tochter des berühmten Theologen und Superintendenten Tzschirner, Bertha, ein durch Geist, Gemüth und Erziehung gleich ausgezeichnetes Mädchen, die ihm in seinem vielbewegten Leben, in guten wie bösen Tagen, die würdigste, treueste Gattin gewesen ist und mit ihm leider auch den tiefsten Schmerz des Elternherzens, hoffnungsvolle Kinder durch den Tod zu verlieren, wiederholt durchleben mußte. Mit seinem reichbegabten Sohne Ernst trug ich einst dasselbe Burschenband der „Wartburg“. Wir mußten den treuen Gesellen schon 1861 wegen vorgeschrittener Symptome von Tuberkulose nach dem milden Meran ziehen lassen. Als wir ihm das große Geleite zum Bahnhofe gaben, meinte er selbst, es sei wohl der letzte Abschied. Er kehrte nach langer Zeit zurück, scheinbar geheilt, doch rasch erneuerte das rauhe Klima der Vaterstadt das alte tückische Leiden, und an seinem einundzwanzigsten Geburtstage, 1864, entschlief er. Eine blühende Tochter Koch’s wurde in noch kindlichem Alter, während des Aufenthaltes der Familie in Meran, plötzlich von einer Adergeschwulst am Halse befallen, an der sie starb. Auch die jüngste Tochter kränkelte lange und schwer. Wer Koch in solchen Tagen schweren häuslichen Kummers sein tiefstes Herz in den weichsten und wahrsten Tönen menschlichen Leides ausklagen hörte, der konnte wohl an dem reichen Gemüthsleben dieser nach außen mit so tapferer Herzenshärtigkeit gekehrten Natur nicht zweifeln. Er mußte aber auch um so höher schätzen die rücksichtslose Selbstüberwindung, die trotz dieser häuslichen Sorgen nimmer erlahmte im Dienste öffentlicher Pflicht.

Zum ersten Male im politischen Leben hervorgetreten ist Koch im Jahre 1840, wo er sich durch seinen Schulfreund Raymund Härtel (den bekannten „Stadtältesten“ Leipzigs) zum Protocollführer des Comités gewinnen ließ, welches das große Buchdruckerjubiläum vorbereitete. Auch seine Häuslichkeit ward bald ein Brennpunkt für geistreiche und politische Strebungen. Hier verkehrten Härtel, Georg Wigand, Gustav Mayer und jüngere Männer, die der Schwager Biedermann als Docent dem Hause Koch’s zuführte: Cichorius (gestorben als Vicebürgermeister Leipzigs), Klemm (jetzt sächsischer Oberappellationsgerichts-Rath), beide Wencks (der Geschichtsprofessor und der Vicepräsident des Leipziger Appellationsgerichts), Stephani, Berthold Auerbach, Gustav Kühne, der Maler und Schriftsteller Pecht. Dieser weitere Bund hieß die „Maikäfergesellschaft“ und flog, seinem Namen getreu, im Wonnemond der Jugend und des Frohsinns hinaus in Garten, Flur und Wald, oder schwärmte bis tief in die Nacht, wie Maikäfer nur schwärmen können, aber – wie Schartenmeier singt – „sich des höhern Zwecks bewußt“. Ein engerer Bund aber, der sich hiervon abzweigte, hieß das „Landtagskränzchen“ und verfolgte rein politische Zwecke. Hier berieth Koch mit Biedermann, Cichorius, Stephani, G. Wigand, Klemm, Stadtrichter Steche, Dufour, dem alten wackern Pohlentz, vorübergehend auch mit – von der Pfordten (!), die Aufgaben und die Thätigkeit des sächsischen Landtags vor und nach der Session – eine vortreffliche und nachahmungswerthe Vorschule für parlamentarisches Wirken, die plötzlich für fast alle Theilnehmer die besten Früchte tragen sollte.

Denn mit dem Jahre 1845, der deutschkatholischen Bewegung, die unter Ronge und Robert Blum in das Land drang, und mit der tiefen Bewegung, welche sich in Folge der unglückseligen Leipziger Augustereignisse in der Leipziger Bürgerschaft festsetzte, brach plötzlich eine neue Aera in der städtischen Verwaltung Leipzigs herein. Die bis dahin kleine Zahl der Liberalen im Stadtverordneten-Collegium – zu welcher Koch schon gehörte – ward wesentlich verstärkt durch neugewählte liberale Männer (wie Hirzel, Reimer, G. Mayer, Biedermann, beide Wigands und eine noch weiter links gehende Gruppe (Robert Blum, Bertling, Rüder, Löwe etc.) und zwar so, daß das alte conservative Element in der Minorität blieb und durch die Wahlen des Jahres 1847 noch mehr in die Minorität gerieth. Bedeutsam für die neue Signatur dieses Collegs erscheint der Antrag Koch’s auf einen Protest des Collegs gegen die von einem Theile der orthodoxen Geistlichkeit versuchte Wiederherstellung des Athanasischen Glaubensbekenntnisses bei der Taufe. Als Mitglied und Vorsitzender des „Verfassungsausschusses“ der Stadtverordneten suchte Koch sein organisatorisches Talent vornehmlich zum Zwecke der Ausarbeitung eines Localstatuts für Leipzig (1846/47), welches aber vorerst noch an den zopfigen Vorstellungen scheiterte, die damals auf dem Leipziger Rathhause herrschten, zur Geltung zu bringen.

In fruchtbarster Weise war so der Boden vorbereitet, in welchen das Jahr 1848 Sturm säete. Schon seit den Februartagen gewann das Leipziger Stadtverordneten-Collegium beinahe die Bedeutung eines Landtages für Sachsen. Es nahm schon Anfang März eine Adresse an den König an – bei deren Abfassung und Zustandekommen Koch den wesentlichsten Antheil hatte – auf Gewährung von Preßfreiheit und Berufung eines deutschen Parlaments. Unverrichteter Sache kehrte die Deputation von Dresden zurück. Da gährte es in den Massen. Ohnmächtig und lendenlahm standen die überalten Menschen auf dem Rathhause dem Drange des großen „Völkerfrühlings“ gegenüber. „Nieder mit den Ministern!“ donnerte Robert Blum vom Balcon des Rathhauses. „Nieder mit dem System!“ rief zornig das Stadtverordnetencolleg, als es Koch mit der zweiten drängenderen und drohenderen Deputation nach Dresden an den König sandte. Und das „System“ brach elend zusammen. Zusammen brachen die alten Rathsherren zu Leipzig. Bürgermeister Groß, Vicebürgermeister Otto und der alte Stadtrath Demuth legten ihr Amt nieder, da es Männer forderte.[WS 1] Es war Platz vorhanden für Männer. Am 19. April 1848 wurde Koch mit zweiundvierzig von dreiundfünfzig Stimmen zum Vicebürgermeister gewählt, am 13. Mai erfolgte seine Einweisung in das Rathscolleg. Er entsagte einer finanziell weit glänzenderen Stellung als Anwalt, um jene Pflichten gegen seine Stadt zu üben, die nur Leipzigs beste Söhne vollbringen konnten. Von Anfang an drängte er den mit ihm gewählten neuen Bürgermeister Dr. Klinger bedeutend in den Hintergrund. Vorläufig aber war der Schauplatz seines Wirkens derjenige der Versammlung der Nation.

[634] Die Ereignisse nahmen unaufhaltsam ihren Fortgang. Was Anfang März mit non possumus von den Höfen beantwortet wurde, gehörte wenige Wochen später bereits zu den „Märzerrungenschaften“, so unter anderen Kleinigkeiten auch ein deutsches Parlament. Koch wurde als Abgeordneter für Borna in die Nationalversammlung nach Frankfurt am Main entsandt. Er nahm bereits Mitte Mai seinen Sitz daselbst und gehörte zu den Schweigern. Er hat nur ein einziges Mal über eine volkswirthschaftliche Tagesfrage gesprochen. Desto eifriger und wirkungsvoller war seine Thätigkeit im „Club“ – wir würden heute sagen: in der Fraction – zuerst des „Württemberger“, dann des „Augsburger Hofes“, immer mit Biedermann zusammen. Das große Bild der Erbkaiserpartei aus jenen Tagen zeigt auch seinen scharfen klaren Kopf. Oftmals riefen ihn die dringendsten Sorgen der städtischen Geschäfte, welche die wohlmeinende Nonchalance Klinger’s verwickelt hatte, nach Leipzig. Gleichwohl nahm er den ihm von der Stadt regelmäßig gezahlten Gehalt nicht an. Er wurde angesammelt und bildete später nach Koch’s eigener Anordnung den Grundstock zu den so segensreichen „Privatfonds“ des Rathes, einer Trosthülfe für manche still und verborgen geweinte Thräne, einer Quelle zur Linderung mancher drängenden, aus öffentlichen Mitteln nicht zu beseitigenden Noth.

So wirkt noch heute der Segen seiner Anordnung aus jenen Tagen, da er den Interessen der ganzen Nation diente, fort nach seinem Heimgange, wie die Strahlen der Sonne noch lange wärmend nachwirken, auch wenn das Gestirn unseren Blicken entschwunden.

Nach der verunglückten Kaiserwahl im Frühjahre 1849 kehrte er dauernd nach Leipzig zurück. Die Stadt hatte ihn wahrlich nöthiger als je. In Dresden war der Maiaufstand ausgebrochen. Ungestüm forderten, unter Arnold Ruge’s Führung, die republikanischen Vereine Leipzigs und der Umgegend, daß der Rath die provisorische Regierung ausrufe, Waffen an das „Volk“ vertheile und zum „Zuzug“ nach Dresden einlade. Klinger war bereit, nachzugeben; hin und her schwankte der Rath. Aber Koch widerstand. Er setzte durch, daß Waffen und Zuzug verweigert, die in Leipzig errichteten Barricaden gestürmt wurden und daß die Stadt, bei dem Interregnum in Sachsen, wo es thatsächlich nirgendwo eine findbare Regierung gab, unter den Schutz der provisorischen Centralgewalt in Frankfurt sich stellte. Später wollte man ihm wegen dieses klugen Schrittes einen kleinen Hochverrathsproceß machen und zog ihn wenigstens zu strenger Verantwortung, da der Hochverrath nicht auf einen grünen Zweig zu bringen war. Beust war erfinderisch.

An allen letzten Anstrengungen, die Errungenschaften des großen Jahres zu retten, nahm Koch lebhaftesten Antheil, obwohl ihn die Gemeindevertretung Leipzigs am 13. Juni 1849 mit einundfünfzig von vierundfünfzig Stimmen zum Bürgermeister gewählt und er am 30. Juni dieses Amt angetreten hatte. Er nahm im Juli 1849 an der Versammlung der alten Frankfurter Genossen in Gotha Theil. Er ließ sich von Leipzig auf den Landtag von 1849 bis 1850 wählen, dem immer unverhüllter die deutschfeindliche Reaction unter Beust entgegentrat. Er gehörte hier mit Schwarze, Raschig, Ziesler, Braun, Biedermann dem „deutschen Ausschuß“ an. Er sprach in der deutschen Frage vor der Kammer. Er weigerte sich mannhaft, in die erste Kammer der durch den Beust’schen Staatsstreich „reactivirten“ Stände einzutreten. Unbeschreiblich sind die Anfeindungen einer feilen Presse und Meute, die Maßregelungen einer übermüthigen Reactionsregierung gewesen, die ihm aus diesem Anlaß bereitet wurden. Mit faunischem Behagen drohte ihm Beust mit Disciplinaruntersuchung, Amtsentsetzung. Die eigene Zukunft, die ihm dann beschieden war, stand sicher und sorgenlos vor seinem Blicke. Aber was sollte aus der geliebten Stadt werden, die ihm ihr Bestes anvertraut hatte, wenn ein reactionärer Bürgermeister an seine Stelle trat? Was aus der freien Blüthe der städtischen Schulen, der Selbstregierung der Stadt bis auf die Polizei, was aus der Fülle herrlicher Pläne für die Zukunft der Stadt, die er für eine friedliche, ruhige Zeit zurückgelegt hatte? Und wer in aller Welt begriff und dankte das Opfer seiner Entsetzung, wenn er es brachte? Von der grenzenlosen Gleichgültigkeit, die in jenen Tagen Alle, auch die besten, eifrigsten Patrioten, ergriffen hatte, haben nur diejenigen eine Ahnung, welche quellenmäßig in jenen Zeiten lesen – welche Seiten voll der niederbeugendsten Thatsachen! Man kann nicht lange, nicht ohne tiefste Zornesröthe dabei verweilen.

Auf’s Heftigste in seinem Innersten erregt durch diesen großen Seelenkampf, ist Koch in eine schwere Nervenkrankheit gefallen, von der er nie wieder völlig geheilt wurde. Seine körperliche Schwäche und Gemüthskrankheit benützten wohlmeinende Freunde, um ihn zur Nachgiebigkeit zu bereden im Interesse der guten Stadt. Er folgte ihrem Rath und nahm seinen Sitz ein in der Kammer, die er für verfassungswidrig hielt. Ein Volk von Catonen könnte ihm den Schritt nicht verzeihen, wie er selbst nie es that. Aber dieses Volk war nicht da. Er hat dem Gemeinwesen ein höheres Opfer gebracht, indem er gegen seine persönliche Ueberzeugung handelte, als wenn er Recht behalten hätte. Er hat auch Sachsen und Deutschland mehr genützt auf diese Weise.

Er ist fortan in der Kammer des nach Alleinherrschaft in der Regierung strebenden sächsischen Adels jahrzehntelang fast der einzige Mann gewesen, der stolz und unerschütterlich die Rechtsgleichheit der Staatsbürger, die hohen Rechte des gesammten deutschen Volkes auf eine gemeinsame kräftige Staatsverfassung vertrat. Er verdient unsern Dank dafür auch heute noch, wo wir lange erreicht, was er gewollt, was ihm so oft von den erlauchten Collegen höhnend bestritten wurde. Wer gedächte nicht jener nur unter der Aegide eines Präsidenten von Friesen möglichen Scene, wo der berufene Kammerherr von Zehmen im Jahre 1868 Koch mit den Worten Cicero’s anredete: „Quousque tandem, Catilina, abutere patientia nostra (Wie lange noch willst Du, Catilina, unsere Geduld mißbrauchen)?“ und Koch durch seine mannhafte Erwiderung zahllose Glückwunschadressen aus dem mächtig erregten Bürgerthume erhielt?

Und in derselben langen Periode, da Deutschland im Todesschlummer unter der Reaction seufzte und der kluge zweite Brühl in Dresden durch Entfesselung und Hebung aller materiellen Strebungen und Güter die Geister mit seinem Rechtsbruche und seiner undeutschen Politik zu versöhnen suchte, in dieser Zeit vollzieht Koch den gewaltigen Aufschwung Leipzigs. Das Ideal seines ersten praktischen Wirkens, die Lagerhäuser, werden gebaut. Die Georgenhalle, das Museum, das neue Theater folgen, zuletzt der riesige Prachtbau des neuen Krankenhauses. Schulen schießen wie Pilze aus der Erde. Die alten hölzernen Mauern werden beseitigt, der alte ungesunde Stadtgraben ausgefüllt und in breitem Gürtel um die innere Stadt in den Stolz Leipzigs, die neuen Promenaden, umgewandelt. Vor Allem aber faßt und verwirklicht er den Gedanken, der Stadt von weit her gutes Trinkwasser zuzuführen. In riesigen Verhältnissen wachsen die Aufgaben und Ausgaben, aber auch die Seelenzahl und die Mittel des reichen Gemeinwesens.

Und dann, als endlich wieder ein neues nationales Leben in Deutschland pulsirte und Leipzig so oft der Mittelpunkt deutscher Feste, deutscher Wanderversammlungen war – wer hätte Koch’s markige, von tiefstem nationalem Geiste getragene Empfangsreden vergessen? Auch Fürsten und Königen hat er oft echt deutsche Begrüßungsworte gesprochen. Seine letzte Sorge war, daß der deutsche Kaiser in Koch’s geliebtem Leipzig würdig empfangen wurde. Die Hoffnung, diese Tage selbst zu erleben, sollte ihm nicht in Erfüllung gehen – es sollte sich nicht erfüllen jener tausendstimmige Segenswunsch, den Leipzig am fünfundzwanzigjährigen Amtsjubiläum seinem Bürgermeister darbrachte. Am 14. August 1876 Abends hat sich dieses klare Auge für immer geschlossen.

Mit tiefer Rührung gedenke ich jener Stunde, da Bürgermeister Koch am Beginne dieses Jahres uns zum letzten Male im Colleg der Stadtverordneten die vollendete Arbeit des vergangenen Jahres vorführte. Um ein Menschenalter streifte sein Blick rückwärts, in eine Zeit, an deren Anfang auch der Anfang seines städtischen Wirkens lag. Und wie herrlich, wie völlig frei von jedem Eigenlobe war das Bild urkräftiger, ureigenster Entwickelung, welches die Stadt, der er sein Leben bis zum letzten Augenblicke gewidmet, in diesen dreißig Jahren bot! Nun, da Er von uns genommen ist, klingt der bescheidene Rückblick wie die rühmlichste Grabrede, die ein großer Mensch sich wünschen kann.
Hans Blum.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. vergl. dazu Berichtigung