Karl Stieler (Die Gartenlaube 1885)

Textdaten
<<< >>>
Autor: Max Haushofer
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Karl Stieler
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 297
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[297]
Karl Stieler.
† 12. April 1885.


Es muß wohl eine grundtiefe Wahrheit, eine ergreifende Gewalt im Wort eines Dichters liegen, wenn es ihm gelang, nicht blos in den Seelen der Gebildeten, sondern auch in den breiteren Schichten des Volks ein klangvolles Echo zu finden und den einfachen Naturlaut seiner Heimath in die Herzen dringen zu lassen bis zu den fernsten Reichsgrenzen.

Karl Stieler.
Nach einer Photographie von Max Fackler in Tegernsee gezeichnet von Adolf Neumann.

Das gilt von Karl Stieler. Man kennt ihn wirklich vom Fels zum Meer, diesen Dichter des bayerischen Hochlands. In erster Linie sind es seine Dichtungen in oberbayerischer Mundart, welche ihm frühzeitig Bahn brachen; Sammlungen, welche die Titel führen: „Bergbleaml’n“, „Weil’s mi freut“, „Habt’s a Schneid?“, „Um Sunnawend“ und „Von dahoam“. Neben den Dialektdichtungen dann hochdeutsche Gedichte: „Hochlandslieder“, „Neue Hochlandslieder“, „Wanderzeit“. Endlich Reiseschilderungen in farbenreichem Prosastil.

Das Gemeinsame an den Werken Karl Stieler’s, das einfache Geheimniß seiner ganzen Bedeutung liegt darin, daß er mit nie täuschender Empfindung die echtesten Töne des Volkslebens aufnimmt und sie treu wiedergiebt in einer Form, wie sie kürzer, treffender und schneidiger nicht gefunden werden kann. Dieser Grundzug seiner Dichtungsweise hängt mit seinem Leben innig zusammen.

Stieler ward am 15. December 1842 zu München geboren, als zweiter Sohn des Hofmalers Joseph Stieler, der als ausgezeichneter Portraitmaler bekannt war und besonders in den höchsten Kreisen der Gesellschaft ehrenvolle Thätigkeit fand. Beruf und Stellung des Vaters brachten es mit sich, daß Stieler’s Elternhaus in lebendiger Fühlung stand mit dem ganzen geistigen und gesellschaftlichen Leben des damaligen München. Des Dichters Kindheit fiel in die Zeit, als der feinsinnige König Ludwig I. bestrebt war, sein geliebtes München zu einem Mittelpunkte künstlerischen Wirkens zu machen. Warm pulsirte dieses Streben auch im Hause des Hofmalers Stieler und mußte schon den Knaben berühren. Kaum daß dieser zum Jüngling herangewachsen war, brach wieder eine neue Epoche schöner und durchgeistigter Regungen [298] für seine Vaterstadt an: die Zeit, als unter König Max II. zu dem Wirken der bildenden Künste auch litterarische Thätigkeit trat, indem Geibel, Bodenstedt, Dingelstedt und Heyse die Geister in Bewegung brachten. An den reichsten Eindrücken fehlte es also nicht.

Der Knabe Stieler genoß, nachdem er den Vater frühzeitig verloren hatte, unter der Leitung einer einsichtsvollen und feingebildeten Mutter eine vortreffliche Erziehung, welche den Geist zu schärfen verstand, ohne das Gemüth darunter Schaden leiden zu lassen. Aber während er auf dem Gymnasium und später an der Münchener Universität mit Eifer und Talent studirte, trat von anderer Seite her die Poesie an ihn und hauchte ihn mit ihrem Zauber an.

Stieler’s Vater besaß am Tegernsee ein Landhaus, in welchem alljährlich die Familie ihre Sommerfrische hielt. In diesem entzückenden Winkel der Berge, Angesichts der leuchtenden Felswände und des schimmernden Sees, an einer uralten Kulturstätte: hier fand Stieler einen unerschöpflichen Schatz von poetischen Eindrücken. Man muß nun freilich wissen, daß das Bergvölkchen in der Umgebung des Tegernsees das lebensmuthigste, liederreichste und verliebteste ist im ganzen deutschen Vaterlande. Nirgends – von den Vogesen bis zur Bernsteinküste – wird so viel gesungen und gejauchzt, so harmlos gelebt und so fröhlich gerauft, als in den Vorbergen zwischen Isar und Inn. Der Wohlstand des Volks, im Verein mit der theils großartigen, theils lachenden Natur des Alpenvorlands ließ hier einen Ueberschuß an poetischer Weltanschauung und kraftvoller Lebensbethätigung erwachsen. Ewige Berge, mit ihren Felspfeilern Sinnbilder unvergänglicher Treue; grüne Seefluth, bald sonnig schlafend, bald sturmgepeitscht; traumtiefe Waldnacht, vom Kuckucksruf durchschallt; stattliche Höfe, auf welchen seit tausend Jahren ein tüchtiges, fröhliches, wehrhaftes Bauernvolk haust; grüne Almen, von welchen glockenhelles Jauchzen in die Bergwelt hineinschallt: das war die Umgebung, in welcher Karl Stieler die langen Sommertage seiner Jugend verbrachte – kein Wunder, daß seine ganze dichterische Anlage diese Dinge spiegelt.

Als Knabe kümmerte er sich noch nicht um das Volk. Aber – und das ist schon sehr viel – er lernte, wenn er als „Stielerbub“ in der Tegernseeer Dorfgasse sich umhertrieb, die Sprache des Volks, die er später so meisterlich zu handhaben wußte.

Das Leben des Volkes, seine Leiden und Freuden, der engbegrenzte Kreis der bäuerlichen Anschauungen und Schicksale fingen erst an, Stieler’s Aufmerksamkeit zu erregen, als er Student geworden war. Und da war’s nicht etwa die Absicht, einen Gegenstand für schriftstellerische Thätigkeit zu finden, was ihn in diesen Gedankenkreis brachte, sondern das Leben selbst. Nicht um litterarischen Ruhm begann er die Dialektdichtung, sondern um einer spröden Almerin ein flüchtiges Lächeln abzugewinnen, hat Karl Stieler sein erstes Dialektliedchen ersonnen, noch als Gymnasiast. Die angesungene Landschöne ist vielleicht längst irgendwo eine hartfäustige Bäuerin geworden; aber jenes flüchtige Abenteuer gab den ersten Anlaß zu einer Reihe von Liedern, welche der Dichter in das Herz seines Volkes hineingesungen hat.

Daß er das Landvolk so gründlich verstehen lernte, war freilich nur möglich, weil er auch mit ihm lebte. Wenn er unter die lachenden Sennerinnen trat, die Abends um ihr Herdfeuer saßen, oder unter die Holzknechte, die im Hochwalde den gefällten Baumriesen umstanden auf ihre Aexte gestützt: dann war er Einer von ihnen, in ihrer Tracht, ihrer Ausdrucksweise, er fühlte wie diese Menschen fühlen und stand mitten in ihrem Gedankenkreis; was sie erleben, erlebte er mit ihnen, zum Theil an sich selber.

Er erhielt auch öfter Veranlassung, sich mit dem Volke zu beschäftigen. Denn als er die Neigung, Maler zu werden, überwunden und als Jurist die Münchener Universität absolvirt hatte, trat er in Gerichtspraxis am Landgerichte zu Tegernsee und lernte da die Bauern mit ihrer „Proceßsach’“, mit ihren Heiraths- und Erbschaftsangelegenheiten kennen; mit dem Uebermuthe, der sie nach dem Zaunpfahle greifen läßt, und mit jener kleinlauten Schlauheit, welche sie hernach vor dem Richter zur Schau tragen. Und als er während des Feldzugs von 1866 Lieutenant in einem bayerischen Infanterieregimente war und mit demselben in Passau lag, lernte er seine Landsleute auch kennen„ wie sie als Rekruten sind, keck und lebendig noch unter dem Hochdrucke der Disciplin, schneidig und gemüthvoll zugleich. Später dann, in politisch erregter Zeit, mußte er auch als Volksredner und Parteigänger der reichsfreundlichen Partei zu den Tegernseeer Bauern reden. Von zündender Wirkung war sein Auftreten, in der politischen Gesinnung jenes kleinen Wahlbezirks heute noch fühlbar.

So kam der Dichter in mannigfachste Berührung mit seinem Volke. Daß seine poetisch veranlagte Natur gerade den so gewonnenen Schatz an Volkskenntniß ausbaute und verwerthete, war wohl natürlich. Er war aber auch frühzeitig zu der Ueberzeugung gekommen, daß für das Denken und Fühlen des Volkes auch die Sprache des Volkes am besten paßt und daß auch nichts in dieser Sprache gegeben werden soll, was nicht ganz in ihr heimisch ist. Es ist ein beschränktes Gebiet, welches der oberbayerischen Mundart zur Verfügung steht.

„Das bäuerliche Thun“ – so lauten des Dichters eigene Worte hierüber – „mit seinen Freuden und Leiden, die Wagstücke der Jagd, die Schelmenstücke der Verliebten, farbenreiche Feste und mitunter wohl der Konflikt der Untergebenen mit ihren Honoratioren, das sind so die nächstliegenden und wohl auch die einzigen Motive; allein sie werden erweitert zu tausendfarbigen Nüancen durch die Auffassung, welche Phantasie und Witz des Volkes an diese spärlichen Begebenheiten knüpft.“

Innere Echtheit verlangte Stieler vor Allem von der Dialektdichtung, und dieser Anforderung ist er selbst immer treu geblieben. Seine Gestalten sind durchaus echt, dabei tief empfunden oder mit witziger Schneide, und nicht nur poetisch, sondern auch kulturgeschichtlich werthvoll. Jene Echtheit aber ist vom deutschen Volke sofort herausgefunden worden. Gemüther, welche der Poesie unzugänglich bleiben, mußten wenigstens von dem Humor, von dem derbdrolligen Naturwitze der Stieler’schen Bauern gepackt werden. So kommt es, daß Stieler’s Dichtungen eine ungemein große Anzahl von Anhängern und Freunden gefunden haben. Und daß diese Anhängerschaft besonders zahlreich ist in der Nähe der Heimath ihrer Muse, ist auch natürlich. Wer an schönen Sommertagen auf der Bahn oder zu Wagen den Bergen entgegenfährt, kann oft genug Stieler’sche Worte citirt hören, und zwar von Menschen, bei denen man sie kaum gesucht hätte. Neben dem kulturgeschichtlichen und poetischen Werthgehalte dieser Dichtungen mag wohl noch ein drittes Moment zu ihrer Verbreitung beigetragen haben: jene Wanderlust, welche allsommerlich Tausende den Bergen zutreibt. Das Volk dieser Berge zu verstehen, eine Erinnerung von ihm mit heimzunehmen in die Ferne: das mag wohl auch für Viele ein Anlaß sein, sich diesen Schatz anzueignen. Denn Stieler’s Dialektgedichte sind der werthvollste Schlüssel für Den, der sich ein Verständniß des Volkslebens in den bayerischen Bergen verschaffen will.[1]

Stieler ist nicht bei der Dialektdichtung allein verblieben. Drei hochdeutsche Gedichtsammlungen zeugen von seiner Begabung auch auf diesem Felde. In seiner hochdeutschen Lyrik finden wir wieder das tiefe Empfinden, die knappe schlagende Form, wenn auch die vorgeführten Menschen und Ereignisse andere sind. Diese Lyrik ist stolz und feinfühlend, was der Dichter empfindet, sagt er nicht in eigener Person dem Leser, sondern legt es längstverschwundenen Menschen in den Mund, minnefrohen Gestalten der Vorzeit, die umweht sind von den goldenen Schleiern der Sage und umrauscht vom waldfrischen Hauche des Hochlands. So schildert er uns die unzerstörbare Sehnsucht nach Glück und Lebensfreude, die unter klösterlichem Gewande ringt, so das Heimweh des Landsknechts, der auf dem Schlachtfeld verathmend noch einmal die Almenluft spürt, die ihn fernher grüßt. Durch das Gezweig einer tausendjährigen Linde läßt er ihre Geschichte rauschen; aus dem Waldmoos hebt er versunkene Bücher, durch deren zerfallende Blätter das Lied der Liebe machtvoll und ergreifend klingt. Die leidenschaftlichen Laute des Menschenherzens und der rauschende Athem der Natur sind hier immer zu inniger Harmonie zusammengestimmt.

So die hochdeutsche Lyrik Stieler’s.

Und nun entrollen wir das Lebensbild vollständig. Dazu geben uns Stieler’s prosaische Arbeiten den nächsten Anlaß. Diese prosaischen Arbeiten sind größtentheils Reiseschilderungen, wie wir sie in den weitverbreiteten Prachtwerken „Aus deutschen Bergen“ („Wanderungen im Bayerischen Gebirge und Salzkammergut“), „Italien“, „Bilder aus Elsaß-Lothringen“ und „Rheinfahrt“ finden. Solche Schilderungen, zu welchen der Dichter durch [299] buchhändlerische Aufträge veranlaßt ward, gaben ihm erwünschte Gelegenheit, nach Vollendung seiner Studienzeit ein schönes Stück Welt zu sehen: Italien, die Schweiz, Frankreich, Oesterreich und Ungarn, Belgien und England. Darüber versäumte er nicht, sich einen festen Boden für das gesellschaftliche Leben unter den Füßen zu schaffen. Er bestand 1868 sein juristisches Staatsexamen, arbeitete eine Zeit lang in anwaltschaftlicher Praxis und promovirte 1869 zu Heidelberg als Doktor der Rechte. Aus jener Zeit stammen auch staatsrechtliche und politische Arbeiten in der „Allgemeinen Zeitung“. Als ihm 1870 Gelegenheit geboten ward, in den bayerischen Staatsdienst einzutreten, ergriff er dieselbe und wirkte zuletzt als Assessor im königlichen Reichsarchiv zu München. Hier, im Erdgeschoß des prachtvollen Bibliothekgebäudes fanden wir ihn in einem hohen gewölbten Zimmer, wie in einer schweigsamen Klosterzelle, zwischen ehrwürdigen alten Urkunden und modernen Akten.

Seit 1871 aufs glücklichste verheirathet und von drei reizenden blondhaarigen Kindern umtanzt, hatte er ein überaus angenehmes Heimwesen. Die ernsten Arbeiten im Reichsarchiv wurden in anregender Weise unterbrochen durch Reisen, welche der Dichter in die Städte am Rhein, an der Weser und Ostsee unternahm, um auf Einladung von Vereinen öffentliche Vorträge zu halten, meist über das Leben und die Sitten seiner Heimath. Diese Vorträge haben nicht wenig zu seiner Popularität beigetragen. Am freudigsten aber stimmte ihn das Wandern, wenn er das städtische Gewand mit dem grünen Jägerhut und dem Lodenmantel vertauschte, um, selbst ein echter Sohn seiner Berge, unter seinem Bergvolk herumzuwandern und da dem ewig sprudelnden Quell des Volkshumors zu lauschen oder jener schlichten Philosophie, die unter dem Bauernkittel sinnt.

Es war ein beneidenswerthes Los, das diesem Manne ward. In jungen Jahren ein Liebling seines Volks; hoch geachtet in der Gesellschaft; heimisch in einem der schönsten Thäler deutscher Lande; beschirmt aus eigener Kraft gegen jene ökonomische und gesellschaftliche Zerrüttung, die schon manches glänzende Talent verdarb –: es ist schwer sich ein harmonischer ausgestaltetes Leben zu denken.

Und so beneidenswerth war dieses Los, daß auch an diesem hochbegnadeten Dichter der alte Spruch sich erfüllen mußte: Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben. Vor mehreren Jahren schon von schwerer Krankheit niedergeworfen, war er zwar wieder genesen; aber er hatte dem Tode ins Gesicht geschaut und, was er da gesehen, in einem düsteren, mächtig ergreifenden Liedercyklus „Aus Fiebertagen“ wieder gesagt. Sein damaliges Ahnen eines frühen Todes trog ihn nicht. Der in oberbayerischer Mundart verfaßte Glückwunsch, welchen seine Tegernseeer Landsleute an den deutschen Reichskanzler zu dessen siebzigstem Geburtstage sandten, war Karl Stieler’s Schwanengesang.

Nach nur fünftägiger Krankheit raffte eine tödliche Lungenentzündung den lebensfrohen, schaffensfreudigen Mann am 12. April 1885 aus dem Kreise der Seinigen, aus einer Reihe hochfliegender Pläne und Entwürfe hinweg. Liebenswerth und edel, wie er als Lebendiger war, ist er unvergeßlich als Todter. Die grünen Wellen seines geliebten Tegernsees umrauschen sein frühes Grab; in seinen heimischen Bergwäldern beginnt es zu knospen und zu blühen. Aber wenn auch dieses Knospen und Blühen ihm keine neuen Lieder weckt: die alten, die er aus jenen Wäldern holte, bleiben unvergessen; dem innersten Volksgemüth entwachsen, klingen sie goldhell von den Bergen ins Land, Geschlecht um Geschlecht überdauernd. M. Haushofer.     



  1. Wir geben in dieser Nummer (S. 294) eines der letzten oberbayerischen Gedichte K. Stieler’s, welches er zu dem gleichfalls beigegebenen Bilde von A. Eberle für die „Gartenlaube“ gedichtet.