In der ersten Stunde des neunzehnten Jahrhunderts

Textdaten
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Autor: Ludwig Storch
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Titel: In der ersten Stunde des neunzehnten Jahrhunderts
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aus: Die Gartenlaube, Heft 50, 51, S. 733–736, 747–749
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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In der ersten Stunde des neunzehnten Jahrhunderts.

Von Ludwig Storch.

Die letzten Tage des achtzehnten Jahrhunderts gingen zur Neige. In der dänischen Königsstadt wurden großartige Anstalten, namentlich von der Universität, zur würdigen Feier des Jahrhundertswechsels gemacht. Die akademischen Bürger beabsichtigten in der bevorstehenden wichtigen Nacht ein glänzendes, voraussichtlich geräuschvolles und kostspieliges Fest zu geben. Drei den Wissenschaften ergebene junge Männer, wovon zwei Brüder waren, hatten sich verabredet, sich nicht dabei zu betheiligen, theils weil sie überhaupt studentischen Prunk und Lärm nicht liebten und in großen Gesellschaften sich nicht gefielen, theils weil sie ihrer beschränkten Verhältnisse wegen alle Ursache hatten, unnöthige Ausgaben zu scheuen. Beim jüngern der beiden Brüder kam noch eine dritte Ursache hinzu, die er aber als ein stilles Herzensgeheimniß bewahrte und keinem der beiden Andern mittheilte.

Die Brüder, Hans Christian und Anders Sandöe, jener 23, dieser 22 Jahre alt, waren Söhne eines unbemittelten Apothekers in dem unbedeutenden Städtchen Rudkjöbing auf der Insel Langeland, der Dritte, Adam Georg, 21 Jahre alt, der Sohn eines eben so armen Organisten in der Dorfkirche zu Friedrichsberg in der nächsten Nähe von Kopenhagen. Wir unterlassen es aus einem Grunde, welcher dem Leser später klar werden wird, die beiden Familiennamen der drei Jünglinge zu nennen, und begnügen uns einstweilen mit ihren Taufnamen. Ihre Jugendgeschichte war eben so merkwürdig, als interessant.

Zur wissenschaftlichen Ausbildung der beiden Brüder, die sich frühzeitig als sehr talentvolle Knaben erwiesen, fehlten im Vaterhause, wie überhaupt in der Vaterstadt, fast alle Mittel, die materiellen, wie die spirituellen, und der Unterricht, welchen die hübschen Kinder genießen konnten, durfte noch schlimmer als mangelhaft, er durfte armselig genannt werden. Doch wollte es eine jener eigenthümlichen Fügungen des Schicksals, in welchen man gern den Finger der göttlichen Vorsehung erblickt, daß sie von einem in ihrer Nachbarschaft wohnenden Deutschen deutsch sprechen und lesen lernten und mit einigen deutschen Büchern bekannt wurden. Später verfielen die lernbegierigen Knaben, um sich selbst zu helfen, da ihnen von Andern nicht geholfen wurde, auf eine originelle gegenseitige Unterrichtsmethode. Sie wußten sich alte Lehrbücher derjenigen Wissenschaften, von welchen sie besonders angezogen wurden, zu [734] verschaffen, und sobald ihr Lerneifer sich der Elemente bemächtigt, docirten sie sich wechselseitig das Erlernte.

So hatte Hans aus einem schon lange dienstbaren Schulbuche die Anfangsgründe der Mathematik sich angeeignet und spendete seinem Anders den eroberten Schatz, und dieser vergalt dem ältern Bruder mit Geographie und Geschichte. Bei einem Privatlehrer erhielten sie nachher auch einige Einsicht in die Formlehre der lateinischen Sprache.

Aber schon in seinem zwölften Jahre mußte Hans dem Vater als Gehülfe in der Apotheke dienen, und hier machten ihm die chemischen Arbeiten große Freude. Nebenbei verschlang er alle belletristischen und geschichtlichen Bücher, dänische und deutsche, die er in dem armen einsamen Heimathstädtchen auftreiben konnte, während Anders seine sprachliche und philosophische Autodidaxie so gut es gehen wollte, fortsetzte.

Doch der Genius in dem Bruderpaare fühlte seine Schwingen wachsen und drängte kraft des ihm innewohnenden Triebs empor. Ihr einziger Wunsch war, den glühenden Wissensdurst ihrer jugendlichen Geister auf der Universität zu Kopenhagen zu stillen. Sie setzten Alles daran, das Abiturientenexamen zu machen, und es gelang ihnen 1794, die Hochschule der Königsstadt zwar mit schlecht gefüllten Taschen, aber mit begeistertem Drange nach Wissenschaft zu beziehen. Konnten sie den physischen Hunger anfangs oft nur mit einem Stück trocknen Brodes stillen, so schwelgte dagegen ihr geistiger Heißhunger in der lockenden Fülle der literarischen Nahrungsmittel, welche ihnen die Universität bot. Und wie wenig bekümmerte sie die Entbehrung dessen, wonach die Meisten gierig trachten, und wie beglückte sie die Eroberung der Güter, die sich Andere gewöhnlich nur aus niederer Speculation und darum so unvollkommen aneignen! Sie suchten und hatten durchaus keinen Umgang mit andern Studenten und wurden von diesen wegen ihrer kleinstädtischen Unbeholfenheit, Schüchternheit und ihres seltsamen Aufzugs verspottet und mit dem Spitznamen „die Dioskuren“ belegt, weil sie ganz gleich in lange schlichte Ueberröcke, die bis an die Fersen reichten, geknöpft, stets Arm in Arm fest aneinander geklammert auf der Straße einherstelzten, um nicht auf den Ueberfluß ihrer Bekleidung zu treten und zu fallen, wodurch sie denn freilich das Aussehen eines zusammengewachsenen Zwillingspaares erhielten. Aber den wenigen Studenten, die ihr geistiges Wesen näher kannten, glänzten sie wirklich wie das Sternbild der Dioskuren, und auch ältere Gelehrte ahneten bald den in ihnen wohnenden Genius. Und dieser brach – sie waren noch nicht drei Semester akademische Bürger – aus seiner Verpuppung hervor und entfaltete seine prächtigen Flügel.

Durch akademische Preisabhandlungen, die ihnen außer goldenen Medaillen die Achtung ihrer Lehrer einbrachten, durch die beiden ersten Examina, die sie mit Ruhm bestanden, zogen sie die Blicke der Einsichtsvollen auf ihre ungewöhnliche Geistesbegabung und ihren bewunderungswürdigen Fleiß.

Mit einer Unterstützung aus Staatsmitteln und mit dem Ehrensold, den sie als gesuchte und gut bezahlte Privatlehrer erwarben, war ihrer Bedrängniß abgeholfen. Nun ging jeder seine eigene Bahn, dem früh sich kundgegebenen innern Drange folgend; jeder versenkte sich, die übrige Welt fast vergessend, in seine Wissenschaft, Hans in Mathematik, Physik, Astronomie, Chemie und Medicin, Anders in Philosophie und Rechtskunde. Da kam ihnen denn ihre Kenntniß der deutschen Sprache gut zu statten. Der Aeltere studirte die deutschen Physiker, der Jüngere die deutschen Philosophen. Für Jenen hatte Ritter, für Diesen Kant die größte Anziehungskraft. In seinem 19. Jahre hatte Anders sich Kant’s und Fichte’s Systeme ganz zu eigen gemacht. Und so erstarkten sie vorzüglich an den Brüsten der deutschen Wissenschaft. In herzlicher, brüderlicher Liebe und Einigkeit blieben sie aber unzertrennlich, wohnten bei einander und theilten sich auch jetzt noch, wie sie gleichsam von Kindheit an gewohnt gewesen waren, die Resultate ihrer verschiedenen Studien mit, so daß der Eine immer auch in die Disciplinen des Andern eingeweiht wurde. Selbst als die Spötter verstummten und der Dioskurenname zum Ehrenprädicat geworden war, suchten sie keinen Umgang, sondern lebten, von der Welt fast abgeschlossen, nur ihren Studien. Die Universität hatte noch nie zwei so eng und eigenthümlich verbundene Studenten gesehen, die alle Zerstreuungen der Jugendlust mißachtend, nur am Wissenschaftsleben Freude hatten. In ihrem seelischen Leben bildeten sie einen überraschend schönen Gegensatz. Wie der Jüngere eine ernste, ruhige, fast tiefsinnige Forschernatur, ein echter Philosophengeist, so war Hans eine leichtbewegte, etwas unruhige, enthusiastische und geschmeidige Dichterseele. Für alles Schöne und Erhabene in Wissenschaft und Kunst schnell erglühend, hatte er die Eigenthümlichkeit, die aus der Wissenschaft gewonnenen Resultate in kleine leicht und anmuthig versificirte Gedichte zu bringen. So faßte er die Perlen und Edelsteine der Wissenschaft in den goldenen Arabeskenschmuck der Poesie. Seine dichterische Begabung war durchaus keine großartige, allumfassende, aber sie war eine liebliche und reizende.

Die Brüder wohnten auf Ehlersens-Collegium und hatten ihren Mittagstisch bei einer bemittelten Wittwe, ihrer Tante, Frau Möller, die nach dem Tode ihres Mannes das einträgliche Färbereigeschäft desselben mit Fleiß und Umsicht fortbetrieb.

Im Herbste 1797 nahm ein eben beim königlichen Hoftheater engagirter junger Schauspieler bei dieser Frau Möller Wohnung und Kost und wurde so der Tischgenosse und bald genug der Freund der beiden Brüder.

Dieser Jüngling war der anfangs erwähnte Adam.

Der Vater desselben, ein Schleswiger, einst als armer Schulamtscandidat nach Kopenhagen gekommen, um Brod und Stelle zu erwerben, hatte durch Protection des bekannten, damals allmächtigen Ministers Grafen Adam Gottlob Moltke die ärmliche Organistenstelle in Friedrichsberg erhalten und gab aus Dankbarkeit seinem Sohne des Grafen beide Taufnamen. Zwölf Jahre später wurde der arme Organist zum Castellan des königlichen Lustschlosses Friedrichsberg befördert, dessen Gevollmächtigter er schon eine Zeit lang gewesen war. Seine Frau, unseres Adams Mutter, war die Tochter auch eines Deutschen und Gevollmächtigten eines königlichen Schlosses.

Drittehalb Jahre nach der Geburt des Sohnes schenkte sie ihrem Gatten eine Tochter, welche Sophie genannt wurde. Beide Kinder wuchsen in dürftigen Verhältnissen auf. Der eigenthümlich lebhafte und doch wieder so seltsam träumerische Knabe zeigte schon in frühester Zeit bedeutende Anlage zur Dichtkunst, fertigte im zwölften Jahre bereits ein von Sachverständigen belobtes geistliches Lied und schrieb Dramen, die er mit seiner Schwester und seinen Cameraden im Speisesaale des Schlosses aufführte. Sein Talent zum Zeichnen veranlaßte ihn, die Akademie zu besuchen, um Maler zu werden, er gab aber dieses Vorhaben wieder auf und widmete sich dem Kaufmannsstande. Dabei machte er immer Verse und schrieb Komödien.

Endlich in seinem 18. Jahre entschlossen, Schauspieler zu werden, wurde er auf Betrieb seines Vaters beim Hoftheater angestellt, und betrat unter der Leitung des bedeutenden mimischen Künstlers Rosing die Bühne. Ohne Talent für diesen Beruf, ein schlotternder Knabe, linkisch und mit den Toilettenkünsten unbekannt, wollte er gleich große Rollen spielen und mußte mißfallen; da aber doch Manches von seinen poetischen Leistungen verlautet war, so nannten ihn die Schauspieler spottweise „den Mann mit den verborgenen Talenten“. Bald genug fühlte er sich unbehaglich in seinem Wirkungskreise, wurde noch scheuer, zog sich zurück, und sein kindisches Wesen gefiel sich allein in der Nachahmung mittelmäßiger deutscher Dramen und Romane. Mit Kruse, dem nachherigen deutschen Romanschreiber, bekannt geworden, schrieb er in ein von diesem herausgegebenes fast nur Uebersetzungen enthaltenes Blatt sehr viel und zwar ohne Honorar, und da er lustige Gesellschaft nicht liebte, so war seine einzige Freude, einigen Freunden seine unbedeutenden poetischen Erzeugnisse vorzulesen.

Diese Zerfahrenheit hätte wahrscheinlich zu einem schlechten Ziele geführt. Sein Glücksstern brachte ihn am Mittagstische der Frau Möller mit den beiden Brüdern Hans und Anders zusammen, die bald einen entscheidenden Einfluß auf sein späteres Leben ausübten. Besonders Hans’ kindliche, ungemein freundliche, mittheilsame, wohlwollende und anschmiegende Dichternatur fand sich von Adams edlem ebenfalls kindlichem Wesen angezogen. Die verwandten Geister folgten einem Naturgesetz, indem sie sich innig aneinander anschlossen. Beide von der Natur mit ihrem schönsten Geschenke, einer poetischen Weltanschauung bedacht, war ihre seelische Eigenthümlichkeit ganz der Art und Weise gleich, wie sie diese Anschauung in Worte kleideten. Hans war überdies liebenswürdig und geschmeidig, den kleinen Kreis um sich mit Gründlichkeit erforschend und mit Liebe ausfüllend, und dann vorsichtig weiter gehend auf das Große und Allgemeine.

Es war natürlich, daß Hans den Grund der Schwermuth [735] und stillen Verzweiflung des Freundes bald entdeckte. Er rieth ihm, die Bühne wieder zu verlassen, das lateinisch-juridische Vorbereitungsexamen zu machen, dann Jura zu studiren, um Advocat zu werden; Anders solle ihn einweisen, sodaß er in ein paar Jahren fertig sei. Adam schöpfte neuen Muth, nahm das freundschaftliche Anerbieten an, und begann unter Anders’ Leitung, 19 Jahre alt, mit Eifer wissenschaftliche Studien. Neben diesen ernsten Beschäftigungen lernte er Horaz kennen und versenkte sich in Goethe’s und Schiller’s Dichtungen, wodurch seine Neigungen einen noch höhern Schwung erhielten. Zugleich verliebte er sich in ein schönes, etwas jüngeres Mädchen als er, Tochter einer angesehenen Familie, und verlobte sich mit ihr mit Zustimmung ihres Vaters.

Seit diesem Wechsel waren nun zwei Jahre verflossen. Adam hatte, von Anders tüchtig unterrichtet, ziemliche Fortschritte in der Rechtskenntniß gemacht, noch größere aber im Studium der deutschen Dichter, Shakespeares und der Alten. Er hatte geistreiche und wohlwollende Freunde gewonnen und lebte im süßanregenden Umgange mit seiner Braut und deren trefflichen Geschwistern ein glückliches Leben. Nur Geld hatte er blutwenig. Hans und Anders waren seine innigsten Freunde und täglichen Tischgenossen bei Frau Möller. Dieses Zusammenleben der drei Jünglinge war ein schönes und echt poetisches und entwickelte ihre Geister durch gegenseitige Anregung, Wetteifer und Streben zu immer reicherer Genialität. Ihr Blüthenstaub hatte sich schon so gegenseitig befruchtet, daß die Frucht bereits in vielversprechender Fülle schwoll. Nur sie selbst schienen es nicht zu wissen, wozu der Geist der Weltgeschichte sie bestimmt hatte. Es hat wohl nie einen so herrlichen Jünglingsbund weiter gegeben, als den dieses ausgezeichneten Kleeblatts, dessen Mitglieder wenige Jahre später der Stolz ihrer Nation werden sollten. Hans war 1799 Doctor der Philosophie geworden und hielt seit der Zeit an der Universität Vorlesungen über Chemie und Naturmetaphysik. Die letztere war seine Lieblingswissenschaft, von seiner poetischen Natur mit der ganzen Hingebung ihrer Innigkeit betrieben und durchdrungen. Vor einigen Monaten hatte er auch die Verwaltung einer Apotheke übernommen.

Anders hatte sich als Rechtsdocent bei der Universität habilitirt.

In ihren Erholungsstunden waren die drei Jünglinge oft nach Schloß Friedrichsberg hinausgewandert, um sich an Sophie’s hochsinnigem, edlem Wesen, an der derben Gemüthlichkeit des alten Castellans und an der prachtvollen Umgebung des Schlosses zu ergötzen, das auf einem Hügel im italienischen Styl sich erhebend, eine entzückende Aussicht, vorzüglich auf die nahe Königsstadt gewährt. Sophie waltete da still und sorgsam in dem kleinen Haushalte; denn die reichbegabte, tiefgefühlvolle Mutter der beiden Geschwister war vor zwei Jahren in der Blüthe des Lebens gestorben. Es waren Sophie’s glücklichste Stunden, wenn Bruder Adam mit den beiden Freunden kam. Sie lebte sehr häuslich und zurückgezogen, las gern ein gutes Buch und horchte mit innigem Vergnügen der wissenschaftlichen Unterhaltung der drei Jünglinge, ihr dann stets Stoff zu tagelangem Nachdenken gab.

Ganz im Stillen und von den Andern unbemerkt, hatte sich ein Herzensverhältniß zwischen ihr und dem ernsten Anders angesponnen, das mit der Zeit an Tiefe und Innigkeit gewonnen hatte. So hatte sich denn Gleiches zu Gleichem hingezogen gefühlt, und wie die Geschwister auf beiden Seiten sich herzlich liebten, so hatten sich doch die poetischen und die philosophischen Naturen über’s Kreuz verbunden: Hans und Adam, Anders und Sophie, eine Doppelverbindung edler und nach den höchsten Gütern strebender Seelen, wie nicht leicht eine zweite gefunden werden wird. Diese stille und heilige Liebe Anders’ zu der hohen ernst-schönen Sophie war der vorhin angedeutete verschwiegene Grund, weshalb der junge Philosoph das neue Jahrhundert auf Schloß Friedrichsberg im Kreise der ihm theuersten Menschen anzutreten wünschte. Sophie theilte natürlich diesen Wunsch, und von den Jünglingen benachrichtigt, traf sie ihre Vorbereitungen.

Die drei Freunde fuhren Nachmittags in einem Schlitten hinaus, von Vater und Tochter auf’s Herzlichste empfangen.

Der Alte hatte sich für den Abend seinem gewohnten Cirkel zugesagt. Die drei Jünglinge und die Jungfrau waren allein. Sophie hatte eins der schönsten Cabinete mit der Aussicht auf Kopenhagen heizen lassen. Dort speisten sie ungemein heiter und in einer gehobenen Stimmung zusammen. Muntere Gespräche kürzten die Zeit, und als Sophie endlich mit der dampfenden Bowle hereintrat und die Gläser mit dem süßduftenden Gebräu ihrer Hand füllte, fing die Unterhaltung an, sich zu beflügeln, und die Charakter- und Temperamentseigenthümlichkeit der Versammelten trat in ihren Aeußerungen immer schärfer hervor. Die Stimmung wurde feierlich. Adams schönes Auge leuchtete von hoher Begeisterung, Hans lächelte selig, Anders erhob den edlen Platonskopf zu Sophien, die ihm mit einem innigen Blick begegnete.

„Das erste Glas,“ rief Adam, der in großen Gesellschaften so schüchterne und schweigsame Jüngling, mit sonorer Stimme und gewinnender Beredsamkeit, „gelte dem Genius des scheidenden Jahrhunderts! Die Lebensbühne, als er sie betrat, war ein dumpfer, lichtloser Kerker des Menschengeistes, in welchem jener französische König, der sich in unbewußter, die Nemesis selbst repräsentirender Selbstironie „Louis le grand“ nannte, seine Affen und hündischen Schmeichler mit despotischer Laune und Willkür schalteten und walteten, wie der Fabelgott Zeus und seine Sippschaft auf dem Olymp. Der Genius des achtzehnten Jahrhunderts hat den Kerker zerbrochen und die Ketten gesprengt, womit Selbstsucht, Herrschsucht, Pfaffentrug, Wahn und Aberglaube seine Wiege umgürtet hielten. Im hochtragischen Zorne hat er die niedergeworfenen Schranken mit Blut besprengt, aber er hat auch die besudelte Schwinge im Morgenrothe der neuen Geistesära rein gebadet. Er hat, einst ein gemißhandeltes, geknechtetes Kind, scheidend als freier Riese, eine so herrliche Saat in die Geister ausgestreut und dem Acker frische Luft, helles Sonnenlicht, freien Himmel gegeben, daß sein Nachfolger davon goldene Früchte ernten wird. – Freunde, wir sind in einer großen Zeit geboren, in einer Periode, wie die Weltgeschichte kaum noch eine gesehen, gekennzeichnet durch ein gewaltiges Ringen der Geisteskräfte nach oben. Mag der Geist, sich selbst befreiend, manchen Fehlgriff gethan haben, im Ganzen und Großen hat er mit Kraft und Würde einem erhabenen Ziele zugestrebt. Mitten in diesem großartigen Ringen und Kämpfen, das uns mit staunender Ehrfurcht erfüllt und auch unsere jugendlichen Kräfte anspornt, und beim großen Chorus der Geister zu beteiligen, mitten in diesem Brausen und Gähren tritt er ab von der Bühne und übergibt seinem lichten Nachfolger Schild und Schwert. Bringen wir dem scheidenden, so mächtig erstarkten Genius mit diesem Glase unsern Dank!“

„Gesegnet sei sein Andenken in der Weltgeschichte durch Aeonen!“ rief Hans mit leuchtenden Augen. „Wir, seine späten Söhne, wollen seiner würdig sein im Kampfe für Wahrheit und Recht!“ sagte Anders.

„Und für Licht und Liebe!“ setzte Adam hinzu.

Sie leerten die Gläser.

„Wahrlich, der nach Freiheit ringende Geist des achtzehnten Jahrhunderts hat in der zweiten Hälfte die Menschengeister wunderbar befruchtet,“ fuhr Adam fort, „aber nirgend hat er den Acker besser bestellt und nirgend ist die Frucht reicher aufgegangen, als in Deutschland, dem auch wir geistig angehören. Dort zumeist ist mancher große Wurf gethan: Faust und Guttenberg, Luther und Zwingli, Leibnitz und Kant, Goethe und Schiller haben den Diskos mit glänzendem Erfolge im großen Kampfspiele geschleudert.“

„Vergessen wir nicht die gewaltigen Wurfschützen anderer Nationen!“ fiel Hans ein. „Franklin und Galvani, Grey und Dufay, die Entdecker der Elektricität, Voltaire und Rousseau, die Förderer der Humanität. Es haben auch viele außer Deutschland große Würfe gethan.“

„Lassen wir alle Söhne des scheidenden Jahrhunderts leben,“ warf Anders ein, „welche die Arbeit des Geistes durch einen großen Wurf gefördert.“

„Zuerst die, welche das Jahrhundert mit einem großen Wurf würdig beschließen,“ nahm Adam wieder das Wort. „Es ist ein herrliches Hoffnungszeichen für das neue Jahrhundert, daß das alte mit solchen Glanzwürfen abtritt. Hier seht dieses Manuscript! Es ist eine erhabene Tragödie, eine unvergleich großartige Trilogie Schillers, die er in diesem Jahre zum würdigen Schluß des Jahrhunderts vollendet hat. Hier ist die Geschichte mit jenem philosophisch-idealen Hauch verklärt, der die wahre schöpferische Aufgabe der Poesie ist.“

„Was ist’s?“ rief Anders überrascht und griff nach dem Buche, indem er las: „Wallenstein, Tragödie von Schiller.“

„Ihr kennt die wohlthäterische Theilnahme, welche der Herzog von Augustenburg und der Graf Schimmelmann dem großen deutschen Dichter gewähren. Zum Dank für die thätige Hülfe überschickt [736] er ihnen seine neuen Werke im Manuscript. Durch die Verbindungen meines Vaters habe ich dieses Manuscript vor wenig Tagen erhalten, gelesen und zur Feier dieser Nacht bestimmt. Das ist ein Wurf, meine Freunde! Mit solchem Werke schließt man ein Jahrhundert würdig. – Und hat nicht auch Goethe den Schluß des Jahrhunderts mit „Wilhelm Meister,“ dessen Schicksal dem meinigen so ähnlich ist, und mit „Hermann und Dorothea“ goethisch-würdig gefeiert? Wahrlich auch ein großer Wurf!“

[747] Auf diese von Adam gesprochenen Worte sagte Anders: „Die deutsche Philosophie ist nicht hinter der deutschen Poesie zurückgeblieben.“

„Auch Fichte hat vor wenigen Monaten ein neues Werk in die Welt geschickt, „Bestimmung des Menschen“ betitelt, in welchem [748] der große Philosoph einen neuen Flug seines Idealismus beginnt,“ erwiderte Adam. „War schon sein vor zwei Jahren erschienenes „System der Sittenlehre“ ein großer Wurf in der Erweiterung der Kant’schen Lehre, so sehen wir den deutschen Denker in dem neuesten Buche dem scheidenden Jahrhundert einen prächtigen Schlußstein setzen. Kant und Fichte haben im Laufe der letzten Decennien große Würfe gethan.“

„Es ist ein köstliches Zusammentreffen,“ sprach nun Hans, nach seiner Art anmuthig lächelnd, „und es wäre ein Frevel an der Weltvernunft, die sich uns immer erhabner kund geben will, es einen Zufall zu nennen, daß ich, da ihr so prächtige Würfe in Poesie und Philosophie zum Schluß des Jahrhunderts beizubringen im Stande seid, meinerseits in den Naturwissenschaften ein Gleiches vermag. Vor wenigen Monaten ist auf meinem Felde ein großer, ein gewaltiger Wurf geschehen, welcher der Zukunft Früchte bringen wird, deren Herrlichkeit wir kaum zu ahnen vermögen. Der berühmte italienische Physiker Alessandro Volta hat in diesem Jahre einen aus verschiedenen Metallen zusammengesetzten Apparat, eine Säule, erfunden, welche die von Galvani entdeckte Modalität der Elektricität auf überraschende Weise zur Erscheinung bringt. Ich vermuthe mit gutem Grunde, daß diese Säule der gewaltigste Denkstein des scheidenden und der großartigste geistige Sonnenzeiger des neuen Jahrhunderts werden wird. Wie die Pyramide des Cheops wird sie, der Verbindungsstein zweier großen Jahrhunderte, ihren geheimnißvollen Schatten über die kommenden Jahrhunderte hin dehnen, zugleich Sonnenuhr und Meilenzeiger des strebenden Menschengeistes.“

„Also allen Söhnen dieses Jahrhunderts, denen ein großer Wurf gelungen! Zuerst denen, die schon von der Lebensbühne abgetreten sind!“

„Und denen, die mit uns in das neue Jahrhundert hinübertreten: Goethe und Schiller!“

„Kant, der ehrwürdige Greis, und Fichte!“

„Volta, Brown, der kühnstrebende Mediciner!“

„Es ist gleich Mitternacht!“ rief Sophie.

Die Jünglinge erhoben sich.

„Es ist ein hochernster heiliger Augenblick!“ rief Adam glühend. „Das alte Jahrhundert versinkt, das neue steigt herauf!“

In diesem Augenblick begann die Schloßuhr die zwölfte Stunde zu schlagen. Vom königlichen Residenzschlosse in Kopenhagen blitzte ein Feuerschein herüber. Donnerhall folgte. Das neue Jahrhundert wurde mit hundert Kanonenschüssen begrüßt. Alle Glocken der Hauptstadt begannen ihr weit hallendes Läuten. Die vier Versammelten blickten in feierlicher Stille nach der Königsstadt. Die Uhr hatte ausgeschlagen.

„Sei uns willkommen! sei uns gegrüßt, Genius des neunzehnten Jahrhunderts, Genius der Neuzeit!“ rief Adam in hoher Begeisterung. „Segne uns und alle Strebenden! Stürze den Aberglauben, erhelle die Nacht der Geister! Bekämpfe die Selbstsucht und breite den Morgenrothglanz der Liebe über deine Geschlechter! Ueberwache die Welt mit dem sänftigenden verklärenden Hauche der Poesie!“

„Entzünde die Geister, daß sie denken!“ fuhr Anders fort. „Setze die Vernunft auf den ihr gebührenden Thron! Der entfesselte Gedanke befreie die noch in Banden liegende Welt! Lernt denken und euere Vernunft gebrauchen, ihr Geschlechter des neuen Jahrhunderts, und ihr werdet frei und glücklich sein!“

„Eure Wünsche und Acclamationen sind schön und gerecht,“ sagte Hans. „Aber vor Allem ist zu wünschen, daß die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts eine richtige Einsicht in das Wesen der Natur gewinnen und ihre Kräfte und Gesetze mit treuem redlichen Eifer erforschen und zu ihrem Heil benutzen. Ihr wünschet, daß Poesie und Philosophie sich mehr und mehr ausbreiten auf der Erde, d. h. daß Gefühl und Verstand, die beiden Pole des Menschengeistes, mehr cultivirt werden. Aus ihnen hat sich seit den ältesten Zeiten die Religion entwickelt. Unvollkommene Cultur des Gefühls und des Verstandes führte zu jenen Religionen voll Fabeln und Wundern, die zwar poetisch, wie alle kindlichen Anschauungen, aber dem reifer gewordenen Geist ungenügend sind. Die wahre Bildung des Gefühls und des Verstandes kann nur durch die Erleuchtung der Vernunft als der höchsten Geisteskraft gewonnen werden, und das Licht dieser Erleuchtung kann allein durch Erforschung der Natur entzündet und genährt werden. Je weiter wir in die Tiefe und Höhe der Natur forschend und erkennend vordringen, desto mehr wird jene Poesie des Aberglaubens verschwinden, die leider noch von unzähligen Herzen als ein höchstes Gut festgehalten wird, desto logischer werden wir denken lernen, die Gesetze des Denkens erkennen und festhalten und uns von jenen Schwankungen und Trugschlüssen befreien, die noch in so vielen Köpfen spuken, desto reiner, erhabener und der aus der Natur als dem ewigen Vernunftreich erkannten Gottheit würdiger wird also unsere Religion sein. Das ist die Aufgabe des neuen Jahrhunderts, daß es die Natur erforsche und ihre Kräfte und Gesetze erkenne, daß es dann auf dieses Wissen eine richtige Philosophie baue, und daß sich endlich als drittes und letztes Glied der neuen Dreieinigkeit eine würdige Poesie entwickle, die wie der Glanz und Duft einer schönen Abendbeleuchtung verklärend über der Welt leuchte. Nicht Fabeln und Märchen auszuschmücken kann ferner die Aufgabe der Poesie sein, nicht in dialektischen Kunststückchen und sophistischen Grübeleien seiltänzerisch herumspringen, die Aufgabe der Philosophie. Vielmehr soll sie die Resultate der Naturforschung mit den Denkgesetzen des Geistes in Einklang bringen und die Poesie dann die also gewonnene Wahrheit mit ihren prächtigen Tinten übergießen. Und aus der innigen Verschmelzung dieser Drei steige die Religion als das Liebesband zwischen Gott und der Welt empor!“

„Und nun seht, meine Lieben, wie wir hier so überraschend schön und charakteristisch versammelt sind! Ich als der Aeltere vertrete, wenn auch herzlich schwach, die Naturwissenschaften, Anders als der ein Jahr Jüngere die Philosophie, und Adam als der wiederum ein Jahr Jüngere die Poesie. Und so laßt uns in brüderlicher Umarmung das neue Jahrhundert mit dem Zurufe begrüßen: Gib uns Kraft! Gib uns Wahrheit! Gib uns Schönheit! Und aus diesen Dreien laß uns Gottbegeisterung erblühen!“

„Amen!“ riefen die Andern und umschlangen und küßten sich, und Sophie flüsterte ein stilles Gebet über sie hin.

„So laßt uns den Rest unserer Bowle auf das Gedeihen derer leeren,“ nahm Adam wieder die Rede auf, „die im neuen Jahrhundert große Würfe in der Naturerkenntniß, in der Philosophie und Poesie zu thun vom Schicksal berufen sind! Mögen sie die Menschheit von den Fesseln des Wahns und Trugs befreien und Wahrheit und Schönheit durch sie zum vollsten Sieg gelangen, daß man heute über hundert Jahre beim Antritt des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Namen als Sterne hochpreise, wie wir heute die Glanznamen des achtzehnten Jahrhunderts hochgepriesen haben. Segen auf die kommenden Arbeiter im Weinberge des Herrn, denen ein großer Wurf gelingen wird!“

„Es wäre doch gar schön, wenn Einem von uns oder allen Dreien so etwas gelänge,“ sagte Anders. Aber fast erschrocken über die Kühnheit dieses Gedankens, setzte er hinzu: „Ich bin freilich nur ein schwacher Schüler Kant’s und Fichte’s; ich suche jetzt Staatsdienst und werde als Justizbeamter meine Pflicht thun, aber damit gelingt kein großer Wurf. Dazu gehören andere Kräfte, als die meinigen.“

„Und ich werde ein fleißiger Advocat werden, der dem Rechte redlich dient und zu seinem Vergnügen ein paar Verse macht,“ fuhr Adam kleinlaut fort. „Damit thut man auch keinen Wurf, der Erwähnung verdiente.“

„Wird es mir besser ergehen?“ lachte Hans. „Ich werde ein Apotheker bleiben, der ich schon bin. Ich werde Arzneien bereiten und dispensiren und in meinen Mußestunden etwas Physik, Astronomie und natürliche Religion treiben. Dabei wird freilich auch kein großer Wurf herauskommen. Wir wollen uns aber darum keine grauen Haare wachsen lassen, sondern uns den regen Antheil an allem Fortschritt bewahren und selber nach dem Maß unserer Kräfte mitwirken.“

„Und den Muth in der Brust wollen wir stählen, damit die rechte Stunde uns zur That für die erkannte Wahrheit bereit finde!“ sagte Adam wieder hochaufathmend.

„Und mit Liebe wollen wir uns und Andern das Leben schmücken,“ sagte Anders mild. „Nach der heißen Arbeit des Tags erquicke uns ihr süßer Thau!“

Sophie, die hinter seinem Stuhe stand, beugte sich leise hervor und küßte ihn, von den Andern ungesehen, auf die hohe Stirn.

„Wohlan denn, das Leben ruft uns in die Rennbahn des neuen Jahrhunderts!“ rief Adam. „Beginnen wir zu des Vaterlands Ehre den Wettlauf mit denen, die Kraft und Muth das Ziel zu erstreben anfeuern!“ Und nun las er Scenen aus Wallenstein vor.

[749] Wenige Monate später stand Adam als Fahnenjunker im Studentencorps unter den Vaterlandsvertheidigern gegen die Engländer, welche Kopenhagen angriffen; Anders wurde um dieselbe Zeit Assessor des Hof- und Stadtgerichts in Kopenhagen und führte seine Sophie heim; und Hans trat eine zweijährige wissenschaftliche Reise nach Deutschland, Paris, Brüssel, Harlem und Amsterdam an, die ihn zu einer großen Anzahl strebsamer Geister in persönliche Beziehung brachte. Wir nennen nur die Deutschen Schelling, die Gebrüder Schlegel, Fichte, Schleiermacher, Ludwig Tieck, Zacharias Werner, Franz Baader, Erman, Kielmeiler, Rumford, die Mineralogen Hausmann und Weiß und vor Allen den ihm so theuer gewordenen Chemiker Ritter. Wenn auf der einen Seite sein lebendiger Geist und seine ungewöhnliche Gelehrsamkeit imponirten, so gewannen ihm seine jugendliche Frische und seine anspruchslose Kindlichkeit Aller Herzen. Ihm selbst brachte die Reise großen geistigen Gewinn. – –

Im Jahre 1809 kehrte Adam von einer fast fünfjährigen Reise nach Deutschland, Frankreich und Italien, die er zumeist mit einem Reisestipendium des Kronprinzen gemacht, in die Heimath zu seiner Braut, zu seiner Schwester, zu seinen Freunden in Kopenhagen zurück. Auch er hatte die Liebe der bedeutendsten Menschen in diesen Ländern gewonnen. Goethe war ihm väterlicher Freund geworden.

Adam war kein Advocat geworden, sondern ein Dichter, und zwischen seinen Jugendfreunden und Schwägern Hans und Anders an der Festtafel sitzend, die zu seinem Empfang geschmückt war, legte er ihnen drei in der Zeit seiner Abwesenheit gedichtete, aber schon berühmt gewordene Dramen, „Aladdins Wunderlampe“, „Hakon Jarl“ und „Correggio“ mit den Worten auf den Tisch: „Ich glaube, es ist mir doch ein guter Wurf gelungen.“ Sie stießen jubelnd auf den gelungenen Wurf an.

Adam wurde Professor der Aesthetik an der Kopenhagner Universität und glänzt für ewige Zeit als der größte dänische Dichter der Neuzeit, aber auch als einer der vorzüglichem deutschen Dichter; denn er gehört beiden Nationen an.

Die Leser wissen nun schon, daß unser glücklicher Werfer Adam Oehlenschläger war.




Am 21. December 1819 hatte der königlich dänische erste Deputirte der Staatskanzlei und Generalprocurator Anders Sandöe Oersted[WS 1] seinen Bruder, den Professor der Physik, Hans Christian Oersted[WS 2], und seinen Schwager, den Professor der Aesthetik, Adam Georg Oehlenschläger, mit ihren Frauen zur Feier seines einundvierzigsten Geburtstags eingeladen. Die Herren standen sich noch eben so nah, wie in ihrer Jugend, ja man hätte glauben können, ihr Freundschafts- und Herzensbund habe an Wärme und Innigkeit zugenommen. Sie waren eben wie drei sich zärtlich liebende Brüder. Mit dem Dessert wurde Champagner aufgesetzt und die Unterhaltung muntrer und lebendiger. Die Herren riefen Erinnerungen wach. So kam denn auch die Rede auf die zusammenverlebte erste Stunde des Jahrhunderts und wie damals Jeder im Stillen gewünscht habe, einen großen Wurf in der fördernden Geistesarbeit zu thun und seinen Namen zu den glänzenden Namen des vorigen Jahrhunderts zu stellen. – Auf einen Wink des schelmisch lächelnden Gatten verließ Frau Sophie das Zimmer und kehrte gleich darauf mit einer verdeckten Schüssel zurück, die sie, ihrem Bruder und Schwager bedeutungsvoll zunickend, auf den Tisch setzte. Alle Augen hingen neugierig an der Schüssel.

„Du hast Deinen großen Wurf schon vor zehn Jahren gethan, Adam,“ sagte Anders; „Sophie hat da etwas aufgetragen, das ich ohne Selbstüberschätzung auch einen guten Wurf nennen kann, und ich hatte mir vorgenommen, Euch heute damit zu erfreuen.“

Er nahm das Tuch von der Schüssel und nahm das darin liegende dickleibige Manuscript heraus. Es war sein vor wenigen Tagen vollendetes „Handbuch der dänischen und norwegischen Rechtswissenschaft“, das wichtigste und ausgezeichnetste, von einem tiefen philosophischen Geiste durchdrungene Werk der nordischen Rechtskunde, das auf die höhere Entwickelung des Rechtslebens in Dänemark den größten Einfluß gehabt hat. Dieses Buch war ein bedeutender Wurf.

Schwager und Bruder umarmten glückwünschend den glücklichen Werfer und stießen auf den zweiten gelungenen Wurf an.

„Da einmal vom Werfen die Rede ist,“ nahm Hans in seiner alten kindlich-anmuthigen, anspruchslos lächelnden Weise das Wort, „so kann ich heute auch mit etwas aufwarten, das vielleicht wie ein guter Wurf aussieht. Ihr wißt, daß ich diesen Winter ein Privatissimum für einige Provectiores lese. Gestern nun in der Vorlesung, als ich eben von der von mir schon seit Jahren geahneten nahen Verwandtschaft der elektrischen, galvanischen und magnetischen Strömungen sprach, drängte sich mir plötzlich die Ueberzeugung von dieser Verbindung auf. Die Entscheidung blitzte in meine Seele herein, wie die erfüllte Hoffnung eines Adepten, wie die Empfängniß der Idee eines Dichters. Ich unterbrach die Vorlesung und stellte zu meiner Ueberzeugung sogleich die praktische Prüfung an, die mir die Gewißheit gab, daß eine bestimmte Wechselwirkung zwischen elektrisirten Körpern und dem Magnet stattfindet. Schon heute habe ich die Ueberzeugung, daß die durch diese Wechselwirkung zur Erscheinung gekommene neue Kraft eine allgemeine Naturkraft ist, die sich in allen Körpern zu offenbaren vermag, und ich lade Euch ein, mir in mein Laboratorium zu folgen, damit Ihr Euch selbst von meiner Behauptung überzeugen könnt.“

Die beiden Andern erhoben glückwünschend die Gläser und wollten auf den dritten gelungenen Wurf anstoßen, aber Hans wehrte mit den Worten ab: „Erst abwarten, ob sich die Sache als ein Wurf bewährt!“

Der freundliche bescheidene Apotheker! Er hatte einen jener ungeheuern Geisteswürfe gethan, die, wie bald darauf ein deutscher Physiker sich ausdrückte, „kaum alle tausend Jahre in das Loos eines Sterblichen fallen“, einen Wurf, der ihn zu Guttenberg und Franklin stellt und ihn zu einem der größten Wohlthäter der Menschheit macht. Er hatte den Elektro-Magnetismus erfunden.

Es sind noch nicht volle vierzig Jahre seit jener Erfindung, der größten und wichtigsten für die Entwickelung des Geisteslebens seit der Erfindung der Buchdruckerkunst, verflossen, und schon läuft der verkörperte Gedanke mit Blitzesschnelle an den Drähten durch alle Länder und durch die Meere, die Menschen aller Himmelsstriche mehr und mehr zu einer großen Familie verbindend. Diese Kupferdrähte sind die Nerven des Riesenleibes der Menschheit geworden an welchen der Geist hinzuckt, sein Licht in die entferntesten Gegenden tragend. Erst seit dieser Erfindung darf man mit Zuversicht behaupten, daß auch die letzten Verschanzungen des Aberglaubens und selbstsüchtiger Anmaßung fallen müssen. Der elektromagnetische Apparat wird und muß die Welt erobern, wie es kein Weihwedel und keine Kanone vermocht hat. Mit seinen mächtigen Verbündeten, der Dampfmaschine und der Buchdruckerpresse, wird er der aus der Naturerforschung gewonnenen Wahrheit den Sieg auf dem ganzen Erdboden über allen Wahn, über alle Künste des Lugs und Trugs, über alle trotzige und patzige Dummheit verschaffen und die Menschheit zu jener Sonnenhöhe des Geistes erheben, die ihr allein ein wahres würdiges Glück gewähren kann.

Wenn die dichterische Vorstellung Adam Oehlenschlägers in jener feierlichen Stunde von einem jungen Genius des neunzehnten Jahrhunderts eine reale Wahrheit gewesen wäre, so hätte dieser Genius dem Jüngling Adam einen Lorbeerkranz gewunden; denn er wird in Dänemark und Deutschland noch lange als Dichter gefeiert werden, – aber ein urschöpferischer Dichtergeist war er nicht, und sein Wurf, wenn auch ein schöner, so doch kein großer. Der Genius hätte dem Jüngling Anders einen Eichenkranz aus den Wäldern des Nordens gewunden; denn er wird in der Geschichte der Rechtsphilosophie und der vernünftigen Gesetzgebung lange als einer der tiefsten und schärfsten Denker glänzen, wie er denn auch zum Premierminister des Königreichs Dänemark emporstieg, aber auch er ist keiner der urschöpferischen Geister, die da neue Bahnen brechen; sein Wurf war ein guter und segensreicher, aber ein großer war er nicht. Dem bescheidenen Apotheker Hans, dem kindlichen Dichter der kleinen, die Naturkräfte behandelnden Gedichte, würde der Genius des neunzehnten Jahrhunderts einen Sternenkranz gewunden haben; denn sein Wurf ist einer der größten in der Weltgeschichte, und alle Zeiten und alle Völker werden seinen Namen mit staunender Dankbarkeit aussprechen.

Anmerkungen (Wikisource)