Instinct oder Ueberlegung? (Die Gartenlaube 1872/1)

Textdaten
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Autor: L. Z. in W.
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Titel: Instinct oder Ueberlegung?
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 20
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[20] Instinct oder Ueberlegung? Eine Maus im Canarienvogelbauer – gewiß ein seltener Gast! – Am 20. Juni vorigen Jahres saß ich in der Abenddämmerung auf dem Sopha, als mein Blick“ zufällig auf den alten Aloëstock fiel, welcher seit Jahren die linke Seite eines Eckfensters einnimmt und bei einer Höhe von etwa drei ein halb Fuß bis an die obere Wölbung desselben reicht. Ich glaubte zwischen den langen fleischigen Blättern dieser Pflanze etwas Lebendes zu bemerken und überzeugte mich denn auch alsbald, daß ein dunkler Gegenstand letztere gleich den Stufen einer Treppe flink erklomm und bereits zwei Dritttheile der Höhe erreicht hatte. Ich dachte anfangs an einen Vogel, der in’s Zimmer gerathen sein könnte, dann aber fiel mir bei, daß auch Mäuse im Hause – einem Bäckeranwesen – nicht eben selten seien, obwohl solchen namentlich von Seiten des Hausherrn emsig nachgestellt werde. Ich trat einen Schritt heran. Meine Näherung war beobachtet worden und das Klettern wurde sofort eingestellt. Wie leblos sah ich einen dunkeln Körper an den Stamm der Pflanze geschmiegt und erst nach längerer Zeit, währenddem ich meinen vorigen Platz wieder eingenommen hatte, begann die Vorwärtsbewegung von Neuem.

Oben in der Mitte der Fensterwölbung hing der Bauer eines Canarienvogels in der gewöhnlichen länglichen Form an einer etwa ein Fuß langen Schnur. Es währte nicht lange, so wurde ich an dem leisen Schwanken des Käfigs gewahr, daß dessen Rand betreten worden war, wozu eines der herüberreichenden Blätter als Brücke gedient haben mußte. Mit Hülfe eines Sessels blickte ich nun in den Käfig und sah denn hier eine große Maus mitten in demselben, an den Körnern, die der eigentliche Bewohner des Käfigs aus dem Futternapfe auf den Boden geworfen, behäbig schmausend.

Der Besuch mußte bereits öfters wiederholt worden sein, denn der Vogel schien durchaus nicht erschreckt, sondern betrachtete den dicht unter ihm knabbernden Vierfüßler sehr gleichgültig von seinem Ruheplatze aus. Die Maus benahm sich ebenfalls ganz ungenirt, schaute mich zunächst mit emporgestreckter Schnauze stier an und fuhr dann in ihrer angenehmen Unterhaltung fort. Ich ließ sie eine Zeitlang gewähren; da ich indessen fürchtete, es möchten im Laufe der Nacht noch andere derartige Gäste nachkommen und das Vögelchen am Ende doch in dieser oder jener Weise Schaden leiden, so suchte ich die Maus nun zu verscheuchen, um dann den Käfig an einen andern Ort zu bringen. Allein nur mit Widerstreben verstand sich die Maus endlich dazu, das Innere des Käfigs zu verlassen und sich außen am Rande hinzukauern – jedenfalls in der Absicht, wieder einzudringen, sobald sich der Störenfried entfernt haben werde. Als ich sie durch eine Drehung des Käfigs unmittelbar vor mir hatte, spielte sie die Todte oder Schlafende und erst nach wiederholter Berührung mit einem Stückchen Holz begab sie sich wieder auf die Aloë zurück und trat hier zögernd den Rückweg an. Das Hinzukommen meines Hundes, der auf den Stuhl sprang und die Nase zwischen die Blätter streckte, beschleunigte endlich den Marsch – ein Satz auf den Zimmerboden herab und die Maus war verschwunden.

Unwillkürlich tritt die Frage heran, wie das Thier von der oben in der Höhe, im freischwebenden Käfig bereitstehenden Mahlzeit Kenntniß erlangt habe? – Hat dasselbe auch vielleicht hier und da ein Hanfkorn auf dem Zimmerboden gefunden, so setzt die Ausführung des eben beschriebenen Unternehmens doch immer förmliche Schlüsse, eine Ueberlegung voraus. Dabei waren, bis das Gezweige der Aloë erreicht war, ganz besondere Schwierigkeiten zu überwinden. Denn vom Fensterbrett aus, zu welchem ein Stuhlbein die Leiter bilden mußte, war der glatte Scherben von glasirtem Thon, der wegen der Stärke der Pflanze bei ziemlichem Umfang beinahe einen Fuß hoch ist, zu erklimmen oder durch einen Sprung von den benachbarten kleineren Blumentöpfen aus zu gewinnen.

L. Z. in M.